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Full text of "Stunden der Andacht, zur Beförderung, wahren Christentums und häuslicher Gottesvehrung"

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Stunden der Andacht 


zur Beförderung 


wahren Chriſtenthums 
und 


häuslicher Gottes verehrung. 


Dritter Band. 

s, AN, 

an 0 — I 
—— * 


... 


Sechsundzwanzigſte vollftändige Original» Auflage 


In acht Bänden. 


Aarau 1846. 
Im Verlag bei Heinrich Remigius Sauerländer. 


Frankfurt am Main, 
Johann David Sauerländer. 


IBRARN 
4 JAN 2 8 1969 
7 

— 


1. 


Im Anfang des neuen Jahres. 
Pſalm 46, 11. 


Du haſt auch im verfloſſ'nen Jahr 
Mich väterlich geleitet; 
Und wenn mein Herz voll Sorgen war, 
Mir Hilf' und Troſt bereitet. 
Von ganzer Seele preiſ' ich Dich, 
Und übergeb' aufs Neue mich, 
Gott, Deiner weiſen Führung. 


Laß, Gott, dies Jahr geſegnet ſein, 
Du haſt es mir gegeben. 
Verleih' mir Kraft — die Kraft iſt Dein! — 
In Dir beglückt zu leben. 
Sei in der Lebensnacht mein Licht, 4 
Im Sturme meine Zuverſicht, 
Sei Du der Hort der Meinen! 


Gib mir, wofern es Dir gefällt, 
Des Lebens ſtille Freuden; 
Doch ſchadet mir das Glück der Welt, 
So ſende, Herr, auch Leiden. 
Nur ſtärke Du mit Muth mein Herz, 
Dann wird mir auch der größte Schmerz 
Die höchſte Luſt nicht rauben. 


Wie bange pochen Millionen Herzen! Furcht und Hoffnung 
bewegen ſie. Wenige mögen in die Vergangenheit zurückblicken, 
die Meiſten ſtarren in die Zukunft hinaus, forſchend, horchend, 
ſorgenvoll, betrübt. Was bringt uns das neubeginnende Jahr? 
oder vielmehr, was wird es uns noch nehmen? Was wird aus 
uns nach abermals zwölf Monden geworden ſein? was aus unſern 
Familien? Haben wir die ſchwerſten Schickſale des Lebens ſchon 
überſtanden, oder ſtehen ſie uns noch bevor? — Wie mancher 
würde ſich nicht eben jetzt das Vermögen wünſchen, einen hellen 
Blick in die Verborgenheit der nahen unbekannten Zeiten zu thun! 


Wien ſollen wir fragen? — Sturm iſt die Zukunft. Gott ver⸗ 


hüllt ihr Antlitz. 


— 4 — 


Der Leidende, ſchon muthlos durch frühere Unfälle, zittert 
vor noch größern. — Der Glückliche, welcher die Erfüllung 
mancher Hoffnung ſchon nahe vor ſich liegen ſieht, erſchrickt bei 
dem Gedanken, daß ein unerwarteter Zufall ihm alle Luftſchlöſſer, 
die er ſich gemacht, gänzlich zerſtören könne. 

Ach, wie verzeihlich ſind des Menſchen Beſorgniſſe! — Sollen 
wir aber deswegen in Angſt und Verzagtheit untergehen vor der 
Zeit? — Nein. Wir ſollen nur als weiſe Menſchen uns mit 
Muth gegen Alles waffnen, was da geſchehen konne. 
Wahrer Muth iſt aber nicht jener Leichtſinn, der, ohne der Ge⸗ 
fahr ins finſtere Auge zu ſehen, ihr entgegen ſcherzt und ſich von 
ihr unvorbereitet überraſchen läßt; wahrer Muth iſt auch nicht 
jene an Allem verzagende Verzweiflung, die ſich blindlings, ohne 
Hoffnung und ohne Vorſicht, in die Noth hineinſtürzt: ſondern 
der Muth des Weiſen beſteht in der Furchtloſigkeit, welche aus 
der Ueberzeugung entſteht, daß auch das Schrecklichſte nicht un⸗ 
überwindlich ſei; in Unerſchrockenheit, weil man die Mittel und 
Wege kennt, mit denen die Gefahren, wenn ſie herannahen, zu 
beſeitigen ſind, daß ſie uns nicht ganz verſchlingen. | 

Gewöhnliche Menſchen, die, ohne Herrſchaft über fich ſelber, 
im Sturm der Zeiten daſtehen und nur ſo handeln, wie es ihnen 
eben im Augenblick beifallen will, folglich ohne höhern Plan, 
ohne, jene erhabene Beſonnenheit des ächten Weiſen, pflegen ſich 
auf zwei ganz entgegengeſetzte Arten den fehlenden Muth zu er⸗ 
fünfteln. Denn des Muthes in ſo ſchickſalvollen Zeitläuften haben 
ſie vonnöthen; das fühlen ſie täglich. 

Die Einen, weil ihr Temperament dazu geneigt macht, wollen 
ſich wegen deſſen, was da kommen ſoll, nicht harmen; täuſchen 
ſich ſelbſt mit Schönen Erwartungen; glauben an das Erſcheinen 
der unwahrſcheinlichſten Zufälle, die aller Noth ein Ende machen 
ſollen; mögen nicht ſehen, nicht glauben, was vor ihren Augen 
liegt; legen Alles anders und vortheilhafter aus, als es iſt; leben 
nach wie vor einen guten Tag, und berauſchen gleichſam mit 
Träumereien, die nie erfüllt werden können, ihren geſunden 
Meuſchenverſtand. Sie gleichen Seefahrern, deren Schiff im 
wilden Sturm über Untiefen ſchwankt, welche Vernichtung 


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drohen, und die, um ſolche Gefahr nicht zu ſehen, ſich mit geiſti⸗ 
gen Getränken betäuben. Unvorbereitet auf die Schläge des 
Schickſals, werden ſie nachher nur deſto härter von demſelben 
überfallen. Ihre Heiterkeit verwandelt ſich dann um ſo ſchneller 
in dumpfes Verzweifeln. Ihr werdet ſie am Tage des Unglücks 
um fo gebeugter erblicken, je trotziger vorher ihr lachender Leicht- 
ſinn ſtand. 

Die Andern, vielleicht von Natur verzagt, halten es fur 
klüger, immer von den Verhängniſſen der Zukunft das Schlimmſte 
zu erwarten. In den unbedeutendſten Zufällen erkennen fie ſchon 
Vorboten irgend eines Uebels. Sie quälen ſich immerdar mit 
bangen Vermuthungen; hören gleichgültige Nachrichten mit Arg— 
wohn, frohe Botſchaften mit Unglauben, böfe Gerüchte mit Leicht- 
gläubigkeit. Perſonen von dieſer Denkart leiden ſchon alle Noth, 
ehe ſie da iſt, find ſchon von der Gefahr überwunden und ent⸗ 
kräftet, ehe der wirkliche Kampf mit ihr beginnt. Sie gleichen 
Kriegern, die aus Furcht vor der Moglichkeit eines nahen Streites 
ſich weder mit Nahrung noch Schlummer ſtärken können; und 
ſchon erkrankt und beſiegt da liegen, ehe der Feind heranzieht. 

Dies iſt nicht der Muth des Weiſen, mit welchem er ſich zum 
Empfang bevorſtehender Schickſale rüſten ſoll. 

Wo aber ſoll ich den edeln Muth finden, der mich in den 
bedenklichſten Umſtänden aufrecht halten kann? 

Du findeſt ihn nicht in deinem Fleiſch und Blut, in deinem 
Irdiſchen, in deinen angenehmen Erwartungen, oder in der Ge- 
wöhnung, das Schlimmſte zu befürchten. Der wahre Muth muß 
eine Sache deiner ſelbſt, das heißt, deines Geiſtes ſein. Du 
mußt dich überzeugen können, daß derjenige noch nichts verloren 
hat, der ſich ſelbſt nicht verliert. Du mußt dich überzeugen, daß 
dein Geiſt Alles, und alles Irdiſche, was dir gegeben iſt, dein 
Amt, dein Einkommen, dein Vermögen, dein Anſehen vor den 
Menſchen, deine Bequemlichkeiten Nichts ſind. Du mußt dich 
überzeugen, daß die Ruhe deines Geiſtes eigentlich das iſt, 
was du Glück nennſt, was du mit ſo vieler Mühe ſuchſt und 
weder im Gelde, noch in den Ehrenſtellen, noch in äußerlichen 
Vorzügen findeſt. Kannſt du nicht glücklich ſein, du ſteheſt hoch 


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oder niedrig, arm oder reich, geprieſen oder verkannt, jo bift du 
noch nie glücklich geweſen, ſo wirſt du es niemals werden; ſo 
biſt du würdig, unglücklich zu ſein, auf daß du endlich lerneſt, 
dich zu dir ſelbſt zu erheben. 

Haſt du aber das Ziel erreicht, haſt du dich ſelbſt gefunden; 
fühlſt du, daß deine Seele ſchon auf Erden in der Geiſterwelt iſt, 
nicht in der vom Spiel des Staubes abhängigen Thierwelt; 
kannſt du in gänzlicher Verarmung voll heitern Bewußtſeins, 
auch unter Verachtung vom großen Haufen voll edeln Selbſt⸗ 
gefühls bleiben: dann hörſt du, o Geiſt, dann verſtehſt du andere 
Stimmen, als diejenigen ſind, welche aus dem Staube hervor⸗ 
klingen; dann, o Geiſt in deiner göttlichen Natur, Hörft du nicht 
mit Entſetzen vom Untergang der Völker, vom Untergang deiner 
Erdengüter, von der Gefahr deines Leibes und Lebens, ſondern 
über dem blutigen, grauenvollen Weltgewühl die Stimme Gottes, 
wie ſie aus der heiligen Schrift redet: Seid ſtille, 2 er⸗ 
kennet, daß ich Gott bin! (Pf. 46, 11.) 

Seid ſtille! Denn es iſt nicht die Kunſt der Menſchen, 
nicht ihre Kraft, nicht ihre Klugheit, die das hervorgebracht hat, 
was geſchehen iſt, und was noch im bevorſtehenden Jahre mit 
euch geſchehen ſoll: es iſt ein Anderer, es iſt der Höchſte, nach 
deſſen Werken die Sternenwelten des Himmels ihre Bahnen, und 
die kleinſten Gewürmer des Staubes ihre Wege ſuchen müſſen. 
Er iſt's, und es iſt kein anderer Gott, als Gott. 

Er waltet, er immerdar unerforſchlich groß, weiſe, Alles un 
faſſend! Kein Anderer waltet neben ihm in der Unendlichkeit. Du 
mögeſt nun furchtſam zittern, oder gelaſſen ſeine Verhängniſſe 
erwarten und empfangen; du moͤgeſt wegen fehlgeſchlagener 
Wünſche trauern, oder getröſtet bleiben; du mögeft um das, was 
vergangen iſt, und das, was noch erſcheinen will, verzweifeln 
oder frohen Sinnes fein: es iſt vergebens. Deine Thränen und 
Sorgen, dein Jauchzen und Frohlocken ändern nichts in der 
ewigen Weltregierung. Es geſchieht fein Wille, ob ihn der Sterb— 
liche erkenne oder nicht, preiſe oder beklage. Ein goldener Thron, 
oder ein Häuflein, von Ameiſeu zuſammengeſchleppt, was gelten 
fie im Blick des Allerhöchſten mehr, denn Staub, aus welchem 


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ſie durch Menſchen und Ameiſen gemacht wurden? Da nun, 
Sterblicher, deine Furcht nichts rettet, deine Angſt nichts ändern 
kann: warum zitterſt du vor dem, was den Völkern, was dem 
Vaterlande, was deinem eigenen Hauſe, was ſelbſt deinem Leibe 
in dem neubegonnenen Jahre widerfahren koͤnnte? O Geiſt von 
uͤberirdiſcher Natur, erhebe dich zu dem hohen Ueberixdiſchen, der 
ewiglich und ernſt waltet, und du wirſt mit frommer Ergebung 
in feine Verhängniſſe eintreten. Vollziehe in der Welt als Haus⸗ 
vater, als Hausmutter, als Untergebener, als Vorgeſetzter, als 
Bürger, als Menſch und Chriſt deine Pflichten, und für das 
Uebrige zittere nicht. Vollziehe deine Pflichten, denn dieſe ſind 
dir, nicht die Weltregierung, übertragen. 

Seid ſtille und erkennet, daß ich Gott bin! — Der 
Allmaͤchtige waltet! Haſt du, der heute mit Verzagtheit in die 
kommenden Tage des jungen Jahres blickt, Gott nicht aus den 
vergangenen Tagen und ihren Schickſalen erkannt? — Er war's, 
der im Ewigen waltet, der Allem ſein Maß und Ziel ſetzt, und 
jeder Kraft ihre Grenze. Er war's, der da iſt der Gott der Heer⸗ 
ſchaaren und der Freudentage, vor dem nichts klein und nichts 
groß iſt. Das Außerordentliche wirkt er mit Dingen, welche den 
Sterblichen ſehr geringfügig ſcheinen, und das Unerhörteſte vers 
richtet er durch den alltaͤglichſten Vorfall. Darum iſt er Gott, 
und kein Allmächtiger iſt außer ihm! 

Und Tauſende und Millionen gehen dahin, und ſind Zeugen 
der beiſpielloſen Begebenheiten, und hören das Unerhörte, ohne 
dadurch zu einer höhern Denkart geſtimmt zu werden. Ihr Ge⸗ 
danke rührt kaum an Gott. Sie ſprechen: Gut, daß es ſo kam, 
laſſet uns froher Dinge fein! — So geht das Thier und ver— 
zehrt den Samen, der auf der Erde liegt, ohne hinaufzublicken 
zu den Zweigen, welchen die wohlthätige Nahrung entſank. Es 
iſt keiner Gedankenerhebung faͤhig. Es lebt, um ſich zu ſaͤttigen, 
und fättigt ſich, um für den Tod reif zu werden. Iſt es anders 
mit dem Menſchen, der, ohne über ſich emporzuſchauen, nichts 
ſieht, als das gegenwärtige Ereigniß des Augenblicks? 

Und Tauſende und Millionen ſahen moglich werden, was 
aller Klugheit unmöglich ſchien, und gehen bang und ſchüchtern 


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dahin, ins neue Jahr ein, und zittern vor dem, was noch kommen 
ſoll! — Noch immer nicht haben ſie den Herrn erkannt. Welche 
Wunder und Zeichen ſollen geſchehen, daß ihr glaubet? daß ihr 
euch ſeiner Führung mit ſchweigendem Vertrauen überlaſſet? 
Warum fürchtet ihr die Zukunft, da der Herr der Vergangenheit 
noch lebt und waltet? 

Seid ſtille und erkennet, daß ich Gott bin! — Gott 
waltet, der allein zu walten die Weisheit hat. Was geſchehen iſt, 
war die Wohlthat für kommende Zeiten und Geſchlechter; was 
geſchehen wird, iſt der Segen für uns Alle. In ſeiner Hand 
wird der Augenblick einer That zum Samenkorn, welches durch 
Jahrhunderte keimet, reifet, und nach Jahrhunderten noch Frucht 
trägt. Was dir im gegenwärtigen Jahre zu Theil werden ſoll, 
hat ſeine Weisheit ſchon in undenkbaren Zeitaltern geſäet. Erſt 
jetzt ſollſt du es genießen. Kleinmüthiger, kannſt du glauben, 
daß der, welcher den Grund deiner Schickſale ſchon damals gelegt 
hat, als du noch nicht wareſt, deiner in den Tagen vergeſſen 
könnte, da du dieſe Schickſale empfangen ſollſt? Erkenne endlich 
feine Weisheit, das wird deine höchſte Lebensweisheit fein! — 
Murre nicht, wenn dich Verluſte treffen; klage nicht die Vor⸗ 
ſehung an, wenn dir die Schickſale der Welt und deines Lebens 
unverſtändlich ſind. Thue deine Pflichten, wie Chriſtus ſie dich 
lehrte, und für das Uebrige laß den ſorgen, der allein zu walten 
die Weisheit hat. Murre gegen deines Herzens Schwächen, klage 
über die Fehler, welche deine Seelenruhe ſtören. Was du durch 
eigene Ungerechtigkeit verſchuldet Haft, mußt du dir ſelber zu⸗ 
rechnen. Was dir geſchieht ohne dein Zuthun, was du weder 
herbeiführen, noch abändern kannſt: das iſt das Werk des All⸗ 
weiſen, dies dein und der Deinigen Glück. Darüber ſei harmlos, 
wenn es auch noch ſo ſchrecklich ſcheinen ſollte. Denn der die 
Nacht ſendet, ſchuf auch die leuchtenden Sterne! — Es blickt der 
Thiermenſch, wie das Thier, überall nur vor ſich in den Staub 
nieder, hält mit verdüſtertem Verſtande Alles nur für eine Vers 
kettung ſinnloſer Zufälle, baut auf feine Klugheit und eigene 
Kraft viel; das Uebrige nennt er Glücksſpiel. Der Menſch Gottes 
blickt aufwaͤrts; die Ueberwindung ſeiner ſelbſt, das heißt, ſeine 


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Tugend ift das geiftige Band, welches ihn an Gott knüpft, und 
eben dadurch wird ſeine eigene Klugheit wirkſamer, heller, ſeltener 
fehlſchlagend, weil fie nie ohne Rechtlichkeit iſt; darum wird feine 
eigene Kraft gewaltiger, weil ſie ſich auf ein hoͤheres Vertrauen 
ſtützt. Darum wird mit Recht nur derjenige weiſe genannt, der 
tugendhaft handelt; und darum iſt der Tugendhafte der Furcht⸗ 
loſeſte. Wer mit Gott ſtehet, wer will wider ahn ſtehen? 
Seid ſtille und erkennet, daß ich Gott bin! — Er 
waltet, deſſen zärtliche Vaterliebe allein zu walten das Recht hat. 
Warum biſt du bekümmert um das, was dir die Stunden des 
neuen Jahres entgegenführen werden? Haſt du noch immer nicht 
die ewige Liebe erkannt in deinen längſtvergangenen Tagen? Wie 
oft haſt du nicht ſchon, wie heute, ebenfalls das allerſchönſte 
Loos erwartet, oder das böſeſte befürchtet? Und was geſchah dir? 
Das ſchönſte, wenn es erfüllt ward, war weder ſo ſchön, noch 
das furchtbarſte ſo böſe, als du es dir vorgeſtellt, ehe es da war. 
Kein einziges deiner Lebensjahre war eigentlich durch und durch 
ſchrecklich; immer brachte es dir von Zeit zu Zeit auch eine Hand 
voll unerwarteter kleiner Freuden, die dich erquicken mußten. Keines 
deiner Lebensjahre war durch und durch voller Wonne; immer 
mengte ſich in die Süßigkeit auch ein bitterer Tropfen. — Wohlan, 
erkenne im Spiegel deiner Vergangenheit das ganze Bild deiner 


Zukunft! Die Dinge um dich her mögen andere Geſtalten und 


Namen annehmen: im Weſentlichen bleiben die Sachen ſich gleich. 
Immerdar wird ſich zu großem Schmerz bald eine große Luſt, 
zum Schatten ſich wieder ein erhebendes Licht geſellen. In dieſem 
wohlthuenden Wechſel erkenne die ewig waltende Liebe deines 
Vaters bis zur letzten deiner Stunden. 

Haſt du die Liebe Gottes in deinen vorigen Jahren erkannt, 
ſo gehe dann hin, und glaube jedes Jahr und jeden Tag feſter 
an fie, und dein Glaube wird dir helfen! Und mit den drohen— 
den Gefahren wird dein Muth ſteigen; denn du kennſt den, deſſen 
Güte für dich wacht. Und rufen wirft du mit jedem Gläubigen, 
rufen mit David: Gott iſt unſere Zuverſicht und Stärke, eine 
Hilfe in den großen Nöthen, die uns getroffen haben. Darum 
fürchten wir uns nicht, wenn gleich die Welt unterginge und die 


Berge ins Meer ſänken; wenn gleich das Meer wüthete und wal⸗ 
lete und von ſeinem Ungeſtüm die Berge einſänken. Der Herr 
Zebaoth iſt mit uns, der Gott Jakobs iſt unſer Schutz. Sela. 
Kommet her und ſchauet die Werke des Herrn, der auf Erden 
ſolches Zerſtören verrichtet; der den Kriegen ſteuert und aller 
Welt; der Bogen zerbricht, Spieße zerſchlägt und Wagen mit 
Feuer verbrennt. Seid ſtille und erkennet, daß ich Gott bin! 
(Pf. 46, 1 — 11.) 

Du, Herr, Du Alleingewaltiger auf Erden, wie im Himmel, 
Du biſt Gott, biſt mein Gott! Ich habe Dich erkannt in den 
Begebenheiten meiner bisherigen Jahre. Ich habe Dich erkannt 
in Deiner unendlichen Macht, oft mit Entzücken, oft mit Beben. 
Darum biſt Du meine Zuverſicht, meine Hoffnung. Mein Muth 
wanket nicht, denn ich halte mich an Dich, mögen die Wetter des 
Schickſals noch ſo gewaltig um mich her toben. 

Unverzagt trete ich in die Tage des neuen Jahres ein. Viel⸗ 
leicht bringt einer dieſer Tage mir Elend, Flucht und Armuth — 
ich werde das Schwerſte mit Gleichmuth tragen, und denken, daß 
Du, Allweiſer, mich, Dein Kind, prüfen wolleſt, ob ich mehr 
hange an Dir oder an den Bequemlichkeiten des ſinnlichen Lebens. 
Vielleicht raubt mir einer dieſer Tage nicht nur Hab und Gut, 
ſondern ſelbſt das Leben der Theuerſten meiner Lieben auf Er⸗ 
den — — ich ſchaudere bei dieſem Gedanken, — Vater, o Vater 
der Liebe, mein Herz will bluten — aber ich werde ſprechen wie 
Hiob: Du haſt ſie mir gegeben, Du haſt ſie mir genommen! Ich 
werde denken, Du wolleſt durch ſie meine Seele nur feſter an 
die Ewigkeit knüpfen. Vielleicht führt mir einer dieſer Tage 
meinen eigenen Todesengel zu — Vater, Dein Wille geſchehe! 
Mein brechendes Auge wird ſehnſuchtsvoll emporſchauen zu Dir, 
und meine Seele wird Dich anrufen: Allbarmherziger, laß mich 
eingehen in Dein Reich. 

Und haſt Du es anders über mich verhängt — ſoll dies Jahr 
beglückt und ſegensvoll für mich und die Meinigen werden — 
mit tiefer Dankbarkeit werde ich, mein Gott, die Gaben Deiner 
Liebe nehmen, mit Weisheit benutzen für mich und Anderer. 


er 


Wohl; kein Glück ſoll mich übermüthig machen. Denn ich kenne 
den Wechſel der Dinge. Alles währet nur eine kurze Zeit. 

Aber daß ich Dich immer heller erkenne, auf daß mein Geiſt 
immer freudiger und muthiger ſei für das Leben und für das 
Sterben — dazu, o dazu verleihe mir die Kraft Deines heiligen 
Geiſtes, ohne welche ich nichts vermag. Daß ich Deinen durch 
Jeſum Chriſtum mir geoffenbarten Willen immer genauer er— 
kenne, immer fleißiger übe, daß ich mit Recht Dein Kind heißen 
dürfe — dies ſei nun mein Streben das ganze Jahr hindurch, 
und heute geſchehe der Anfang meiner Beſſerung vom größten 
wie vom kleinſten Fehler. Amen. Verleihe mir Deine Gnade! 
Amen. 


2. 
Der göttliche Name. 


2. Moſ. 20, 7. 


Bewahre meinen Mund, 

So oft er, Gott, Dich nennet, 
Dich, den mein ew'ger Geiſt 
Anbetet und erkennet; a 
Daß nie, Erhab'ner, ich 
Durch Leichtſinn ihn entweih', 
Mir nie ein Spiel und Spott 
Dein großer Name ſei. 


Stets heilig bleib' er mir; 
Und muß mein Ohr es hören, 
Daß Andre ihren Gott, 
Und was er thut, entehren: 
So reiße nie der Strom 
Der Spötter mich dahin. 
Die Schuld wird mein, wenn ich 
Ihr Mitgenoſſe bin! 


Kommet, laſſet uns anbeten und knieen und niederfallen vor 
dem Herrn, der uns gemacht hat, denn er iſt unſer Gott. (Pf. 
95, 6.) 

Wer iſt größer, herrlicher, wunderbarer und gnädiger, als 
der Ewige, vor dem die Mächte der Erde verſchwinden, wie ein 


— 12 — 


Nichts, und die Pracht der Sterblichen Staub iſt? Kann der 
Gewaltigſte hienieden einen Grashalm bauen, oder einen Regen⸗ 
tropfen vom Gewölk des Himmels ziehen? Kann der Furcht⸗ 
barſte auf Erden ſeinem Leben einen Augenblick zulegen, wenn 
das Maß ſeiner Schulden voll iſt? 

Warum rühmen ſich die Thoren ihrer Größe, von denen man 
nach wenigen Jahren nichts mehr weiß? — Warum dünfen ſie 
ſich allgewaltig, weil ſie Ihresgleichen, Menſchen aus Staub ge⸗ 
ſchaffen, unterdrücken können? Fielen nicht die Gewaltigſten unter 
den Streichen ihrer Feinde, oder mit dem ärmſten Bewohner der 
Erde ins gleiche Grab? — Nur Einer iſt groß und allgewaltig 
und mächtig, und ſein Name iſt Gott! 

Warum erſtaunet ihr über die Kunſt des menſchlichen Gei⸗ 
ſtes? Was ſind ſeine Werke, auch die köſtlichſten? Er hängt 
Staub mit Staub zuſammen, um ſich Hütten zu bauen, Gewaͤn⸗ 
der zu weben, oder von den Werken der Natur, dem äußern 
Scheine nach, Ebenbilder zu machen. Bauet nicht auch der thie⸗ 
riſche Geiſt ſinnreich ſeine Wohnungen, wie der Menſch, und oft 
zweckmäßiger, als er? Biene und Ameiſe müſſen wir auch be= 
wundern, und wie die Vögel des Himmels ihre Neſter wählen 
und aufrichten, oder ihre Reiſen machen von Welttheil zu Welttheil. 
Nein, nur Einer iſt unendlich weiſe, unbegreiflich wunderbar 
in ſeinen Werken; er fügt nicht Staub zu Staube, wie das Thier 
oder der künſtliche Menſch, ſondern er durchdringt den Staub 
mit verborgenen Kräften und Seelen, daß Alles lebt: und dieſer 
Wunderbare iſt Gott! 

Was preiſet ihr, das nicht ſein Werk wäre? Was liebet ihr, 
das Er nicht gebildet? Was entzückt euch hienieden, welches 
nicht eine Wundergabe ſeiner Huld wäre? Was fürchtet ihr, 
das nicht feinem Scepter unterthänig wäre? Was hoffet ihr, 
daß nicht Er allein verleihen könnte? 

Je länger wir Gott in feinen unermeßlichen Schöpfungen 
betrachten, oder im Wechſel des Lichts und in der Finſterniß 
unſerer Schickſale: je tiefere Ehrfurcht empfindet unſer ganzes 
Weſen vor dem Großen, dem Unnennbar-Erhabenen, dem Hei— 
ligen. Wir rufen betend und anbetend wie Paulus: „O, meld’ 


a 


eine Tiefe des Reichthums, beides, der Weisheit und Erkenntniß 
Gottes! Wie gar unbegreiflich find feine Gerichte und uner⸗ 
forſchlich ſeine Wege! Denn wer hat des Herrn Sinn erkannt? 
Oder wer iſt ſein Rathgeber geweſen? Oder wer hat ihm etwas 
zuvor gegeben, das ihm werde wieder vergolten? Denn von 
ihm, und durch ihn, und in ihm ſind alle Dinge! Ihm ſei 
Ehre in Ewigkeit!“ (Röm. 11, 33 — 36.) 

Dem wahrhaft erleuchteten Weiſen, das heißt, dem von der 
Größe Gottes tief durchdrungenen Chriſten, iſt daher kein heili⸗ 
gerer Name, als der Name der Gottheit. Und wenn ſein Herz 
das gedankenreiche, erhabene Gebet Jeſu nachbetet, ſpricht er keine 
Stelle mit größerer Ehrfurcht aus, als jene Worte: „Dein 
Name werde geheiligt!“ Ihn durchſchauert der Gedanke an 
das Höchſte im ganzen Weltreich. 

Alle Völker, fo verſchieden auch ihre Religionen fein mögen, 
empfinden dieſe Ehrfurcht vor dem erhabenen Weſen. Manche 
wagen ſeinen heiligen Namen kaum auszuſprechen. Andere 
ſprechen ihn nicht aus, ohne durch Entblößung ihres Hauptes 
oder das Beugen des Knies, oder durch einen Blick, der ſich 
demuthsvoll zur Erde ſenkt, oder ſich andachtsvoll zum Himmel, 
wie zum Throne des Weltregenten, emporhebt, ſchon äußerlich 
zu bezeugen, was ihr Inneres bei dem Gedanken an die Majeſtaͤt 
des Allerhöchiten empfindet. 

Wie aber iſt es in den Gemeinden der Chriſten, welche durch 
die Offenbarungen Jeſu erleuchtet worden find? Sind die Chri⸗ 
"sten nicht noch von größerer Hochachtung Gottes durchdrungen? 
Sind ſie nicht für alle Völker des Erdbodens ein Muſter der an⸗ 
betenden Ehrfurcht bei der Erinnerung an ihren Schöpfer? Iſt 
ihr ganzes Weſen nicht voller Ernſt, Würde und Liebe und Ver⸗ 
ehrung, wenn ſie den heiligen Namen nennen? 

Ach nein, ſie nennen ihn, ohne an ihn zu denken, und ſprechen 
ihn aus, wie ſie das Nichtswürdigſte ſprechen. Kinder rufen ihn 
aus auf den Gaſſen, wie zum Spiel; und Erwachſene ſchwören 
und fluchen bei ihm, als müſſe er ein Gehilfe ihrer Frechheit ſein. 
Ja, die gleichen Menſchen, welche vor dem Namen ohnmächtiger 
Weſen, Fürſten geheißen, erzittern, treiben ihren Spott mit dem 


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Namen des Beherrſchers vom Weltall! Die gleichen Menſchen, 
welche aus Demuth vor ihren obrigkeitlichen Perſonen kriechen, 
wenn ſie mit ihnen reden, plaudern ihre Anreden und Gebete zu 
Gott lachend, mit unanſtändiger Zerſtreuung, ohne ein Zeichen 
von Ehrerbietung her, als wäre im Himmel und auf Erden kein 
Gott, und das Gebet zu ihm nur ein ſinnloſes Poſſenſpiel! 

Woher dieſe Verachtung und Geringſchätzung des Heiligſten, 
was die Welt hat? Woher dieſe Entweihung und Läſterung des 
großen Namens, vor dem alle Welten ehrfurchtsvoll beben — 
und, was das Unglücklichſte iſt, unter denen, die ſich Nachfolger, 
Bekenner, Jünger, Geweihte des göttlichen Sohnes, des Himmels⸗ 
offenbarers, des allgemeinen Heilandes Jeſu Chriſti nennen? 

Groß muß die Unwiſſenheit derer ſein, die ſich ſo ganz 
vergeſſen, daß ihnen unter allen Gegenftänden und Namen der 
göttliche einer der gleichgültigſten iſt! Ach, wie fehr muß es den 
Menſchenfreund ſchmerzen, wenn er unter den Chriſten Menſchen 
findet, die in ihren Vorſtellungen von der Größe und Majeſtät 
Gottes noch niedriger ſtehen, als die blinden Heiden! 

Wohl ſind noch viele Chriſten, ungeachtet ihres Namens, 
ihrer Taufe, ihres Abendmahls, roher und unwiſſender, als die 
Heiden, und um nichts beſſer, als dieſe. Sie haben einen Gott, 
aber keine Scheu vor ihm. 

Dies iſt eine Folge der großen Gemüthsverwilderung, in 
welcher man das Volk läßt, indem man lieber auf kriegeriſchen 
Glanz, auf Schaufpiele, Feſte und ſchimmernde Thorheiten Sum⸗ 
men über Summen verwendet, als die Schulen des gemeinen 
Volks in Städten und Dörfern veredelt. Dies iſt eine Folge der 
Nachlaͤſſigkeit, mit welcher ſelbſt chriſtliche Diener des Altars ihr 
wichtiges Amt verwalten, denen genug gethan iſt, wenn nur der 
große Haufe ihren Perſonen Ehre bezeugt; wenn nur der große 
Haufe die von der Kirche vorgeſchriebenen Pflichten erfüllt, die 
Tempel beſucht, lange Gebete ſinnlos herſchwatzt, und die Sa— 
kramente beobachtet. Es iſt die Folge der unverantwortlichen 
Nachläſſigkeit der Seelſorger, die oft unvorbereitet die heiligen 
Lehrſtätten betreten, immer und immer zum Glauben an Gott 
ermahnen, ohne von der Majeſtät Gottes würdige Vorſtellungen 


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erwecken zu können; immer und immer an das Verdienſt Jeſu, 
oder an die Fürſprache der Heiligen erinnern, ohne die Pflichten 
deutlich zu entwickeln, wie man ſich durch gottgefälligen Wandel 
und durch ein Leben in Jeſu Geiſt und That der ewigen Gnade 
nicht unwürdig machen müſſe. 

Die Un wiſſenheit des Volkes in göttlichen Dingen und 
Pflichten erzeugt jene verachtungswürdige Rohheit, von der wir 
alltäglich Zeuge ſein können; — jene Rohheit, die vor der Ruthe 
bebt, welche ſie ſieht, aber des Unſichtbaren ſpottet; mehr auf den 
Augenblick ſieht, der da iſt, als an die Ewigkeit denkt, die noch 
kommen ſoll; mehr aus Furcht vor der Hölle, als aus Liebe zum 
Himmel Verbrechen unterläßt. 

Aehnlich dieſer Verwilderung des Gemüths, die aus Un⸗ 
wiſſenheit entſteht, iſt jene Rohheit unſittlicher Menſchen aus 
höhern Ständen, welche in aller Kunſt und Wiſſenſchaft des 
Lebens Unterricht empfingen, aber nicht in dem, was eigentlich 
das Göttliche in ihnen angeht, und die Veredelung ihres Geiſtes 
für das ewige Sein. Sie dünken ſich weiſer und größer, die 
ſchwachen Thoren, als andere Menſchen, wenn fie deren Religion 
verhöhnen. Sie meiden das Böſe nur um der Schande willen; 
fie thun das Gute nur des Vortheils wegen; fie halten die Re⸗ 
ligion nur für ein abergläubiges Mährchen, den Pöbel damit zu 
ſchrecken; fie halten die Tugend nur für etwas Anftändiges, das 
vor den Augen der Welt beobachtet werden muß, aber in der 
Stille ohne Schaden beſeitigt werden kann. Sie ſind gebildete, 
künſtlich erzogene Halbthiere, die unter ſich nur eine Erde, über 
ſich keinen Himmel erblicken. 

3 Nicht immer iſt es Rohheit, Unwiſſenheit und alberner Aber- 
glauben, der zur Entweihung des Göttlichen verleitet. Noch weit 
ölter iſt es bloß der tadelnswürdigſte Leichtſinn, welcher der Gott⸗ 
heit die ſchuldige Ehrerbietung verweigert; — Nachahmungs- 
ſucht, welche im Schwören und Fluchen und im Mißbrauch der 
heiligſten Namen etwas Großes zu thun vermeint; — Selbſt⸗ 
dünkel, welcher ſich auszuzeichnen gedenkt, wenn er im Tempel 
oder beim häuslichen Gebete die größte Unachtſamkeit zur Schau 
trägt; — Gewohnheits verdorbenheit, welche bei dem, was 


a 


fie täglich thut, nur die Lippen walten läßt, und mit den Ge⸗ 
danken umherflattert. 

Alles dieſes wirkt zur Verminderung der Ehrfurcht vor Gott, 
der Ehrfurcht vor Jeſu Chriſto, und zum täglichen Mißbrauch 
heiliger Namen, die nie ohne ein heiliges Gefühl der Andacht 
und Dankbarkeit geſprochen werden ſollten. 

Oft iſt das beſtändige Ausrufen des Namens Gottes oder 
Jeſu auch bei den unbedeutendſten Anläſſen nur Beweis von 
einer gewiſſen Armuth an Gedanken, wo etwas geſprochen wer⸗ 
den ſoll, ohne daß man gleich etwas Schicklicheres weiß. Dies 
wird vielen Menſchen, ohne daß ſie dabei etwas Arges wollen, 
ohne daß ſie damit Unrecht zu thun glauben, ſo zur Uebung, daß 
ſie ſich von dieſer ſchändlichen und für die Religioſiät ſo nach⸗ 
theiligen Gewohnheit nicht wieder befreien können, ohne die an⸗ 
geſtrengteſte Aufmerkſamkeit auf ihre Reden zu haben. 

Eben ſo iſt der Mißbrauch des göttlichen Namens beim Fluchen 
und Schwören oft mehr eine gedankenloſe Gewohnheit, eine Folge 
ſchlechtgenoſſener Erziehung, als das Zeichen eines grundver— 
dorbenen Herzens. Das Fluchen und Schwören iſt überhaupt 
ſchon der untrüglichſte Beweis von aller Abweſenheit des Ge— 
fühls für das, was anſtändig, edel und recht iſt; ja noch mehr, 
es iſt ein Beweis, daß der Menſch, welcher ſeine Ausſagen mit 
ſo übermäßigen, oft wahrhaft gottesläſterlichen Betheurungen 
verſtärkt, von jeher viel Unwahrheit geredet haben und keinen 
Glauben verdienen müſſe. Denn von wem wir gewohnt ſind, 
Wahrheit zu hören, dem glauben wir, auch wenn er feine Aus⸗ 
ſagen nicht jedesmal mit Fluch und Eid bekräftigt. Wer aber im 
Rufe des Lügners ſteht, welchem nicht allezeit zu trauen ſei, dem 
ſchenken wir auch kein Vertrauen, und wenn er die ſchaudervoll— 
ſten Flüche mit gelaͤufiger Zunge herſagt, oder die Gottheit zum 
Zeugen nimmt, da uns ſeine gedankenloſen Uebereilungen be— 
kannt ſind. 

Die Rede des Chriſten, ſeine Verſicherung, mit der er etwas 
beſtätigt oder läugnet, ſei die Rede jedes wahrhaften und von der 
Rechtlichkeit ſeines Wortes überzeugten Mannes, ein einfaches 
Ja, Nein! Alles, was darüber iſt, jeder Zuſatz von Fluch oder 


1 
Schwur, macht fein Wort und ſeine Redlichkeit nur verdächtig, 


und iſt, wie ſchon Jeſus ſagt, vom Uebel. (Matth. 5, 37.) 


Ich ſage euch, ſprach Chriſtus, ihr ſollet allerdings nicht 
ſchwören, weder bei dem Himmel, denn er iſt Gottes Stuhl, noch 
bei der Erde, denn fie iſt feiner Füße Schemel. (Matth. 5, 34. 35.) 

Der Mißbrauch göttlicher Namen im allgemeinen Leben iſt 
allerdings tadelnswerth und ſträflich, ſelbſt wenn damit nicht 
immer ein abſichtlich böſer Wille des Herzens verbunden märe. 
Denn wenn Jemand weiß, daß das, was er thut, ſeiner und der 
Gottheit unwürdig iſt, wenn er weiß, daß es ihn entehrt, daß es 
ihm und ſeinem Gemüthe ſchadet, daß es, als Beiſpiel ſchlechter 
Art, Andern nachtheilig wird, — wer dies weiß, und fährt den⸗ 
noch fort, mit ruchloſem Munde zu läſtern, mit Andachtloſigkeit 
das Heiligſte anzurufen: iſt der nicht ein Sünder? Kann er ſeinen 
Leichtſinn rechtfertigen, weil es Leichtſinn ſei? Dies hieße 
eine Sünde damit entſchuldigen, daß ſie Sünde wäre. 

Der unehrerbietige Gebrauch heiliger Namen iſt eine fträfliche 
Liebloſigkeit gegen das allerheiligſte Weſen. Wer kann 
es dulden, daß der Name deſſen entweiht werde, den er liebt? 
Wo iſt ein gutes Kind, welches gleichgültig dabei bliebe, wenn 
man den Namen ſeiner guten Aeltern mißbrauchte? Wo iſt ein 
Liebender, dem es gleichgültig wäre, den Namen ſeiner Braut 
oder Gattin bei allen, ſelbſt bei den unanſtändigſten Gelegenheiten 
ausrufen zu hören? — Wie? und ſollten wir gelaſſen die aller⸗ 
heiligſten Namen beſudeln laſſen durch unwürdige Anwendung? 

Wenn dich Jemand anredet, aber dir den Rücken wendet, 
deine Gegenwart kaum bemerken will, ſich mit allen Nichts⸗ 
würdigkeiten lieber beſchaͤftigt, als mit dir, mit dem er ſich unter⸗ 
halten ſollte: würdeſt du nicht dadurch überzeugt werden müſſen, 


dieſer Menſch verachte dich, ziehe dir das Schlechteſte vor, und 


habe für dich nie einen Funken der Liebe und Hochſchaͤtzung in 
ſeiner Bruſt genährt? — Wie? und wenn du Gottes des Aller⸗ 
höchſten Namen anrufeſt, ohne an ihn nur denken zu mögen; 
wenn du zu ihm beteſt, ohne von ihm zu wiſſen; wenn du ihm 
dankeſt mit dem Mund, ohne dich im Herzen mit ihm zu be⸗ 


en 


ſchaͤftigen — find dies geringere Beweiſe der größten Liebloſigkeit 
gegen deinen Schöpfer, deinen unaufhörlichen Wohlthäter? 

Der unehrerbietige Gebrauch heiliger Namen entehrt das 
Herz des Menſchen und ſeinen Verſtand — nicht Gott! 
Nicht Gott entehrſt du, Läfterer, der in ſinnloſen Flüchen, 
Schwüren und Ausrufungen das Schändlichſte mit dem Heilig⸗ 
ſten gemein macht, ſondern dich ſelbſt. Du bekenneſt der Welt 
mit ſchamloſer Zunge die beklagenswürdige Verwilderung deines 
Gemüths, die Haͤßlichkeit deines Leichtſinns, der auch über das 
Ehrwürdigſte mit frecher Unbeſonnenheit hinwegtändelt; die Un⸗ 
zuverläſſigkeit deines Ja- und Neinworts, da du jeden Augen⸗ 
blick Alles zu Zeugen und Bürgen für dich aufforderſt, was das 
Weltall Großes und Heiliges hat; die Beſchränktheit deines Ver⸗ 
ſtandes, der nicht erkennt, was er thut, und von der Große und 
Majeſtät der Gottheit die elendeſten Vorſtellungen haben muß! — 
Dich ſelbſt, nicht Gott, entehrſt du; deine eigene Würde, nicht 
die göttliche, entweihſt du, o Staub, vom Staube gekommen, 
wie möchte dein Wahnwitz, und wäre er der größte, das Unend⸗ 
liche und Allherrliche entweihen? Wie kann das Auffliegen eines 
Sonnenſtäubchens das große Tagesgeſtirn verdunkeln, welches 
feine blendenden Strahlen durch die ungemeſſenen Raͤume des 
Himmels ausgießet, um große Welten zu erwärmen und zu be— 
glaͤnzen? . 

Der unehrerbietige Gebrauch heiliger Namen wirkt ſchadlich 
zurück auf den Sinn des Menſchen für Tugend und 
auf ſein religibſes Gefühl. Denn wer ſich in ſolcher ange— 
ſtammten oder angenommenen, wirklichen oder erfünftelten Roh⸗ 
heit gefaͤllt: wie kann der auf die feinere Bildung ſeines Ge⸗ 
müthes zu allem Edeln, Großen und Schönen recht aufmerkſam 
fein? Wie wäre es auch nur möglich, daß er einen aufgeſchloſ— 
ſenen Sinn dafür hätte? Wie kann der in einer Stunde mit 
wahrer Inbrunſt zum Vater im Himmel beten, welchen er eine 
Stunde vorher ohne alles Gefühl in den unanſtaͤndigſten Ges 
legenheiten nannte? 

Der Chriſt, dem fein geiſtiges Gedeihen hoher Ernſt iſt, und 
daß er in den Augen Gottes angenehm erſcheine, kann nur damit 


— 11 — 


den Anfang machen, daß er alles Anftößige von ſich entfernt, 
und ſein Gefühl für Tugend, ſeine herzliche Liebe zur Gottheit 
in allen Handlungen hervorleuchten laßt. Aber Rohheit des Ge⸗ 
müths, welches ſich durch freche Reden äußert, erſchwert die 
Läuterung des Herzens und die Selbſtverklärung des Geiſtes. 
Vielmehr wird durch jene Rohheit das Gute oft ſchüchtern zurück⸗ 
geſchreckt, der Wüſtling und ſchlechtere Geſellſchaften herangelockt. 
So erfolgt gegenſeitige Ermunterung zum Böſen, zum Unan⸗ 
ſtändigen, zum Befriedigen niederer Leidenſchaften, die des Kör- 
pers Geſundheit und den Frieden der Seele zerrütten. 

Der unehrerbietige Gebrauch heiliger Namen verdirbt Herz 
und Sitten der unſchuldigen Jugend. Hier wird das, 
was oft nur Thorheit, nur verachtungswürdige Gewohnheit war, 
zum Verbrechen durch die ſchädliche Gewalt des Beiſpiels. Ihr, 
die ihr den Namen eures Gottes mißbrauchet, wie hoffet ihr, 
Kindern Ehrfurcht vor dem Allerheiligſten einflößen zu koͤnnen? 
Ihr Aeltern, die ihr gedankenloſe, lange Gebete herplappern laſſet, 
ſei es am Morgen, oder am Abend, oder beim Tiſche, den die 
Wohlthaten des gütigen Gebers ſchmücken: wie fönnet ihr hoffen, 
daß eure Kinder ſich innig und mit ſeligem Vertrauen mit dem 
ewigen Vater unterhalten lernen? Aeltern, Erwachſene, ihr ſeid 
es, die ihr durch euer Beiſpiel die Gottesliebe und Gottſeligkeit 
in den Herzen der Kinder ausrottet! Ihr ſeid es, welche bei ihnen 
die Religion nur zur Sache des Gedächtnifjes oder der alten, ein⸗ 
geführten Gewohnheiten machet — das heißt, die Religion töd⸗ 
ten! Ihr ſeid es, die ihr den Unſchuldigen ein Aergerniß gebet, 
von denen Jeſus jagt: Wehe denen, durch welche Aerger— 
niß kommt! 

Mancher hat vielleicht niemals die finſtern Folgen ſeines 
Leichtſinns ernſt berechnet, mit dem er oft den Namen ſeines 
Gottes mißbrauchte; Mancher hat vielleicht nie das Schmachvolle 
und Strafbare dieſes Mißbrauchs recht erkannt; o, er denke über 
ſich ſelbſt nach, und über die Uebel, welche er unwiſſend ſtiftete, 
und — wenn ſein Herz noch nicht dem Guten ganz fremd gewor— 
den — er zittere und bereue ſeine Sünde! 

Nur zwei wirkſame Mittel gibt es, die zur Gewohnheit ge- 


E Bi 


wordene Untugend wieder von ſich zu ſtoßen. Das erſte ift, eine 
anhaltende, ſtrenge Aufmerkſamkeit auf jedes unſerer Worte, und 
daß wir uns auch nicht den gelindeſten Ausdruck erlauben, der 
gegen die Ehrfurcht verfehlt, die wir dem Schöpfer unſerer Tage 
und dem Erlöſer unſerer Seele ſchuldig find. Das zweite iſt: 
ein anhaltendes Beſtreben, Gottes Größe, Macht und Erbar- 
men immer heller und beſſer kennen zu lernen. 

Denn, Vater im Himmel, Liebevoller, Gnädiger, wer Dich 
recht erkannt hat, wie kann der mit Gleichgültigkeit zu Dir empor⸗ 
blicken, mit Unachtſamkeit zu Dir beten? Wer Deine Größe und 
Wundermacht in den Werken der Natur bemerkt, oder in den 
Verhängniſſen feines Lebenslaufes erfahren hat: wie kann der 
Deinen heiligen Namen, gleich einer nichtswürdigen Sache, ge⸗ 
mein machen und mißbrauchen? 

O Du Erbarmer, in deſſen Namen ſich alle Knie beugen 
ſollen; vor dem alle Engel anbetend verſinken, alle Welten ehr⸗ 
furchtvoll erzittern: nie will ich mich entweihen durch Mangel 
der Ehrfurcht, die meine arme Seele Dir ſchuldig iſt. Selbſt in 
den äußerlichen Zeichen der Ehrerbietung will ich ſtrenge fein, 
denn ſie verkünden ja das Innere meiner Empfindungen andern 
Menſchen, werden Andern ein Beiſpiel, und verdoppeln meine 
eigene Andacht wieder. 

Ja, Vater im Himmel, Dein Name werde geheiligt! 


8. 
1e Vor ſe hung. 


Pfalm 37, 5. 


Mein Glaube lebt, Gott kann mich nie verlaſen; 
Wenn auch der Hoffnung letzter Anker bricht, 
Und wenn die ſchönſten Freuden mir erblaſſen: 
Verzage nicht! 


Und geh' ich oft ſchon über düſt're Pfade, 
Und ſtrahlt in meiner Lebensnacht kein Licht, 
Mich führt die Hand der Vorſehung und Gnade: 

Verzage nicht! 


Es kann Augenblicke und Stunden, es kann Schmerzenswochen 
geben, die unſern ganzen Muth beugen, die alle unſere Hoffnungen 
auslöſchen. — Es können ſich in manchen Zeiten Schickſale und 
Unglücksfälle von allen Seiten wider uns vereinigen, die uns 
irre machen in unſern heiligſten Ueberzeugungen, und ſelbſt den 
Glauben unſerer Seele an die ewige Vorſehung erſchüttern. 

Wir ſehen oft mit Entſetzen den Triumph der Bosheit, und 
das Recht unterliegen; wir ſehen den rechtſchaffenen Chriſten, der 
feine Pflichten treu erfüllt, der mit Beſcheidenheit in der Stille 
viel Gutes ſtiftet, wir ſehen ihn verkannt, verhöhnt, verleumdet, 
verfolgt, während irgend ein ſelbſtſüchtiger, ſchlauer oder gewal⸗ 
tiger Böſewicht in allen ſeinen Unternehmungen mit Glück be⸗ 
günſtigt wird; — wir fragen uns ſelbſt mit Zweifel: Wie? wacht 
über den Sternen nicht das Auge der Vorſehung? 

Ach, wie manche fromme, ſtille, einſt glückliche Familie iſt 
das Opfer des Krieges geworden! — Was hatte ſie verbrochen, 
daß ihre Wohnung, dieſe Heimath aller häuslichen Tugenden, 
ein Raub der Flammen werden mußte? — Der gebeugte Vater, 
was hat er denn verſchuldet, daß ſein ganzer Wohlſtand ihm in 
wenigen Stunden entriſſen werden mußte, woran er ſo unver⸗ 
droſſen, ſo mühſam ſein ganzes Leben gearbeitet hatte? Jene 
Nächte voller Sorgen, jene Tage voller Mühe, jene tauſend 
Schweißtropfen, die er für das Wohl der Seinigen vergoß, der 
Kummer und die Hoffnung eines langen Lebens — das Alles 


= 


war umſonſt? Was hat denn der arme Säugling geſündigt, der 
die einzige Freude und Liebe ſeiner Aeltern war, daß die Raub⸗ 
ſucht kriegeriſcher Schaaren ihn und die Seinigen in den Jammer⸗ 
ſtand der tiefſten Armuth hinſchleuderte; daß er künftig ſein Leben 
hindurch mit Dürftigkeit ringen muß, und vielleicht künftig, wenn 
ihm endlich ſeine Aeltern fehlen, wie ein Verſtoßener von Hütte 
zu Hütte gehen ſoll, um fremden Beiſtand anzuflehen? — — 
Wir ſchaudern, wir ſehen die beklagenswürdigſten Opfer, und 
fragen: Spielt der blinde, grauſame Zufall mit den Menſchen⸗ 
kindern, oder wacht eine höhere Vorſicht über uns? 

An des kranken Kindes Sterbebette kniet eine troſtloſe Mutter. 
Der Liebling, den ſie mit Schmerzen gebar, und mit zarter Sorg⸗ 
falt erzog, — er liegt, einer welkenden Blume, gleich, vor ihr, 
und ihre beſten Freuden in der Welt verwelken mit ihm. Sie 
hebt die weinenden Augen flehend zum Himmel, und ſenkt ſie 
mit Sehnſucht wieder auf den duldenden Engel nieder. Sie küßt 
ſein blaſſes Antlitz; zum letztenmal öffnet er die Augen und laͤchelt 
mit ſüßer Unſchuld noch einmal die gute Mutter an; er ſtreckt 
noch einmal die kleine Hand der mütterlichen Hand entgegen, wie 
zu einem Abſchiede. Ach, er verläßt das treue Mutterherz ſo 
ungern! — Aber Liebe wird von Liebe, und Herz von Herz ges 
riſſen. Ohnmächtig ſinkt die Mutter über den entſeelten Leichnam 
ihres Lieblings hin. — Alſo waren alle ihre Schmerzen, alle 
ihre Sorgen vergebens? alle ihre tauſend Hoffnungen vergebens 
gehofft, ihre tauſend Thränen vergebens geweint? — Umſonſt 
waren die innigen, heißen Gebete der Einſamkeit, die ſie für 
ihres Kindes Geneſung zum Himmel betete? Hienieden alſo un⸗ 
fäglicher Gram, und von oben keine Erhörung? — Düſter ſtarrt 
fie in die Nacht des Lebens hinaus, als ſuchte ſie Hilfe, Erloſung 
und Gott. Und ihr Seufzer aus der beklemmten, zitternden 
Bruſt ſcheint den Himmel zu fragen: Iſt eine Vorſehung, warum 
verläßt ſie mich? 

Wenn die Fluthen der aufſchwellenden Ströme zahllofe Fa— 
milien mit ihren Wohnungen hinwegreißen, und in den Tiefen 
der Gewäſſer begraben; wenn Erdbeben ganze Städte mit ihren 
Einwohnern, mit Gerechten und Sündern verſchütten; wenn, 


1 


wie vor wenigen Jahren in einem benachbarten Lande, Berghöhen 
niederſtürzen, und ein ganzes Thal voll froher und glücklicher 
Hirten, Männer, Weiber, Säuglinge, Greiſe, Fremdlinge und 
Einheimiſche, in einem Augenblicke vernichten, unter ungeheuerm 
Schutt begraben, daß keine Spur von Allem mehr geſehen werden 
mag: — wer kann unerſchrocken bleiben? Wer wirft nicht einen 
fragenden Blick auf die dunkeln Verhältniſſe der ewigen Vorſicht? 

Ja, es kann Augenblicke und Stunden, es kann Schmerzens⸗ 
wochen geben, die unſern ganzen Muth beugen. Es können in 
unſerm ganzen Lebenslauf unglückliche Ereigniſſe zuſammen⸗ 
treffen, die ſelbſt den Glauben und das Vertrauen des Chriſten 
erſchüttern, mit dem er an der göttlichen Vorſehung hängt. — 
Es ſind oft Zeiten, in denen ſich Alles in dem Leben gegen uns 
und unſer Glück verſchworen zu haben ſcheint; wo wir auf nichts 
mehr mit Zuverläſſigkeit rechnen können; wo unerwartete Be⸗ 
gebenheiten zuſammentreffen, die uns jede Stütze rauben. Es 
kömmt uns in ſolchen ſchwarzen Stunden vor, als wären wir 
einſam in der Welt, als lebe kein Gott für uns, als ſeien wir 
mit unſerm Wohl und Weh einem blinden Ohngefaͤhr preisge⸗ 
geben, welches Dieſen emporhebt und Jenen ohne Abſicht ftürzt. 
Unſer Glaube an eine Alles leitende, weiſe ordnende Vorſehung 
erſcheint uns nur als bloßes Täuſchungsmittel des Verſtan⸗ 
des, wie ein ſelbſterfundenes Beruhigungsmittel gegen unſere 
Schmerzen. 

Aber prüfen wir uns nur ſelbſt mit rechter Beſonnenheit, — 
wir werden bald erkennen, daß nicht die Vorſicht zu wachen und 
zu handeln aufgehört habe, daß nicht die Gottheit aus der Welt 
entflohen ſei; ſondern erkennen werden wir die Urſachen, woher 
eigentlich der Mangel unſers Vertrauens auf die Vorſehung, die 
Schwäche unſers wankenden Glaubens entſtanden ſei. 

Gewöhnlich — und wer wird es doch läugnen können? — 
denken die meiſten Menſchen erſt in der Mitte des Un⸗ 
glücks an die helfende Vorſehung. So lange ſie in ruhigen, 
glücklichen Umſtänden zufrieden lebten, fiel es ihnen felten, oft 
nie ein, recht lebhaft über die Anordnungen Gottes in den Schick⸗ 
ſalen derer, die er in's Leben rief, nachzudenken. So ſieht 


= 


der Kranke erſt auf dem Lager der Schmerzen auf das Glück 
feiner gefunden Tage zurück. So lange er geſund war, verachtete 
er den Gedanken an Krankheit, und lebte ohne Enthaltſamkeit 
ſeinen Vergnügungen, bis ſie ihm Gift wurden. — Erſt wenn 
die Noth von allen Seiten gegen den verſinkenden Menſchen an⸗ 
dringt, ſchlägt er den Blick zum Himmel auf, und fragt unter 
ſeinen Leiden: Wacht auch die Vorſehung für mich? — Aber 
eben in dieſer bedrückenden Lage, in dieſer bangen Gemüthsver⸗ 
faſſung iſt er am allerwenigſten geſtimmt, ſich von den weiſen 
und fortdauernden Führungen der göttlichen Vorſehung recht leb⸗ 
haft zu überzeugen. Sein Herz iſt von andern Dingen zu ſehr 
überwältigt, um ſich ruhigen und anhaltenden Nachforſchungen 
überlaſſen zu können. Er denkt nur an das, was er fürchtet, er 
fühlt nur, was ihn quält; und weil ſein beſtürmtes Gemüth nicht 
eine plötzliche Ueberzeugung von Gottes weiſer Regierung gewin⸗ 
nen kann, weil es ſich nicht ſogleich alle Umſtände gegenwärtig 
machen kann, die von der höhern Weisheit göttlicher Rathſchlüſſe 
ihn einſt belehren konnten, wird er irre und zweifelhaft. Er ſieht 
nur den nahen drückenden Augenblick; nicht Zuſammenhang und 
Plan des ganzen Lebens. Er reißt die einzelne Begebenheit, wo⸗ 
durch es getrübt wird, aus der wunderbaren Kette von Millionen 
anderer Ereigniſſe heraus. Und ſo iſt dann kein Wunder, wenn 
dies ſchwache, im Betrachten göttlicher Weltregierungen ungeübte 
Gemüth das Einzelne für ein Ganzes, die Nebenſache für eine 
Hauptſache anſieht — wenn es ſich und Alles für ein Spiel des 
blinden, todten Ohngefährs hält. 

Hätten wir in ruhigen Tagen, wo unſere Seele zu Betrach- 
tungen höherer Art fähiger war, der dunkeln Hand des ewigen 
Weltregierers im Leben und im Schickſale der Menſchen fleißiger 
nachgeforſcht: ſo würden wir unſerm Gemüthe eine Uebung, eine 
Kraft erworben haben, die das größte Unglück nicht hätte erſchüt⸗ 
tern können. — Hätten wir in mancher einſamen Stunde über 
die ſeltſamen, frohen und traurigen Begebenheiten unſers eigenen 
Lebenslaufes öfters nachgedacht, jo würden wir mit freudigem 
Erſtaunen mehr als einmal bei uns ausgerufen haben: Siehe, 
das war die Hand Gottes! — Wir würden geſehen haben, wie 


1 


Manches, das uns ein unheilbares Unglück ſchien, die ſegenvollſten 
Früchte für unſer ganzes Leben, oder für das Heil der Unſrigen 
brachte. Wir würden erkannt haben, daß, wenn dieſer oder jener 
von unſern heißeſten Wünſchen erfüllt worden wäre, wir auf 
unſer gegenwärtiges Glück, auf unfere gegenwärtige Lage Ver⸗ 
zicht thun müßten. Wir würden nicht läugnen können, daß 
Manches, wofür wir einſt vergebens arbeiteten, rangen, beteten 
und weinteu, endlich bei dem Gange der Dinge unſer und An- 
derer Unglück geworden wäre. Wir würden eingeſtehen, daß 
mancher ſchreckliche Zufall, der uns in unſerm Leben einſt hart 
angriff, von den herrlichſten Wirkungen auf unſer Herz, auf 
unſere Denkart ward, und daß wir nun dieſer beſſern, weiſern 
Denkart der ruhigen goldenen Lebensſtunden viele zu danken haben. 

Ein in ſolchen Betrachtungen der weiſen Führung des Men- 
ſchengeſchlechts durch Gottes Hand geübter Chriſt wird wahrlich 
durch keinen Unfall im Leben an feinem Gott und deſſen allwal⸗ 


tender Vorſehung irre werden. Für ihn iſt kein Ohngefähr, ſon⸗ 


dern feſte, zur Ueberzeugung gewordene Harmonie im Weltall. 
Er wird in der Tiefe der Noth zu Gott ſchreien, und eingedenk, 
wie oft der kurzſichtige Menſch ſich in ſeinen eifrigſten Wünſchen 
betrügen kann, zu ſeinen Gebeten allein hinzuſetzen: Aber, Herr, 
nicht mein Wille geſchehe, ſondern der Deinige! Er wird 
ſich mit einer Zuverſicht, die das verwundete Herz erquickt, auf 
Gottes weiſen Rath verlaſſen, wie ein Kind, das, ohne einzuſehen 
warum, von ſeinem Vater ſcheinbar hart behandelt wird. 

Eine andere Quelle menſchlicher Zweifel an der ewigen Vor⸗ 
ſehung liegt in der ſtolzen oder leichtſinnigen Anmaßung un- 
ſeres Veſtandes, über das Weltganze zu urtheilen, in— 
dem wir über ein einzelnes Schickſal nachdenken und träumen. — — 


Thöbrichter Sterblicher, du willſt über deinen Lebenslauf ſprechen 


und richten, wie es hätte beſſer ſein können, und kannſt nur nicht 
ſagen, welchen Inhalt deine nächſte Stunde hat! — Du willſt 


„ 8 


das Daſein einer Alles ordnenden Vorſehung in Zweifel ſetzen, 
weil du es nicht einſiehſt, welchen Nutzen dieſes oder jenes Un⸗ 


glück, worin Städte oder Länder verderben, bringen könne. Aber 
du kennſt vom Weltall nur ein Staubkorn, von der Ewigkeit nur 


II, 2 


a 


einen Augenblick, und was du Unglück nennſt, ift es in Deinen 
Augen; aber weißt du, ob es das Unglück derer war, die den 
Unfall litten? 
Du bezweifelſt Gottes dworſehüng weil dein beſchränkter 
Geiſt ſie nicht faßt und begreift. Wer Gottes Weltordnung be⸗ 
urtheilen will, muß Gott ſein! 

Wir tadeln oft, was uns ſchrecklich zu ſein ſcheint, und da⸗ 
von wir keine heilſame Folgen weder für uns noch für die Welt 
abſehen können, und Ereigniſſe, die nicht von Menſchen herbei⸗ 
gerufen oder verhindert werden konnten. 

Aber nicht Alles, was unſerer Einbildungskraft grauſenvoll 
erſcheint, iſt denen ſo ſchrecklich, die das Schickſal trugen. Wenn 
ein Erdbeben blühende Städte mit tauſend glücklichen Geſchlech⸗ 
tern verſchlingt — wenn ein herabſtürzender Berg die Bewohner 
eines ganzen Ländleins zermalmt: welches war denn das größte 
Unglück bei dieſem entſetzlichen Ereigniſſe? — Der Tod aller 
dieſer Einzelnen, ihr ſchnelles Verſchwinden aus dem Reiche der 
Lebenden. — — Wie, der Tod? Iſt er ein ſo furchtbares Un⸗ 
glück? Iſt nicht unſer Aller letztes Ziel jene Minute, die uns 
verwandelt? Sterben nicht nach den wahrſcheinlichſten Berech⸗ 
nungen von der ungeheuern Zahl der Lebendigen auf Erden in 
einem einzigen Tage, aber zerſtreut und einzeln in allen Welt⸗ 
theilen, immer hundert und tauſend hin, während hundert und 
tauſend wieder geboren werden? Iſt es ein großes Unglück für 
uns, wenn wir im gleichen Augenblick mit allen denen, die un⸗ 
ſerer Seele lieb find, die Verwandlungszeit gemein haben? Stürbe 
nicht gern der zaͤrtliche Gatte mit der entſchlummerten Gattin zu⸗ 
gleich? Stürbe nicht gern mit dem ſterbenden Kinde das blutende 
Mutterherz zugleich? — Von welchem Unglück, Zweifler, redet 
ihr nun? Daß Tauſende im gleichen Augenblick verſchwinden? — 
Aber alltäglich verſchwinden Tauſende an Krankheiten und ans 
dern Zufaͤllen von der Erde. — Oder daß Tauſende in einem 
gleichen Traum vergingen? — Was hat ein Traum mit der 
Größe eines ſogenannten Unglücks gemein? — Was Gott thut, 
das iſt wohlgethan! O welch eine Tiefe des Reichthums, beides 
der Weisheit und Erkenntniß Gottes! Wie gar unbegreiflich ſind 


8 


ſeine Gerichte und unerforſchlich ſeine Wege! Denn wer hat des 
Herrn Sinn erkannt? oder wer iſt ſein Rathgeber geweſen? (Röm. 
11, 33. 34.) 

Ueberhaupt liegt darin ein vorzüglicher Grund des Verzagens 
an göttlicher Vorſehung, daß wir zu ſehr an dem Sinnlichen 
und Irdiſchen hangen, dem unſere Leibesbedürfniſſe gehören, und 
nicht inniger verbunden find mit dem Gedanken an die Geiſter⸗ 
welt, zu der unſere Seele gehört. — Wer in der geiſtigen Welt 
eben jo viel lebt, wie in ſeinen irdiſchen Geſchäften, für den iſt 
der Tod kein ſo entſetzliches Uebel. Er weiß es, er lebt in Gott; 
von ihm, in ihm und durch ihn ſind alle Dinge; in Gott aber 
iſt kein Tod! Verluſt unſers Vermögens, unſers Wohl— 
ftandes, iſt dies dem Chriſten, dem Weiſen endlich das größte 
Uebel der Welt? — Nein, dem iſt er das größte Uebel, der nur 
dieſen irdiſchen Gütern, und ausſchließlich nur ihnen gelebt hat. 
Aber welcher Chriſt, welcher Weiſe wird wohl hauptſächlich für 
das leben, was ihm doch nur geliehen iſt, was er doch nie be⸗ 
halten kann, was beſtändig wechſelt, und für das, was von einem 
Todtenbette zum andern, von einem Erben zum andern über⸗ 
geht, ſo ſehr zittern? — Wer nicht in das, was Staub iſt, 


ſein höchſtes Gut geſetzt hat, dem iſt der Verluſt deſſen, was 


Staub iſt und bleibt, auch nicht das größte Uebel. Mancher muß 


erſt verarmen, ehe er an ſein höheres Glück, an das Gluck, Menſch 
zu ſein, Gott und hoͤhern Beſtimmungen zu gehören, denken kann. 


A . 


EFT S * * 


| 


Oft iſt es auch nur eine augenblickliche Kleinmüthigkeit, die 
uns im Vertrauen auf die ewig dauernde, Alles durchherrſchende 
Vorſehung wankend macht. — Eingedenk unſerer Kleinheit, aber 
uneingedenk der namenloſen Vollkommenheit Gottes, verzagt 
Mancher und ſpricht bei ſich: Gott iſt allzuerhaben; wie kann er 
ſich um meine geringen Angelegenheiten und Wünſche, oder um 
das Wohl und Uebel eines jeden einzelnen unbedeutenden Ge⸗ 
ſchöpfes bekümmern! 

Wie, und doch biſt du das Geſchöpf Gottes? — Und doch 
iſt Gott das hoͤchſte Weſen, welches in unbegreiflicher Vollendung 
das unendliche Weltall ordnet und erhält? — Wohin führt dich 
Vein Kleinmuth? Du würdigeſt die Gottheit zu dem beſchränkten 


Pe 10,0 


Verſtande und zu der beſchraͤnkten Macht eines Sterblichen herab, 
der nicht Alles überſehen kann. Du vergleichſt ihn mit dir, o 
Wurm, und ſtellſt den Schöpfer in gleichen Werth mit dem Ge⸗ 
ſchöpfe. e e 

Siehe, er, der die Geſtirne des Himmels, dieſe zahlloſen 
Welten, täglich durch das unbegrenzte All des Daſeins führt, 
und ihren Lauf ordnet; er, der auch das kleinſte Sandkorn an 
unſern Erdball feſt bindet mit unſichtbaren Banden, daß es ſich 
nicht von ihm verliere; der für die Welt kleiner Würmer ſorgt, 
wie ihres Lebens froh auf einem Roſenblatte als Mehlthau wohnt — 
er ſollte das große Reich todter Kräfte mit ſo unendlicher Weisheit 
regieren, und der Geiſter zuweilen vergeſſen können, die, edler als 
Alles, ihn loben, ihn nennen, ihn anbeten können? — Ver⸗ 
geſſen! Welch ein unwürdiger Begriff von dem Vollkommenſten! 
Und iſt er dies, ſo iſt ſeine Allwiſſenheit und Allbarmherzigkeit 
und Allweisheit und Alles umfaſſende Liebe eben ſo unendlich 
vollkommen. — Ohne feinen Willen, ſpricht Jeſus, fällt kein 
Sperling vom Dache, und die Haare meines Hauptes find ge⸗ 
zaͤhlt. So Gott das Gras auf dem Felde bekleidet, das noch 
heute ſteht, und morgen in den Ofen geworfen wird, ſoll er das 
nicht vielmehr an euch thun, o ihr Kleingläubigen? (Matth. 6, 30.) 

O Du, Unergründlicher, Ewiger, Allbarmherziger, den ich 
Vater nenne, der Du Alles erhältſt, Alles ordneſt, Alles leiteſt: 
Du leiteſt auch meine Schickſale! — Nie haſt Du mich, nie wirſt 
Du mich verlaſſen, auch wenn hienieden mich Alles verlaͤßt. 
Ruhig und vertrauensvoll gehe ich die dunkeln Wege, welche 
Deine unſichtbare Hand mich führt; denn ſie fuͤhrt mich zu Dir. 
Anbeten und verehren will ich die wunderbaren Pfade Deiner 
Vorſehung und die ewigen Geſetze, in welchen ſich die Geiſterwelt 
bewegen muß, die Du erſchufſt — anbeten und verehren auch 
das, was das dunkle Licht meines Verſtandes nicht erhellen kann! 
Denn Alles, o Unendlicher, o Gnadenreicher — o mein Vater, 
Alles kommt von Dir, Alles führt zu Dir! 


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4. 
Gottes Walten. 


Pfalm 46, 11. 


Nur Gott herrſcht in dem Reich der Seelen; 
Darf es der Menſch — der Staub — verhehlen? 
Wer droben herrſcht, der herrſcht auch hier! 
Nichts gilt vor Dir der Witz der Weiſen; 

Es ſei des Frevlers Nacken Eiſen: 

Dein Wort zermalmt ihn doch vor Dir. 
Dann eilt er ſelbſt, ſich zu verdammen, 
Eh' Dein Gericht, o Herr, erwacht! 


Und will der Herr ein Land beglücken, 
Und Völkern ſeinen Segen ſchicken: 
Wer kann ihn daran hindern, wer? 
Wie Spreu verfliegt der Feinde Heer. 
Drum, Völker, hört des Herren Schalten, 
- Ihr Königreiche, betet an! — 

Er iſt der Herr, Er! Laßt ihn walten; — 

Wie Er thut, ſo iſt's wohlgethan! 


Seid ſtille, und erkennet, daß ich Gott bin! So ſpricht 
die Stimme des Herrn aus den Weltſchickſalen. Was allſeitig 
und ohne Ausnahme ſeit vielen Jahren die Volker und Fürſten 
wünſchten, ward ſelten erfüllt. Immer ward es anders. Die 
wenigſten begriffen es. Sie hielten es fir Menſchenwerk, was 
Gottes Walten war. So verwandelte ſich Vieles. Aber die thoͤ⸗ 
richten Sterblichen wollten es nicht. Sie wähnten, es ſei kein 
Heil, kein Segen, als im Alten. Sie wollten die alten Zeiten 
mit Gewalt zurückrufen, und machten ſich elender, und das Neue 
immer neuer. Was Gottes Arm einmal gebrochen hatte, ſollte 
nicht wieder aufgebaut werden. Die Fürſten und Völker rangen. 
Das Alte kam nicht wieder: aber das neue Gebäude ward wider 
Aller Verlangen immer feſter und vollendeter. Umſonſt das Toben 
und Wüthen der Menſchen — es geſchah, was geſchehen ſollte, 
und nicht mehr und nicht weniger. Alles hat ſeinen Grenzſtein. 
Keiner kann ihn überſchreiten. Den Gewaltigſten hemmt in ſeinem 
Lauf eine unſichtbare Hand. 
5 Seid ſtille, und erkennet, daß ich Gott bin! — Erkennet des 


* 


Herrn Willen. Ihr beſchwöret mit aller eurer Macht und Kunſt 
die Vergangenheit nicht, daß ſie zurückkomme zu euch aus ihrem 
Grabe. Aber das iſt die Weisheit, das Neue zu nehmen und zu 
benutzen, daß es der Freude, des Friedens, der Stärke, des Wohl⸗ 
ſeins mehr gewähre, als das Alte jemals zu gewähren vermochte. 
Thöricht find die, welche das Gute des heutigen Tages verſchmaͤ⸗ 
hen, in Hoffnung des viel Beſſern, das noch kommen Fönnte: 
aber noch thörichter die, welche das Heutige verachten, weil ſie 
wollen, Geſtern müſſe wieder Morgen werden. Wann ſtand der 
Strom der Zeiten ſtille, oder wann ging jemals der Lauf der 
Welt zurück? — Alles eilt vorwärts. Nichts iſt immer das 
Gleiche. Dem Guten wird Alles gut; der Weiſe weiß von Allem 
das Beſte zu nehmen. f 
Erkennet das Walten Gottes! Er hat das Hohe zerſchmettert, 
vas Niedrige erhoben. Wer war ſo ſtark, als er; wer konnte ihn 
hindern, zu thun nach ſeinem Rath? — Was vermochten die ge⸗ 
waltigſten Flotten der Meere? Er ſandte einen Windſtoß, der die 
Wellen bewegte, und die Schiffe flogen zerſtreut von einander, 
und was Keiner berechnet hatte, geſchah; was Menſchenſinn aus⸗ 
geklügelt hatte, unterblieb. Was vermochten die furchtbarſten 
Kriegsheere? Er hauchte ſie an, und es war ein Hauch des Todes. 
Ihre Leichen und Waffen bedeckten die Felder; und was fie ver⸗ 
richten ſollten, ward nicht verrichtet; der Schwache ward ſtark 
und der Mächtige kraftlos. So wollte es der Herr. Was ver⸗ 
mochte die Schlauheit der Rathſchläge, die Tapferkeit der An⸗ 
führer? Eine Kleinigkeit vereitelte die Rieſenentwürfe; ein Staub⸗ 
korn machte das große Uhrwerk ſtille ſtehen; in die Bahn der 
tödtlichen Kugel trat unwiſſend der tapfere Held, und der dem 
Leben von Tauſenden drohte, lag ſelbſt ohne Leben im Staube. 
Niemand iſt mächtig vor dem Herrn. Weiſe ſeufzten in Kerkern, 
und ihr Wort begeiſterte Millionen, und verwandelte den Zuſtand 
ganzer Welttheile. Niemand weiß, wozu ihn Gott beſtimmt hat. 
Jeder iſt ein Werkzeug der Vorſehung. Dir gehort der gute Wille, 
o Menſch, bei deiner That: aber ihr Erfolg gehört Gott an. 
Vom Willen biſt du verantwortlich, die Folge iſt die Sache der 


1 


Weltregierung. Seid ſtille, ſpricht der Herr, und erkennet, 
daß ich Gott bin! 

Erkennet ihn, den Einzigen, den Allesleitenden, der über 
uns in majeſtaͤtiſchem Dunkel wohnet; der den Flug der Sonnen 
und Monde und das leiſe Schweben des Schmetterlings ordnet; 
der die Thaten des Fürſten und des Bettlers mit gleichem Maß⸗ 
ſtabe richtet; der Wohl und Wehe ganzer Welttheile und der 
kleinſten, vergeſſenſten Familie mit gleicher Weisheit beſtimmt; 
ohne deſſen Willen nichts geſchieht. Er hat die verurtheilie Un- 
ſchuld gerettet, und den geheimen Verbrecher mit ſeinen Leiden 
an das Licht des Tages gezogen, daß Alle vor ihm erſchrecken. 
Wenn der redliche Mann das Opfer der Verleumdung neidiſcher 
Seelen geworden; wenn er unter ſchändlichem Verdacht erlag, 
und er ſelbſt kein Mittel hatte, ſich zu rechtfertigen vor der Welt, 
weil aller Schein wider ihn ſprach; wenn dann ein unbemerkter 
Umſtand plötzlich zum Vortheil des Verleumdeten redete, ſeine 
Redlichkeit eben fo ſehr, als die Bosheit ſeiner verächtlichen Gegner 

ins Licht ſetzte — in dieſem Umſtande (ihr nennet ihn Zufall!) 
war Gottes Walten. 

Wenn der glückliche Sünder lange unentdeckt ſeine Werke der 
Finſterniß trieb; wenn Dieſer hier mit Wucher, Erbſchleicherei, 
Bedrückung der Wittwen, Ueberliſtung der Schwachen, Ueber⸗ 
vortheilung der Gutmüthigen, Unterſchlagung fremder Gelder, 
ſein Vermögen beſſerte, ſeinen Aufwand beſtreiten konnte; — 
wenn Jener im Verborgenen Ränke ſchmiedete und den Ehrlichen 
verdächtigte, welchen er öffentlich ehrte; hinterrücks verrieth, den 
er ins Angeſicht lobte; abweſend anſchwarzte, den er anweſend 
umarmte: — eine Stunde, ein Augenblick war genug, Alles zu 
offenbaren, was Schändliches im Geheimen getrieben worden; 
ein Lichtſtrahl brach durch einen unbemerkten Spalt in das Laſter⸗ 
gewölbe hinab, und die ſchwarzen Verbrechen wurden hell — 
hier war Gottes Walten! Denn ſo iſt das heilige Geſetz des Welt- 
ganzen; das Verdammenswerthe kann ſeiner Verdammung nie 
entfliehen. — Wenn die ekelhaften Folgen gemeiner Wolluſt 
endlich den ehrloſen Heuchler vor aller Welt an den Pranger ſtellen, 
oder dem entlarvten Siechling auf frühem Sterbebette den Lohn 


5 


der Geilheit reichen; wenn ein unbeſonnen ausgeſtoßenes Wort, 
oder ein unverwiſchter Blutstropfen, oder das Plaudern eines 
Kindes, oder eine Handvoll friſcher Erde, oder ein treues Haus⸗ 
thier, oder ein Erblaſſen zur unrechten Zeit, nach Jahr und Tag, 
den Urheber eines Mordes, den heimlichen Giftmiſcher, den rache— 
luſtigen Würger an die weltlichen Gerichte ausliefert — o nenne 
es nicht Zufall! es iſt Gottes Walten! — Jedem geheimen Sün⸗ 
der kommt endlich ein Tag ſeines Gerichts: und wälzte er Berge 
über die Zeugen ſeines Vergehens, und hätten nur die Nacht und 
die ſtummen Mauern und die Wälder feine Frevelthat geſehen — 
die Berge verwehen wie Staub, und entblößen das Verborgene; 
die Steine der Mauern klagen ihn an; die Blätter des Waldes 
werden rauſchende Zeugen, der Blitzſtrahl fällt rächend vom 
blauen Himmel. Seid ſtille, ſpricht der Herr, und erkennet, 
daß ich Gott bin! 

Erkenne das Walten Gottes. Er allein iſt Herr, der den 
Gebeugten aufrichten, den Zerſchlagenen heilen, den Ohnmächti⸗ 
gen ſtärken, den Verzagenden tröſten, den Wehrloſen ſchützen 
kann. Es waltet kein Zufall im Himmel und keiner auf Erden, 
ſondern eine ſehende, weiſe, liebende Macht; ſie leitet Alles hin⸗ 
aus, nicht auf die Straßen des Ungefährs, ſondern nach den 
ewigen Geſetzen des Guten zum Guten. Laß immerhin die 
Menſchen mit ihren Leidenſchaften feindſelig wider einander 
fahren; laß immerhin durch Macht oder Witz eine Zeit lang den 
Irrthum ſtatt der Wahrheit glänzen; laß immerhin die wilden 
Wünſche einer unreinen, ſelbſtſüchtigen Menge ſich durchkreuzen: 
was zitterſt du denn, Kleinmüthiger? Gott waltet. . 3 

Gott waltet! Darum muß endlich das Tiefverborgene offene 
bar, das Verbrechen verrathen werden, und was ſchlecht iſt, ver— 
derben. Darum wird nur beſtehen und ſiegen, was an ſich gut, 
gerecht und wahr iſt. Hat die Welt nicht ſchon oft erfahren, wie 
ganze Völker, vom Schwindel der Mode und Sitte ergriffen, 
den Irrthum zur Wahrheit prägen wollten? Aber ihr Bemühen 
war eitel. Haben nicht ſchon mehr denn einmal Tirannen mit 
ſtolzer Willkühr vom Thron herab ihre Thorheit für Weisheit 
gegeben, die Wahrheit als ein Majeſtätsverbrechen verbannt, und 


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mit ſchamloſem Uebermuth alle Rechte der Menſchheit verhöhnt? 


Die Elenden! Ihr Staub iſt in allen Winden verweht, ihr Ge— 


ſchlecht iſt vertilgt, ihr Name nur lebt noch, um damit Abſcheulich⸗ 
keiten zu bezeichnen. Iſt nicht ſchon oft von eigenſüchtigen oder 
wahnſinnigen Gewalthabern verſucht worden, die Völker in Un⸗ 
wiſſenheit und Barbarei zurückzudrängen, damit ſie dieſelben deſto 
leichter in Sklavenfeſſelun behielten? Aber den Weltgebietern und 
ihren vermeſſenen Träumen begegnete zerſtörend Muth und Wort 
eines einzigen gotterleuchteten Weiſen — da zerflog vor dem Hauch 
aus deſſen Munde die ganze Macht der Weltgebieter, und die 
Menſchheit trat ins Licht, und die Throne der Finſterlinge ſtürzten 
zuſammen. Ihre Donner, ihre Scheiterhaufen, ihre Kerker, ihre 
Flüche waren vergebens. Darum ſeid ſtille, ſpricht der Herr, 
und erkennet, daß ich Gott bin! 

Erkenne das Walten Gottes in allen deinen vernichteten 
Wünſchen; erkenne es in allen deinen erfüllten Hoffnungen. Die 
Liebe war dort rege, wie hier, Alles zu deinem Heil. Denn 
dies iſt das Ziel der Schöpfung. Selbſt da, wo dir das Herz 
am ſtärkſten blutet, da, wo heilige Bande, Seelenbande zerriſſen 
werden, — etwa am Sterbebette eines Gatten, eines Vaters, 
einer Mutter, eines Kindes, einer Schweſter, eines Bruders — 
ach, wo du meinteſt, der Tod ſolches geliebten Weſens ſei un⸗ 
möglich, Gott könne ihn nicht wollen, wo du ſchluchzend in deiner 
einſamen Kammer die Haͤnde zum Himmel emporſtreckteſt, und 
fragteſt: warum? o warum? — und das Geliebteſte dennoch ver⸗ 
loreſt, und damit das Beſte aus allen deinen Lebensfreuden — 
ja, ſelbſt da hat dein Gott gewaltet, dem Verſtorbenen zu Liebe, 
und — mag doch dein zärtliches, tief verwundetes Herz bluten! — 
auch dir zu Liebe. 8 

Der innere Werth und die herzliche Neligiofität der Menſchen 
wird bei weitem nicht fo leicht aus ihren Anſichten der Pergangen⸗ 
heit und Gegenwart erkannt, als daraus, wie ſie die Zukunft be⸗ 
trachten. Man tröſtet ſich endlich wohl über das, was vorüber 


iſt, und gewöhnt ſich an das, was da iſt: aber nicht jo gleich- 


gültig oder gelaſſen richtet man immer den Blick auf das, was 
kommt. Je mehr der Menſch Urſache hat, von der Zukunft zu 


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befürchten, je geringer iſt der Werth feines Herzens, oder je 
dürftiger ift feine Neligiofität. Je fröhlicher und zuverſichtlicher 
der Menſch in die Tage hinausblickt, die noch nicht waren: deſto 
reiner iſt ſein Gemüth, deſto wahrer ſeine Religion. 

Denn nur der ſchwache, ſinnliche, an dem Irdiſchen haͤngende 
Menſch, nur der Menſch, dem ſein Eſſen und Trinken, ſein Haus⸗ 
geräth, ſein Geld, ſein Anſehen, ſein Stand das Wichtigſte im 
Leben iſt, muß vor der Zukunft am meiſten zittern, weil er 
Dinge zu ſeinem Heiligthum macht, die durchaus vergehen müſſen. 
Er muß zittern, trotz allem Vertrauen zu Gott; denn er weiß 
voraus, Gott läßt ihm den Sinnentand nicht. Es ſagt ihm ſein 
Gewiſſen, er hänge mehr am Staube, als am Ewigen und Gött- 
lichen; mehr an dem Schein der Welt, als an der Tugend, die 
über das Irdiſche erhebt. 

Hingegen der wahrhaft gottergebene Chriſt ſieht fröhlich in 
die kommende Zeit hin. Sie hat ihn für keine geheimen Sünden 
zu züchtigen; er iſt ſchuldlos, wenn gleich nicht fehlerrein. Was 
er Unrechtes beging, ſuchte er auf der Stelle zu beſſern. Er thut, 
was der Menſch vermag, was der Nachfolger Jeſu ſoll. Er 
ſieht fröhlichen Muthes in die Zukunft. Und was auch Gott ver⸗ 
hängt haben mag, Krieg oder Frieden, Wohlſtand oder Armuth, 
Freuden im Umgange mit Geliebten oder Tod derfelben, Ruhe 
oder Sturm — Gott waltet! Und wenn er ſchon die ſchwarze 
Wetterwolke gegen ſich anziehen ſieht, es ſpricht der Herr: Seid 
ſtille, und erkennet, daß ich Gott bin! 

Warum ſollte ich mich denn fürchten? Du biſt es ja, mein 
Gott, mein Vater, der die ſchwarze Wetterwolke des Schickſals 
daher ſendet. Kann ſie mir denn ohne Deinen Willen ſchaden? 
Und kannſt Du mich elend machen wollen, mich, Dein Kind, 
das Du zur Seligkeit erſchaffen und erkoren haſt? mich, Dein 
wehrloſes Kind, o Du Allmächtiger, das von Dir Alles hat? — 
Nein, ich bin beruhigt. Da ich mein eigenes Sterben nicht 
fürchte — denn es iſt ja Auflöſung der irdiſchen Bande, Freiheit 
der unſterblichen Seele, ihre Vereinigung mit Dir — was könnte 
ich denn wohl fürchten? Gib mir, nimm mir; erhebe oder er— 
niedrige mich; laß mich die Freude meiner Freunde oder das 


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Opfer meiner Feinde werden — ich empfange jedes Schickſal mit 
Dank. Denn Du biſt mein Vater: Deine Liebe iſt mein Gut, 
die Tugend mein Schatz; Alles Andere iſt Staub, und gehört 
einem Grabe an. 5 
Ich bin ſtill — ſtill und vertrauend — vertrauend und 


freudig; denn ich erkenne, daß Du Gott biſt — mein Gott — 
ewig! Amen. 


J 3. 
Unfere Abhängigkeit von Gott. 


Jer. 5, 24. 


Der Herr iſt groß und Keiner mehr; 
Frohlockt ihm, alle Frommen! 
Wer iſt ihm gleich? Wer iſt, wie er, 
So herrlich, ſo vollkommen? 
Der Herr iſt groß! Sein Nam' iſt groß! 
Unendlich iſt und grenzenlos 
Der Herr in ſeiner Gnade. 


Wir ſind allein durch ſeine Kraft 
Das, was wir ſind und werden. 
Er kennet Alles, was er ſchafft 
Im Himmel und auf Erden. 
Vor ihm ſind wir ein welkend Laub, 
Und ohne ihn ein nicht'ger Staub, 
All' unſer Sein nur Ohnmacht. 


Als Chriſtus wunderbar Tauſende fättigte, die ſich in der Ein⸗ 
öde am galilaͤiſchen Meer um ihn her geſammelt hatten, da nichts 
mehr als ſieben Brode und einige Fiſche vorhanden waren, er- 
ſtaunte das Volk und betete an. Aber die Gottheit wiederholt 
das Wunder mit jedem Jahre. Wenige Samenkörnlein fallen 
in den Erdboden, und nach wenigen Monaten werden damit 
ganze Welttheile ernährt, und mit Vorrath und Ueberfluß reich 
gemacht für Jahr und Tag. — Die Menſchen aber nehmen die 
gewohnte Gabe, oft ohne des Gebers mit dankbarer Herzlichkeit 
zu gedenken, und ſprechen nicht einmal in ihrem Herzen: Laffet 
uns doch den Herrn unſern Gott fürchten, der uns Früh- 
regen und Spätregen zu rechter Zeit gibt, und uns die 
Aernte treulich und jährlich behütet. 


— 36 — 


Es wanken die Fruchtbäume unter der Bürde eines labenden, 
heilſamen Obſtes; die Aecker ſenden ihre goldenen Aehren in die 
Scheunen, und die Wieſen füllen dieſelben dem Vieh mit geſun⸗ 
den Kräutern; die Gartenfrüchte reifen in großer Mannigfaltig⸗ 
keit ſchön und kräftig. Der Winter tritt aus der Ferne heran; 
unter ſeinem Hauche wird die Pflanzenwelt entſchlummern. Aber 
furchtlos erwarten ihn die Geſchöpfe — Gott hat geſorgt! 

Und hätte Gott nicht geſorgt — hatte er es in der geheimen 
Haushaltung der Wolken anders geleitet, daß Hitze und Dürre 
unſere Fluren verſengt, Hagelſchauer unſere Saaten zerſchlagen 
oder anhaltende Regen und Kälte die Früchte der Erde vernichtet 
hätten; oder würde er dem Ungeziefer Gewalt gegeben haben, 
durch ungeheure Vermehrung die Aernten des menſchlichen 
Fleißes zu zerſtören; oder hätte er nur in der Luft eine unmerk⸗ 
liche Entziehung derjenigen unbekannten Stoffe geſtattet, durch 
welche die Pflanzen Kraft und Gedeihen empfangen — was 
wären wir heute? Was hätte alle Mühe, alle Klugheit, alle 
Sorge der Sterblichen genützt? — Was würde unſere Aernte 
ſein? — Das Schrecken der Hungersnoth. 

Denke dir einen Welttheil mit feinen vielen Millionen Be⸗ 
wohnern ohne die erforderliche Nahrung bis zur Wiederer— 
ſcheinung eines beſſern Herbſtes. Denke dir, der du jetzt lüſtern 
zwiſchen Leckerbiſſen wählen kannſt, daß dir deine Hungerbiſſen 
zugewogen würden. Der Reiche wirft einen verächtlichen Blick 
auf die zuſammengeſcharrten Goldhaufen; todt liegen die ge— 
prieſenen Schätze, denn ſie ſind ungenießbar. Der Arme ſchleicht 
verzweifelnd von Haus zu Haus; auch der Barmherzigſte wird 
in der allgemeinen Noth grauſam, und weigert dem Sterbenden 
die wenige Nahrung, mit der er ſich die Tage friſten will. Der 
Säugling verſchmachtet wimmernd an der Bruſt einer gramver— 
zehrten, ohnmächtigen Mutter. Die Heißgier eilt hinaus und ver⸗ 
ſucht ungeſunde Kräuter und Wurzeln. Das Recht des Eigen— 
thums verſchwindet vor der Stärke der Verzweiflung. Die Bande 
der Geſelligkeit und Freundſchaft löſen ſich auf; denn Einer be— 
neidet den Andern um den letzten Biſſen. Aeltern und Kinder 
entzweien ſich um eine Hand voll Speiſe, und der Knecht verläßt 


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den hilfloſen Herrn, der ihn nicht mehr naͤhren kann. Bleiche 
Geſichter begegnen ſich auf den Gaſſen, und hohle Augen fragen 
ſich einander: Kannſt du mir geben? — Leichen neben Leichen 
werden vorübergetragen, und glücklich geprieſen von den Leben⸗ 
den, die ihrem Elende kein jo nahes Ende ſehen. Mörderiſche 
Seuchen gehen von Stadt zu Stadt, von Dorf zu Dorf, als 


Folgen verderblicher Nahrungsmittel. Aller Ekel wird über- 


wunden, und Dinge, vor denen die Natur des Menſchen ſonſt 
ſchauderte, reizen wie köſtliche Gerichte. Wer ſich gefättigt hat, 
gilt für den Beglückteſten; wer aus Mangel an Speiſen kraftlos 
daliegt, wird nicht mehr beweint, denn die Andern erwarten kein 
anderes Loos. 

Es gebe der Herbſt mit freigebiger oder ſparſamer Hand, 
immer ſteht ex da, uns unſere Abhängigkeit von Gott zu ver— 
künden. Wir ſind Nichts, wir haben Nichts ohne ihn; und nur 
durch ſeine Güte allein Alles. — Wenn der Menſch ſich ſelten 
daran erinnern mag: der Herbſt mahnt ihn daran! Es bebt der 
Landmann vor den Wetterwolken des Sommers, der Winzer vor 


den kühlen, naſſen Tagen, in denen die Trauben reifen ſollen. 


Jeder erwartet mit Beſorgniß die Entſcheidung des Herbſtes — 
Wohlfeilheit oder Theurung gehen in deſſen Gefolge. 

Wir find abhängig von Gott. — Jede Stunde, jeder Athem⸗ 
zug in derſelben lehrt es uns. Was wären wir ohne Obhut der 
Vorſehung? — Und doch geht der Menſch ſtolz einher, als waͤren 
feine Aernten bloße Erfolge feiner gehabten Mühe, feiner ver— 
doppelten Kunſt. Er brüſtet ſich mit ſeinem Ueberfluſſe, mit 
ſeinem Anſehen unter den Sterblichen, als waͤre dies Alles nur 
die Frucht feiner Klugheit. Er zählt lächelnd die Reihe feiner 
günſtigen Schickſale her, als hätte feine eigene Macht fie herbei⸗ 
gerufen. Ach, wie wenig bedarf es, um ihn und feine Herrlich- 
keit zu vernichten! Ein Jahr, eine Stunde, ein Augenblick ohne 
Gottes Segen, und der Strom unvorhergeſehenen Elendes hat 


den Stolzen ergriffen. 


Darum, was ich auch gewinne, wie glücklich mir meine Ent⸗ 
würfe auch gedeihen mögen, immerdar will ich mich meiner Ab⸗ 
hängigkeit von dem Geber alles Guten erinnern. Nicht an meiner 

5 


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Geſchicklichkeit und Kunſt, nicht an meinem Fleiß und Sorgen, 
nein, an ſeinem Segen iſt wahrlich Alles gelegen. 

Wir ſtehen in immerwährender Abhängigkeit von 
Gott, jo wie ein Kind abhängig iſt von feinen Ael⸗ 
tern. Er ſorget für uns, wie die Mutter für ihren hilfloſen 
Säugling, wie der Vater für ſeinen unmündigen Sohn. Wie 
gehorſam auch das Kind den Aeltern ſein möge: kann es ſich 
durch dieſen Gehorſam ſeine Nahrung und Kleider verdienen? 
Was hat es ſeinen Aeltern zuvor gegeben, daß ſie ihm dafür 
wieder geben ſollten? — Ach, noch unendlich ärmer und hilfloſer 
ſtehen die Menſchen vor ihrem himmliſchen Vater da. Auch ihr 
frömmſter Gehorſam iſt endlich kein Verdienſt vor ihm. Nichts 
haben ſie, was ſie ihm geben und leiſten könnten. Ihm iſt Alles. 
Nur er gibt ihnen immerdar, und er gibt gern und ohne Auf⸗ 
hören. | 

Abhängig find wir, wie die unmündigen Kleinen von ihren 
Aeltern. Dies Verhältniß, weit entfernt mich niederzuſchlagen, 
ſoll nur meinen Leichtſinn, meinen Stolz auf eigene Macht ver⸗ 
mindern, aber dagegen meine Dankbarkeit, mein Zutrauen ver⸗ 
mehren. Warum verzage ich denn ſo ſchnell, wenn mir nicht 
Alles nach Wunſch gelingt? — Warum werde ich denn muthlos, 
wenn ich an den Gang der ſchweren Zeiten, an vielerlei mögliche 
Unglücksfälle, an das Schickſal meiner lieben Angehörigen denke, 
wenn ſie mich nicht mehr haben? — Bin ich nicht von meinem 
Gott vollkommen abhängig? iſt er nicht mein und der Meinigen 
Vater? hat er nicht bis auf den heutigen Tag noch Alles zum 
Beſten regiert? Ich zittere vor Menſchengewalt, zittere vor den 
Anſchlägen meiner Feinde. Aber find fie nicht abhängig von 
Gott, wie ich? Können fie ohne feine Zulaſſung einen Athem⸗ 
zug nehmen? Iſt er nicht der Gebieter des Verhängniſſes, und 
lenkt er nicht die Herzen der Fuͤrſten, wie der Bettler, durch das 
Zuſammenwirken der Umſtände und Ereigniſſe? 

O nein, meine Seele, verzage nie, auch wenn ſich deine 
Sorgen am ſchwaͤrzeſten um dich her drängen; auch wenn die 
Menſchen von dir ſcheiden, ohne Rath und Troſt zu hinterlaſſen. 
Du biſt ja von dem abhängig, der dich erſchaffen hat, der dich 


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liebreich bewahrte bis zur gegenwärtigen Stunde; der nie an 
Hilfe arm wird, der dir, oft ganz unerwartet, die beſten Freuden 
gab, und ſelbſt keinerlei Trübſal ſandte, das nicht für dich, zu⸗ 
weilen ohne dein Wiſſen, oder daß du es erſt lange nachher ein⸗ 
ſaheſt, die wohlthätigſten Wirkungen brachte. Freue dich deiner 
Abhängigkeit von dem Vater aller Welten! 

Wir ſind abhängig von Gott; er gibt uns, was wir bedürfen. 
Aber er gibt es uns nicht, ohne daß auch wir unſer Nachden⸗ 
ken, unſere Arbeit zu Hilfe nehmen. Nicht daß wir damit 
feinen Segen verdienen könnten — denn welchen Vortheil ſtifteten 
wir der Gottheit jemals durch unſere Mühe und Kunſt? — ſon⸗ 
dern daß wir dadurch zu größerer Vollkommenheit reifen möchten. 
Wie ein Vater ſein unmündiges Kind durch Geſchenke und Liebe, 
jo erzieht Gott das Geſchlecht der Menſchen, indem er es nöthigt, 
Gebrauch von den verliehenen Geiſtes- und Körperfräften zu 
machen. Dieſer Gebrauch unſerer Anlagen befördert deren Stärke. 
So gelangen wir von Zeit zu Zeit zu neuen Entdeckungen und 
Erfindungen, die uns nützlich werden, und wiederum andere 
veranlaſſen. So bringt die Hoffnung, unſern Zuſtand zu ver⸗ 
beſſern, uns zu einem thätigern, gemeinnützigern Weſen, zu 
größerer, gegenſeitiger Dienſtgefaͤlligkeit, zu freundlichern, brüder⸗ 
lichern Verhaltniſſen unter einander; zu lebhafterm Gefühl un⸗ 
ſerer Pflichten; zu hellerer Erkenntniß der Natur, und dieſe zu 
hellerer Erkenntniß des himmliſchen Vaters. So erzieht er uns, 
und durch die Wohlthaten, welche wir mit Anwendung unſerer 
Geiſtes⸗ und Lebensanſtrengungen gewinnen, empfangen wir am 
Ende eine größere Wohlthat, die wir Anfangs kaum vermuthe⸗ 
ten, einen veredeltern, erhabenern, frömmern Geiſt, würdig, in 


! der Ewigkeit Gefilden noch herrlichere Aernten zu halten. 


Aber bei dieſen Gefühlen kann ich es, als ein würdiges Kind 
Gottes, nicht bewenden laſſen; ſie müſſen Flügel meiner Andacht 
werden, mich dankbar anbetend zum Thron der unendlichen Gnade 
emporzuſchwingen; Flügel meiner Seele zu gottähnlichen Thaten. 
Denn das iſt die höchſte Andacht und Anbetung, daß wir Gott 
ſelbſt nachahmen, und wir in unſern kleinen Wirkungskreiſen ſo 


— 40 — 


beſeligend walten, wie er im unermeßlichen Reich der weten 
Schöpfung. 

Wie wir von ſeiner Huld, find auch andere Men- 
ſchen wieder von uns abhängig. Es iſt Alles in Allem 
von Gott ins Daſein ſo eng verkettet, daß das Größte vom Klein⸗ 
ſten, das Niedrigſte vom Höchſten in irgend einer Abhängigkeit 
lebt. So laßt uns denn göttlich denken, göttlich thun auch gegen 
diejenigen, die von uns abhängig ſind. 

Es ſind unſere Kinder und Angehörigen, die Gott unſerer 
Pflege und Vorſorge anvertraute. Laſſet auch ſie das ſüße Glück 
der Abhängigkeit von einem wohlwollenden Vater- und Mutter⸗ 
herzen fühlen. Und wie Gott durch den Segen des Herbſtes 
ſchon für Monden und Jahre unſere Erhaltung veranſtaltete, 
laſſet auch uns für die anſtändige Erhaltung der Unſerigen in 
den Tagen ihrer Zukunft Bedacht nehmen. 

Gedenke in den Tagen der Fülle an die Zeit des 
Bedürfniſſes, und im Frohgefühl deiner Geſundheit 
an den Schmerz des Krankenlagers! — Wie Mancher, 
der heute gewinnt, wirft mit verſchwenderiſcher Hand hinweg, 
was ſeine Kinder einſt mit thränenden Augen aus dem Staube 
und Koth hervorſuchen! — Zum Leben gehört wenig; fo wir 
Kleider und Nahrung haben, ſagt Paulus, laſſet uns genügen. 
Zum Glück gehört wenig; nur Mäßigung unſerer Begierden, nur 
Zufriedenheit mit dem, was wir haben, und Zuverſicht auf die 
Alles wohl leitende Hand der Vorſehung. Was wir ſelbſt mehr 
beſitzen, als zu unſerer Nothdurft erheiſcht wird, gehört nicht uns 
an, ſondern denen, die ſich nicht ohne Beiſtand erhalten können. 
Der Ueberfluß iſt ein Kapital, welches die Vorſehung uns an— 
vertraute, es zum Beſten Anderer zu verwalten. Der Menſch 
nenne, was ihm Gottes Güte für Lebenszeit lieh, immerhin ſein 
Eigenthum; es hat der Geiſt kein Eigenthum als ſeinen Willen, 
ſeine Tugend, ſeine Kraft; alles Uebrige raubt ihm ein Zufall, 
eine Nacht, eine Stunde, die wir Scheideſtunde des Lebens nennen. 

Wer daher den Ueberfluß, welchen er vom Himmel empfing, 
mit Leichtſinn vergeudet, um ſeinen Sinnen ein Feſt zu geben, 
veruntreut das Vermögen, das zur Erhaltung und Erquickung 


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anderer Weſen beſtimmt war. Er macht fich der Aernte unwür⸗ 
dig, die er erlebte. Nicht feine Geſchicklichkeit, nicht der Schweiß 
ſeines Angeſichts gab ihm das reichere Einkommen, ſondern der 
Wille und Segen des Höchſten, um denen mitzutheilen, die 
nichts haben. 

Seid ſparſam! Gedenket derer, die von euch abhängig ſind, 
ſo wie Gott auch eurer heute gedachte. Ihr Gemeinden, gedenket 
eurer Nachkommen, und hütet euch, das Gut zu zerſtreuen, 
welches für künftige Unglückszeiten geſammelt ward! Ihr Aeltern, 
gedenket eurer Kinder, die von euch Mittel zu fordern berechtigt 
find, durch die fie ihr Daſein frei und anſtändig friſten können. 
Nicht von euch, von Gott empfingen ſie das Leben; nicht für euch, 
für fie gab euch Gott mehr, als ihr nöthig hattet. 

Gedenket derer, die von euch abhängig ſind! Und 
wer iſt abhängiger, als der Arme, dem Alles fehlt, der Alles 
von der Gunſt ſeiner beglückten Mitmenſchen erwarten muß! 
Werdet Gott ähnlich, indem ihr ſeine Milde nachahmet, die er 
euch beweiſet. Er ſegnete euch auch für die Freude der Segen— 
loſen; er machte euch nur zu Austheilern ſeiner Gaben, die er 
ihnen aus eurer Hand beſtimmte. So lange noch, o Chriſt, in 
deiner Gemeinde eine Familie mit Durſt und Hunger kaͤmpft; 
ſo lange noch eine weinende Mutter da iſt, die nicht weiß, wie 
ſie ihre Kinder gegen den Froſt des Winters ſchützen könne; ſo 
lange noch ein Elender daſteht, der nicht findet, womit er ſeine 
Blöße bedecken ſoll; ſo lange noch ein Kranker auf hartem Lager 
ſchmachtend daliegt, der keinen pflegenden Freund kennt, dem 
keine Arznei die innern Leiden mildert, kein Balſam den Schmerz 
der Wunden löſcht: ſo lange iſt dein ſchwelgeriſches Gaſtmahl ein 
Verbrechen, denn Lazarus weint vor deiner Thür! — ſo lange 


it dein Seidengewand, dein köſtlicher Schmuck, in welchem du 
ſtrahlſt, ein Zeuge deiner Grauſamkeit und der Verworfenheit 
deines Gemüths. — Denn jene Leidenden, o vergiß es doch nicht, 


ſind Gottes Kinder, und Gott gab dir den Ueberfluß, daß du ihn 
im Namen des allgemeinen Vaters den bedürfenden Brüdern und 
Schweſtern austheilen ſolleſt! — Denn deine Prachtkleider, deine 
Gaſtmahler, o vergiß es doch nicht, find eine Verſpottung des 


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Himmels und ſeiner Gebote, Verſpottung der Menſchheit und 
ihrer Rechtſame auf dich! Denn dein Schmuck und dein Pran⸗ 
gen, o vergiß es doch nicht, iſt werthloſer Staub, Beute flüch⸗ 
tiger Stunden; aber die dankbare Thrane eines einzigen Geretteten 
glänzt dir einſt in der Ewigkeit noch wie ein Stern aus der dun⸗ 
keln Vergangenheit, und der Seufzer durch dich beglückter Weſen 
tönt vor Gott, dem Allvergelter! — So lange noch in deiner 
Gemeinde ein einziger Menſch das Nothwendigſte entbehren muß, 
haſt du kein Recht zum Ueberfluß; ſo lange noch ein Unglücklicher 
jammert, dem durch dich geholfen werden könnte, haſt du kein 
Recht zur Freude. f 

Gedenket derer, die von euch abhängig ſind. — Gott machte 
euch, die ihr begüterter ſeid, als ſie, nicht nur zu Verwaltern 
ihres Antheils an dem allgemeinen Segen, welchen er ſeinen Ge⸗ 
ſchöpfen beſtimmte, ſondern auch zu ihren Vormündern und Er⸗ 
ziehern. Und ſo wie die Weisheit Gottes euch durch das Bedürfniß 
mancherlei Nothwendigkeiten anſpornte, eure Kräfte in edler Thaͤ⸗ 
tigkeit zu eurer und anderer Menſchen Wohl zu entfalten: ſo 
ſollet ihr auch diejenigen, die von euch abhängig ſind, zum weiſen 
Gebrauch ihrer Kräfte anleiten. 

Im Schweiß des Angeſichts föllſt du dein Brod 
eſſen! war der Ruf Jehova's zum Geſchlecht der Sterblichen an 
den Schwellen des verlornen Paradieſes. Der Müßiggänger iſt 
des Lebens unwürdig, weil er es nicht zu leben weiß. Wie es 
dem Reichſten zum Schimpf gereicht, ſeine Tage nutzlos für die 
Welt verfließen zu laſſen, als wäre er nur ein Thier, welches 
ſeinen Leib für den Tod mäſtet: ſo iſt auch der Müßiggang das 
ſchwerſte Verbrechen der Armen. — Der unthätige Bettler iſt 
der frechſte Verſchwender, denn er verſchleudert die Schätze einer 
unwiederkäuflichen Zeit. Wer durch Almoſen und Spenden den 
Müßiggang kräftiger Bettler unterſtützt, macht ſich ihres Ver⸗ 
brechens theilhaftig und wird Gehülfe ihres Seelenmordes, Be— 
förderer aller Laſter, zu denen Müßiggang lockt. 

Reiche kein Almoſen dem, der es nicht verdient. 
Wehre der Bettelei durch wohlthaͤtige Anſtalten und Einrichtun⸗ 
gen, vermittelſt derer auch der Verdienſtloſeſte Arbeitsgelegenheit 


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empfängt. Ob du dein Gut in einen grundloſen Strom wirfit, 
oder in die Hand eines Faulen, Beides iſt gleich — du beraubſt 
den Staat, machſt den Fleißigen ärmer und fütterſt verborgene 
Laſter groß. Ungeheure Summen werden in Städten und Doͤr⸗ 
fern jährlich mit Almoſen verſchwendet, die man den Bettlern 
hinauswirft. Zwar achtet die einzelne Haushaltung der einzelnen 
kleinen Gaben nicht; aber aus beſtändig fallenden Tropfen wer⸗ 
den Quellen, aus Quellen Bäche und Ströme. Wo Almoſen, 
aus unverſtändiger Barmherzigkeit, am freigebigſten geſpendet 
werden: da hört die Armuth nicht auf, ſondern, die Erfahrung 
lehrt es, die Bettelei wächſt. 

Befördere in deiner Gemeinde Einrichtungen jeder 
nützlichen Beſchäftigung der Armen, und wo dieſe An- 
ſtalten mangeln, dringe, daß ſie entſtehen — dies iſt Almoſen, 
das vor Gott gilt! Und vermagſt du es nicht, ſo gehe und forſche 
du ſelbſt von Hütte zu Hütte; belauſche hilfloſe Familien in ihrem 
ſtillen Jammer; werde ihr Rathgeber; verſchaffe ihnen Mittel, 
ſich durch Arbeit zu nähren; wirb ihnen Freunde an, ſei ihr 
Schutzengel in That und 9 780 Dies iſt Almoſen, das vor 
Gott gilt. 

Die Frömmigkeit unſerer Vorfahren ſtiftete hin und wieder 
reich begüterte Armenhäuſer — aber das übelgeleitete Mitleiden 
verwandelte dieſelben leider nur zu oft in Pflegehäufer der Faul⸗ 
heit und Laſter. Am gefahrvollſten wird die Luft derſelben den 
unſchuldigen, verwaiſeten Kindern, welche darin wohnen. Sie 
verlaſſen nur zu oft das Haus der Barmherzigkeit körperlich wohl⸗ 


genährt, an der Seele vergiftet. Nur zu oft ſind die Zöglinge 


der Waiſenhäuſer die untauglichſten Glieder der bürgerlichen 
Geſellſchaft geworden. Verbeſſere das Schlimme! Dies iſt Al⸗ 
moſen, das vor Gott gilt. 

In tiefſter Abhängigkeit von dir leben diejenigen deiner Mit⸗ 
erſchaffenen, welche ſich ſelbſt nicht helfen können: kranke 
Arme; Greiſe mit Gliedmaßen, die das Alter ent- 
kräftete; Kinder ohne Schutz, ohne Rath, ohne Er- 
ziehung, ohne Nahrung. — O weigere dieſen deine Liebes- 
gabe nicht! Du hörſt von ihnen, du erblickſt ſie — denke, es iſt 


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die ewige Vorjefuug, die ſie vor dein Ohr und Auge führt. Du 
biſt auserkoren, ihr Vater, ihre Mutter, ihr Fürſprecher zu ſein. 
Vergiß ſie nicht, Gott hat dich auch nicht vergeſſen. Nein, mit 
dem Pfenning, welchen du ihnen für ihren Gotteslohn hinfchleu= 
derſt, iſt es nicht abgethan — dies iſt ja kein Almoſen, ſondern 
nur ein Loskauf vom Anblick des Elendes, oder eine Ehrenſchuld, 
die du deinem guten Ruf abträgſt. Nein, ſei barmherzig! — 
Kaufe ihnen mit deinen Juwelen eine Freudenthräne; mache mit 
deinen überflüſſigen Gewändern dem dürftigen Kranken noch ein 
weiches Sterbebette; erquicke dem nothleidenden Greiſe noch die 
letzten Stunden ſeines mühſeligen Lebenslaufes mit dem Wein, 
den die Gäſte ſonſt verſchwendeten, mit den Leckerbiſſen, die ſie 
ohne Eßluſt verderbten! Gib dem verwahrloſeten, bettelnden 
Kinde einen Pflegevater, eine Mutter, daß es Jugendfreuden 
wieder empfinde. Die Erhaltung dieſer Waiſe koſtet nicht mehr, 
als die Aufopferung einiger Luſtbarkeiten im Jahr, welche dir 
nie ein ſo frohes Andenken in der Sterbeſtunde gewähren, als 
der Anblick des weinendſegnenden Auges deines Schütte 
Das iſt Almoſen, das vor Gott gilt. 

Habe ich auch, o Vater, o Du Segenvoller, Du Immer⸗ 
gebender, habe ich auch bisher geleiſtet, was ich hätte leiſten 
müſſen, um mich Dein würdiges Kind zu nennen? — Habe ich 
auch den Zweck meines durch Dich ſo vielfach beglückten Daſeins 
und Deiner Segnungen erfüllt nach meinen Kräften? — Habe 
ich mich nicht oft damit hartherzig gemacht, daß ich glaubte, ich 
habe nur ſelbſt kaum für alle meine verſchiedenen Bedürfniſſe 
genug? Ach, warum machte ich mir denn ſo vielerlei entbehrliche 
Bedürfniſſe, daß ſie einen großen Theil des Segens verzehrten, 
mit dem Du mich erfreuteſt? Warum iſt nicht, die Noth der 
Brüder zu mildern, die Thraͤnen der Verlaſſenen zu trocknen, 
mein köſtlichſtes Bedürfniß? 

Wohl, Vater, wohl, es ſoll werden! — Ich will für meine 
armen Brüder ärnten auf Erden, und mit ihnen Deinen Segen 
theilen. Durch ihre Gebete ärnten ſie dann für mich bei Dir 
ein. — O ſchöner Tauſch! was ich dem Geringſten meiner Brüs 
der gethan habe, habe ich Gott gethan — habe ich mir ſelbſt ge— 


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leiſtet. Freudiger bete ich dann zu Dir: Und gib mir mein täg- 
liches Brod! — ich bitte es auch für meine Brüder. 

O Du, dem ich Alles danke, von welchem jeder Augenblick 
meines Daſeins, mein und der Meinigen Freude und Wohl ab⸗ 
hängig iſt — ſei bei mir immerdar mit Deiner Gnade und Barm⸗ 
herzigkeit, wie ich, ſo weit mein Wirkungskreis geht, auch keinen 
Leidenden ohne Barmherzigkeit verlaſſen will! Amen. 


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6. 
Muth zur Tu gen d. 


1. Petri 3, 13. 14. 


Ich will auf ihn nur ſchauen, N 
Feſthalten an ſein Wort; 
Was ſollte mir denn grauen? f 
Er iſt mein Schild, mein Hort! 

Nach Recht und Wahrheit ſtreben, 

In Jeſu Geiſt zu leben: 

Iſt das nicht fein Gebot? 

Ha, ſollt' ich darum beben, 

Wenn alle Welt mir droht: 

Ich ſollte in Gewittern 

Vor Menſchenrache zittern ? 

Nein, möge eine Welt vergehn, 
Was Recht iſt, ſoll als Recht beſtehn! 

Ob dornig oder enge 
Der Weg der Wahrheit ſei, 
Verlaſſen von der Menge: 

Ich wall ihn, Gott, getren; 

Und folgſam ſeinem Worte 

Will ich auf ihn nur ſehn, 

Und durch die enge Pforte 
Zur beſſern Welt eingehn. 

Und wie ich wall', erweitert 

Die Ausſicht ſich umher, 

Und ſehe dann erheitert, 

Was mich geſchreckt, nicht mehr. 


Sprich zum Adler: Verlaſſe dein Felſenneſt, königlicher Vogel, 

und die Nachbarſchaft der Wolken; ſchleppe deinen Leib im Staub 
des Erdbodens! Und zur Lilie ſprich: Edle Blume, trage Diſteln 
und werde ſtinkend, wie die Giftpflanze in dem ungeſunden Schat⸗ 


ten! Dennoch wird die edle Blume ihren ſüßen Wohlgeruch aus⸗ 
gießen in die Lüfte, und der Adler wird emporfliegen zur Sonne. 
Denn Thier und Pflanze haben ihr Geſetz, dem folgen ſie und 
können nicht anders. Ihr Geſetz haben ſie von der Hand des Herrn, 
darum ſind ſie, was ſie ſein ſollen, und werden nicht anders. 
Und hat nicht auch der Geiſt des Menſchen ſein Geſetz von 
der Hand des Herrn empfangen? Was er fein ſoll, weiß er; wo 
hin er berufen iſt, weiß er. Aber ſelten iſt er, was er ſein ſoll; 
und Viele ſind berufen, aber Wenige ſind auserwählet. 

Willſt du den Grund der Verkehrtheit des heutigen Menſchen⸗ 
geſchlechts kennen? Es gleicht einer Pflanze, deren Gipfel, der 
unſterbliche Geiſt, ſich in den Himmel emporſtrecken ſoll, und 
deſſen Wurzel, der Leib und ſein irdiſches Alles, in die Erde zu 
dringen beſtimmt iſt. Aber dieſe Gottespflanze, in dem Garten 
der unendlichen Schöpfung, verkümmert in ſich ſelber, und breitet 
nur wuchernde Wurzeln in die Erde aus. Was niedrig, gemein, 
was thieriſch, was ſinnlich iſt, das ergötzt den großen Haufen 
der Leute; dafür leben, dafür ſterben ſie. Es iſt ein feiges Volk, 
das weder Muth zur Tugend, noch zum Laſter hat. Es fürchtet 
nur, wie ein Sklave, die Geißel, darum meidet es das Böſe, und 
hofft ſich auf Erden und jenſeits des Grabes gute Tage zu bereiten, 
darum preiſet es das Gnte. Da iſt keine innige Liebe der Tugend, 
da iſt kein inniger Abſcheu des Laſters. Nur Hang zum Gewinn, 
zum Wohlleben, zur Macht, zu einem flüchtigen, Ruhm des 
Namens, das iſt der Hebel, welcher Alles bewegt und aus der 
Todtenruhe hervorreißt. Wie viele ſind unter Tauſenden, die 
für Recht und Wahrheit und Freiheit und Unſchuld und heiligen 
Glauben freiwillig Vermögen, Menſchenehre, Amtsſtellen und 
das Leben ſelbſt aufopfern möchten? Aber in Noth und Tod 
gehen ſie, um ihren Wohlſtand zu retten; in alle Gefahren für 
ein Stückchen Gold oder eine Hoffnung zu Lobpreiſungen von 

Ihresgleichen, und wagen ihr Leben daran, um bequemlich leben 
zu können nach ihrem Sinn. 

Sie ſchwanken zwiſchen Weisheit und Thorheit; ſind nicht 
kalt, nicht warm; wollen Gott dienen und dem Mammon zugleich, 
nach ihren Lüften leben und das ſchönſte Loos der Ewigkeit zu⸗ 


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gleich fordern. Der Augenblick der Gegenwart ift ihr Abgott und 
ihr Geſetzgeber, und das Urtheil der blinden Menge ihre Richt⸗ 
ſchnur. Sie laſſen ihre Kräfte ſchlafen, ihr beſſeres Gefühl ver⸗ 
ſtummen, um ſich nicht auszeichnen zu müſſen, und mit dem 
großen Haufen den breiten ebenen Weg der Gemeinheit wandern 
zu können. Denn ſie ſind verzagt, weil bei ihnen Menſchenfurcht 
über Gottesfurcht ſteigt. Sie preiſen die Großen des Alterthums 
in ihren Schauſpielen, Reden und Schriften; aber wer unter 
ihnen groß ſein wollte, wie jene, und für Recht und Wahrheit 
ſich ſelbſt aufopfern, und lieber untergehen, als Unrecht, Falſch⸗ 
heit und ſelbſtſüchtige Tücke anketten möchte, wird Schwärmer 
geheißen und als Sonderling verſpottet. Es iſt für fie ſchänd⸗ 
licher, arm zu ſein, als boshaft; gefährlicher, ein zerriſſenes Kleid, 
als verdorbene Grundſätze zu haben. 

Dieſer Ton, dieſer Geiſt, dieſe Buhlerei mit der Gemeinheit 
macht ſelbſt diejenigen irre, in denen noch lebendige Erkenntniß 
des Beſſern lebt. Das allgemeine Geſchrei will die Stimme der 

Wahrheit überlärmen in ihnen. Weil Alles wo anders hin⸗ 

ſtrömt, werden ſie zweifelhaft, ob ſie auf richtigem Wege gehen, 

da fie jo einſam find. Und hören fie gleich alltäglich: was Jeſus 
Chriſtus gelebt und gethan, ſei der Menſchheit Vorbild, und 
göttlich ſein Thun und Leben geweſen, erblicken fie doch im Leben 
und Thun der Menſchheit alltäglich das ſchnoͤde Gegentheil von 
Allem, was der Göttliche that und lehrte. 

Nein, es iſt an der Zeit, daß ſich auch die Edeln wieder er⸗ 
heben, und wie Jeſus Meſſias, wie die Jünger, wie die Heiligen 
und Großen der Vorwelt, die ewige Wahrheit hoher, als die 
Flitterpracht der Lüge, das ewige Recht höher, als den Stolz 
der Gewalt, die ewige Tugend höher als Ueppigkeit, Rang und 
Weihrauch feiler Schmeichler achten. Nicht wo der große Haufe 
hintreibt, gefeſſelt und gezogen von der unreinen Leidenſchaft, 
ſondern wohin Wahrheit und Religion und Gewiſſen wirken, da 
iſt der Weg des Lebens. Nicht wie die Welt will, wie Gott will, 
iſt es recht! 

Wir wären beglückter, wären wir rechtſchaffener; wir wären 
rechtſchaffener, wären wir müthiger, es zu fein; wäre uns der 


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erhabene Gedanke des Wahren und Rechten mehr werth, als eine 
erhabene Stelle unter Mitbürgern; einfache Weisheit ſchätzbarer, 
als kluge Verſchmitztheit, und eine heilige That mehr, als der 
Gewinn eines Goldſtücks! 

Wer iſt, der euch ſchaden könnte, ſo ihr dem Guten 
nachkommt? Und ob ihr auch leidet um der Gerechtig— 
keit willen, ſo ſeid ihr doch ſelig. Fürchtet euch aber 
vor ihrem Trotzen nicht, und erſchrecket wicht (1. Petri 
3, 13. 14.) 

Alſo ruft uns das göttliche Wort zu. Muth denn alſo zu 
dem, was göttlich iſt! Mit dem Göttlichen iſt Gott, wer will 
wider uns ſein? Fürchte nicht den Laſterhaften, den Frevler, den 
Spötter; mag er läſtern, freveln, ſpötteln. Du, edler Menſch, 
vollbringe ohne Scheu, was Gott gebeut, was Jeſus lehrt, was 
dein Gewiſſen heiſcht, und dein Muth wird den Böſen ſchrecken, 
und er wird ſich zuletzt feiner Klugheit wie feiner Thorheit ſchaͤmen. 
Er kann trotzen, aber ſchaden nimmer. Wer das Böſe möchte, 
kann trotzen, aber er iſt klug; feig iſt die ſchlaffe Selbſtſucht; 
feig der von ihr beherrſchte Haufe. Darum iſt es an der Tugend, 
daß ſie ſich in ihrer herrlichen Macht offenbare. Biſt du eines 
edeln, heiligen Entſchluſſes voll, und des Gottgefälligen in deinem 
Unternehmen ſicher: dann vollbringe es ohne Furcht. Gott iſt 
mit dir im Bunde; im Bunde mit dir ſelbſt das zitternde Gewiſſen 
der Böſen, darum wirſt du im Kampfe wider ſie obſiegen. 

Siehe an die Leute, was wollen ſie? Sie tragen Schalkheit 
im Herzen, aber Edelmuth auf den Lippen; denn ſie ſind feig, 
weil ſie ſchlecht ſind, darum wollen ſie ſcheinen, was ſie nicht ſind. 
Sie betheuern Freundſchaft, und lieben doch keinen Andern, als 
nur ſich ſelber. Das wiſſen ſie alle, darum traut Keiner dem 
Andern, und ſind unter ſich voll Argwohns. Das Reich der 
Böſen ift immerdar unter ſich uneins; nur der Eigennutz bewegt 
fie, aber doch konnen fie der Tugend nicht ihre Ehrfurcht ver⸗ 
ſagen. Auch die Teufel glauben einen Gott, und zittern. Darum 
treiben die Schwächlinge im Dunkeln ihren eigennützigen Handel, 
und brüften ſich öffentlich mit gemeinnützigen Abſichten; erſchleichen 
Gewalt und Chrenſtellen, um zu glänzen, und ſprechen rührend 


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von des Volkes Wohlfahrt, als ihrer wichtigiten Sorge; fordern 
zu Opfern für alles Gute auf, und treiben im Stillen Wucherei, 
Betrug, Erbſchleicherei und Verfälſchung; reden von Gewiſſen⸗ 
haftigkeit, und brechen heimlich Eide und Gelübde; glänzen geiſt— 
reich und durch muntere Laune und Witz in Geſellſchaften, und 
find in ihrem Haufe die Plage der Hausgenoſſen; prahlen über- 
müthig im Glück, und kriechen zaghaft zurück, wenn es miß⸗ 
lingt; ermahnen zur Kühnheit, und verſtecken ſich hinter den Be⸗ 
herzten; find allezeit da, wenn die Gefahr vorüber iſt, als hätte 
kein Anderer ſo viel gethan, und reißen die Frucht des Sieges 
und den Lohn des Siegers an ſich; ermahnen zur Dankbarkeit, 
und vergelten mit Undank; wollen eine Welt vereinigen, und ent⸗ 
zweien ſich um ein Senfkorn. 

Das ſind die Leute, welche das große Wort führen, die 
Zwerge hinter den Masken der Rieſen, die Tonangeber, die Acht- 
baren, denen nichts heilig iſt, als ihr Vortheil, und welche Re— 
ligioſität bald zum Deckmantel einer Schandbarkeit, bald zum 
Leitzaum des Volkes machen, um Gewinn zu haben, und im 
Verborgenen über die Leichtgläubigkeit aller Betrogenen zu lachen, 
und ſich ihrer großen Liſtigkeit zu freuen. — Das ſind ſie, Edler, 
mit denen du zu kämpfen haſt; das ſind ſie, Gerechter, die deiner 
ſpotten werden, wenn du dich ſelbſt verläugneſt, um dem Bei⸗ 
ſpiel Jeſu, der Jünger und aller Heiligen und Großen der Vor⸗ 
welt zu folgen; die dich verfolgen werden, wenn du ihre Ränke 
vereitelſt, und die Wahrheit an die Stelle der Lüge ſtellſt; die 
dich fürchten werden, wenn fie erkennen, daß du in der Wirklich- 
keit biſt, was ſie nur ſcheinen möchten; die dir weichen werden, 
wenn ſie Ueberzeugung empfangen, daß du ſie nicht mehr fürchteſt. 

Muth denn zur Tugend! Wer iſt, der euch ſchaden könnte, 
ihr Kämpfer Gottes, ſo ihr dem Guten nachkommet? 

Dieſen Muth zur Tugend verleiht das wahre Chriſtenthum; 
nicht das falſche Chriſtenthum, noch das Namens⸗Chriſtenthum 
der blinden, verwahrloſeten, durch Laſter und Eigennutz entnerv⸗ 
ten Menge, welche Herr, Herr! ruft, und Gottes Gebot nicht 
übt; Gott zu lieben ſchwört, und den Nachſten haßt; Gott an⸗ 

betet und den Leidenſchaften des Fleiſches dient. Nicht das Chri⸗ 

a III. 3 


u, BD 


ſtenthum der heutigen Welt gibt den Muth zur Tugend, ſondern 
das Chriſtenthum der erſten Jünger, die für die Wahrheit des 
Glaubens, für das Recht des Geiſtes, für die Heiligkeit der Tu⸗ 
gend Schmach und Noth, Armuth und Verfolgung, Hohn und 
Tod mit ſtillem, ſtandhaftem Sinn duldeten. 

Wer mir folgen will, ſprach der Meſſias Jeſus, der verläugne 
ſich ſelbſt, nehme ſein Kreuz auf ſich und folge mir nach. Denn 
wer ſein Leben erhalten will, der wird es verlieren; wer aber das 
Leben verliert um meinetwillen, der wird es erhalten. (Luk. 9, 
23. 24.) In dieſen wenigen Worten liegt der Schlüſſel zum Ge⸗ 
heimniß der Unüberwindlichkeit, zum Sieg des Guten über alle 
Macht des Schlechten. — Ergreife das Heilige, und vollbringe 
es, unbekümmert um dich ſelbſt; folge dem Muſter Jeſu nach, 
und verläugne dich ſelbſt. | 

Verläugne dich ſelbſt; das heißt, wenn du etwas Rechtſchaf⸗ 
fenes zu thun weißt, etwas Wohlthätiges und Gemeinnütziges, 
frage nicht erſt: welchen Vortheil werde ich davon haben? oder 
was werden die Leute davon denken? Sondern, weil das Gött⸗ 
liche göttlich, das Rechte recht iſt, darum ſoll es geſchehen. Be⸗ 
rechne nicht zuvor den allfällig daraus fur dich erwachſenden 
Schaden; nicht, ob du dir mächtige Perſonen dadurch zu Feinden 
machſt; nicht, ob du Amt und Brod verlierſt; nicht, ob man dich 
verſtoßen wird. Du ſollſt kein Anſehen, kein Vermögen, keine 
Bequemlichkeit, keine Menſchenfurcht groß achten, ſondern nur 
was recht und gut iſt. Du ſollſt bei dem, was recht iſt, nicht 
auf dich ſelbſt, ſondern auf Jeſum und deine Pflichten ſehen, du 
ſollſt ſelbſt das Leben verachten. Erſt wenn du das kannſt, biſt 
du wahrer Chriſt, wahrer Nachfolger des Göttlichen! Wer keine 
Furcht hat, Alles einzubüßen, den müſſen alle fürchten, die 
nichts wagen und verlieren wollen. Er iſt ihr Beſteger. Denn 
wer ſein Leben erhalten will, der wird es verlieren. Wer um ein 
gemächliches, irdiſches Wohlbehagen dem höhern geiſtigen Leben 
entſagt, der hat die Ewigkeit um einen Augenblick verkauft. Wer 
aber fein Leben verliert um Jeſu willen, der wird es erhalten. 
Wer ein nichtiges, flüchtiges Gut verachtet um des Heiligen 


a 


willen, der hat ein Staubförnchen verloren und eine beſſere Welt 
erobert. Darum thue Recht und ſcheue Niemand. 

Und ob du gleich leideſt, um der Gerechtigkeit willen, ſo biſt 
du dennoch ſelig! Wer durch Verbrechen und Ranke Ehren und 
Würden erworben hat, meinſt du, er könne ſich derſelben freuen? 
Selbſt der gekrönte Sünder ſchaudert unter ſeinem Purpur vor 
der Gewalt der Wahrheit und des Rechts und vor dem Augen⸗ 
blick der Vergeltung, der endlich Jedem erſcheint. Meinſt du, 

wer durch Betrug, Meineid, Anmaßung fremden Eigenthums 
und ſchimpfliche Hinterliſt großes Vermögen geſammelt hat, er 
ſei ſelig in deſſen Beſitz? Nein, das Gold wird ihm gleichgültig, 
aber nicht das Bewußtſein feiner Schändlichkeit, in der er es er⸗ 
worben hat. Gern möchte er Gott aus dem Weltall hinweg⸗ 
läugnen, um ſich ſelber zu beruhigen; aber nicht einmal den 
Schmerz des Gewiſſens kann er aus ſeinem Herzen fortläugnen. 
Seine Weine konnen ihn berauſchen, nicht ermuntern; fein Glanz 
kann ihn blenden, nicht beglücken. Säheſt du den Sünder in 
der Stunde ſeiner Verborgenheit und Einſamkeit, du würdeſt 
um all ſein Gold nicht einen ſeiner ſchrecklichen Augenblicke an⸗ 
nehmen wollen. 

Du aber, Gottesmenſch, ob du gleich leideſt um der Gerech⸗ 
tigkeit willen, wirſt dennoch ſelig ſein. Und verſtieße dich dein 
Vaterland: o, dem Tugendhaften ſteht überall eine Heimath 
offen. Und verlöreſt du die Gunſt derer, die Macht haben; ver⸗ 
löreſt du deine Aemter, Würden und angenehmen Verhaͤltniſſe: 
was liegt an Ehren, die keiner Ehre werth ſind? Aber die Tu⸗ 
gend wird dir überall Bewunderer und Verehrer erwecken, und 
eine Hochachtung, welche keine Obrigkeit, kein König ſich mit 
aller Macht erzwingen kann. Und verlöreſt du, um der Gerech⸗ 
tigkeit willen, Hab und Gut und müßteſt in Armuth einhergehen, 
und dein Brod auf fremder Erde ſuchen: o, das innere Hochge⸗ 
fühl würde dir den ärmlichen Biſſen zum ſchwelgeriſchen Gaſt⸗ 
mahl verwandeln; in deiner Dürftigkeit würdeſt du erhabener ſein, 
als ein Weltgebieter. Du hätteſt Zufälligkeiten verloren, die 
im:mmer das Spiel des Erdenglücks find, aber dich ſelbſt, dein 
wahres Weſen gefunden; du wäreft arm, von Allem verlaſſen, 


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aber dennoch ſelig. Freudig würdeſt du auf deinen Gott, 590 
ſtolz jedem Menſchen ins Angeſicht ſchauen. Deine Sieger wür⸗ 
den die Geſchlagenen, du Verfolgter würdeſt der Triumphirer 
ſein. Mit David würdeſt du in Zuverſicht ſagen: Gott erquicket 
meine Seele; er führet mich auf rechter Straße, um ſeines 
Namens willen. Und ob ich ſchon wandere im finſtern Thal, 
fürchte ich kein Unglück, denn Du biſt bei mir; Dein Stecken 
und Stab tröſtet mich. Du bereiteſt vor mir einen Tiſch gegen 
meine Feinde. Du ſalbeſt mein Haupt mit Oel, und ſchenkeſt 
mir voll ein. Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein 
Leben lang, und ich werde bleiben in der Wohnung meines ewigen 
Vaters immerdar. (Pſalm 23, 2 — 6.) N 

Wer nun iſt, der mir ſchaden könnte, wenn ich dem Guten 
nachkomme? Und ob ich auch leide der Gerechtigkeit willen, ſo bin 
ich doch ſelig. Darum will ich mich nicht vor ihrem Trotzen fürch⸗ 
ten, und nicht erſchrecken. Muth zur Tugend, o mein Herz! 
Dem Rechtſchaffenen fehlt der Triumph nie. Zittere nicht, der 
gerechten Sache wegen deinen Wohlſtand, dein Anſehen zu ver⸗ 
lieren, ſondern zittere für die gerechte Sache allein! Mußt du 
nicht, ſei es nun einen Tag oder ein Jahr ſpäter oder früher, 
deinen ganzen irdiſchen Beſitz hinterlaſſen, und nackt aus dem 
Leben treten, wie du nackt hereintrateſt? Aber die Heiligkeit deiner 
Sache bleibt, dem Gerechten folgen ſeine Werke nach. Zittere 
nicht, mein Herz, wo es die Sache Gottes und der Menſchheit 
angeht. Das Zittern iſt an den Böſen, an den Eigennützigen, 
die für den Augenblick, für den Staub, für Metall, für den 
Gaumenkitzel, für die Heuchelei falſcher Ehrerbietung leben, ohne 
die Ahnung von einem höhern Gut, von Kleinodien des Geiſtes 
zu haben, für welche das Leben abzuwerfen ein Spiel iſt. 

Wo du, was recht iſt, erkennſt, verläugne dich ſelbſt, und 
bekenne es unerſchrocken und ſtandhaft. Wo ein Bekenner der 
Wahrheit redet, handelt wider die Falſchheit, ſtehe ihm bei; halte 
mit ihm; dulde, leide, wie er; ſein Lohn vor Gott wird auch der 
deinige ſein. Bekenne Jeſum, er wird auch dich einſt bekennen! 

Biſt du der Juden König? fragte von feinem Richterſtuhl 
herab Pilatus der Landpfleger den Meſſias, der im erhabenen 


Stolz der Unſchuld vor ihm ſtand. Rings ſtand der geblendete, 
wankelmüthige, lärmſüchtige Pöbel, rings die rachebrennende, 
feige Schaar der Ankläger und Feinde der Wahrheit, der Tugend 
Verleumder; fern ſtand Golgatha, die drohende Richtſtaͤtte; in 
des Schwächlings Pilatus Blicken der Wunſch, den Edeln zu 
retten, an welchem er keine Schuld fand; fern umher der ſchüch⸗ 
terne Haufe der Jünger, der weinenden Freunde. Biſt du der 
Juden König? fragte Pilatus, und hoffte, eine der Welt übliche 
Klugheit, ein feiges Nein, werde den erhabenen Beklagten retten. 
Chriſtus Jeſus aber antwortete, und ſprach: Du ſagſt es! 

O Gottes Sohn, o Heiland der Menſchheit! Für mich, auch 
für mich haſt Du Dich der Schmach und dem Tode hingegeben. 
Wie? ſollte ich nicht mit gleich göttlichem Muthe auch mich fortan 
verlaͤugnen, wenn es darauf ankommt, Dich und die Tugend zu 
bekennen? Vor weſſen Drohen ſollte ich denn erſchrecken, wenn 
mir vor dem Weltrichter nicht bange iſt? Wer kann mir denn 
Glück geben oder rauben? Wahrlich nicht Menſchengunſt oder 
Menſchenhaß. Meine innere Seligkeit iſt doch wohl unabhaͤnigig 
von Menſchenlaunen! Wer kann mir Ehre geben, oder Ehre 
nehmen? Doch wohl nicht der Einfall eines Großen, die Ge— 
wogenheit oder Ungnade eines Obern, oder das Urtheil des ge- 
meinen, leichtgeführten Volkshaufens? Nein, meines Geiſtes 
ewige Ehre iſt die Tugend, die vor Gott gilt. Meinen Leib kön— 
nen ſie tödten, aber den Geiſt nicht. Das Recht verdrehen kön- 
nen fie mit Bosheit, die Unſchuld verdächtigen in Feigheit; 
aber mögen ſich die ſchwärzeſten Wetterwolken vor die Sonne 
lagern, ſie können nicht deren Strahlen auslöſchen. Die Maje- 
ſtät der Wahrheit ſtrahlt nach Jahrhunderten noch über den 
Gräbern der Bekenner. s 


7. 


unterlaſſung des Guten. 
Jak. 4, 17. 


Wir fehlen Alle viel und ſehr, 
Du Vater aller Seelen! 

Ach, aller unſ'rer Sünden Heer, 
Wer kann und will fie zählen? 
Wie oft vergeſſen wir, o Gott, 
Dich und Dein väterlich Gebot, 
Die Würde unſers Lebens! 

Wer kennt ſein Herz und ſchämt ſich nicht 
Vor Deinem Angeſichte! 

Wer ſcheut ſich nicht vor Deinem Licht, 
Bebt nicht vor dem Gerichte, 

Das, Herr, Herr, Deine Heiligkeit, 
Dein Ernſt dem ſchlaffen Sünder dräut? 
Wer kann vor Dir beſtehen? 

Nicht Einer! — Dennoch fchoneft Du, 
Und willſt nicht Tod, willſt Leben; 
Schauſt uns mit Vater-Langmuth zu, 
Und willſt ſo gern vergeben! 

O Du, der ſchonen will und kann, 
Wir beten Dich mit Thränen an, 
Vergebender Erbarmer! 


— 


Wenn wir vom Werthe der Menſchen reden, von der Herzens⸗ 
güte unſerer nähern oder entferntern Bekannten, wie unſicher iſt 
da nicht oft der Maßſtab, welchen wir waͤhlen! — Ja, ſelbſt 
über unſern eigenen Werth haben wir nur zu oft die irrigſten 
Begriffe, indem wir uns mit Andern vergleichen, die etwa dieſen 
oder jenen Fehltritt begingen, und wo in uns, wenn gleich nicht 
jener von Jeſu mit Recht getadelte Phariſäerſtolz, doch das Ge⸗ 
fühl auffteigt, in welchem wir ſagen möchten: Ich danke Dir, 
Gott, daß ich nicht bin, wie dieſer da! 

Gewöhnlich halten wir uns ſchon befugt, denjenigen für 
ſchlechter gelten zu laſſen, der irgend eine That begangen hat, die 
wir noch nicht begangen haben, auch wirklich bei unſerer gegen— 
wärtigen Gemüthsſtimmung und Lage nicht begehen möchten, 
oder in unſern wirklichen Verhaltniſſen nicht thun könnten. — 
Sind wir darum beſſer, als der anerkannte Fehlbare? 


er 


Gewiß gibt es viele Menſchen, die in ihrer Art und in ihren 
Umſtänden tugendhaftern Gemüths ſind, als wir, und doch durch 
ein grobes Vergehen ſowohl die Verachtung ihrer Mitbürger auf 
ſich ziehen, als auch obrigkeitliche Strafen verdienen können. 
Theils durch Erziehung, theis durch ihr Temperament, theils 
durch allerlei zuſammenwirkende Ereigniſſe werden ſie wider ihren 
beſſern Willen zu Vergehungen geleitet, vor denen uns unſere 
Erziehung, unſer Temperament, unſer Schickſal vollkommen 
ſicher geſtellt hat. Sind wir darum beſſer, als fie? Haben wir 
ſchon die gefaͤhrlichſte Stunde der Verſuchung erfahren, und glüd- 
lich darin unſere Grundſätze gegen den Drang der Umſtände und 
der ſtürmiſchen Leidenſchaften behauptet? 

Mit wie hartherziger Liebloſigkeit wird oft die unglückliche 
Uebereilung eines vom Zorn Ueberraſchten beurtheilt, der vielleicht 
in einem ſchrecklichen Augenblick Mörder ward, und mit voll- 
kommenem Recht von der Obrigkeit ergriffen und nach den Ge— 
ſetzen beſtraft ward! Er ward Mörder, und doch konnte er, die 
Verwahrloſung ſeines aufbrauſenden Gemüthes abgerechnet, einer 
der beſten, wohlthätigften, liebreichſten, zu allem Guten ent⸗ 
ſchloſſenſten Menſchen ſein. Er ward nun allerdings der Be⸗ 
ſtrafung werth; nichts konnte ſeine abſcheuliche Handlung recht⸗ 
fertigen; ſeine herzliche Reue macht ſie nicht ungeſchehen. Allein 
bin ich darum in der That ein beſſerer Menſch, als er, weil ich 
noch keinen Todtſchlag auf dem Gewiſſen habe? — Darf ich mich 
im Stillen meiner Kaltblütigkeit und Sanftmuth rühmen, da ich 
vielleicht dieſe vermeinten Tugenden nur meiner perſönlichen Furcht⸗ 
ſamkeit, meiner natürlichen Schüchternheit und Traͤgheit zu 
danken habe? | 3 

Wie oft wird mit Schadenfreude oder ſtolz herabblickendem 
Mitleiden der Fehltritt einer gefallenen Jungfrau beurtheilt, und 
wie manche ihrer ſtrengen Richterinnen ſpricht mit ſchmeichelndem 
Selbſtgefühle: Gottlob, daß ich nicht bin, wie dieſe da! — 
Aber, o Richterin, jene Unglückliche, die du verachteſt, war viel⸗ 
leicht wahrhaft keuſchern Herzens, als du. Sie liebte die Tugend 
vielleicht ernſter, inbrünſtiger, als du; ſie hatte vielleicht mit 
ihrer Leidenſchaft ſchwerere Kämpfe beſtanden, als du — Kämpfe, 


m. 


die nur der Allwiſſende kannte, bis fie, getäuſcht, verführt, in 
einem unglücklichen Augenblicke ſich ſelbſt und alles Heilige ver⸗ 
geſſend, ſank. — Zwar du, o ſtrenge Richterin deiner beklagens⸗ 
werthen Mitſchweſter, darfſt dich rühmen, noch keines ſo groben 
Fehltritts ſchuldig zu ſein — aber war dies auch dein wirkliches 
Verdienſt? Brachte dich dein Verhältniß jemals in ſo gefährliche 
Stimmungen? War es immer deine Liebe zur Tugend, oder die 
Furcht bloß vor Schande, oder ſelbſt der Mangel der Gelegenheit, 

welcher dich rettete? Iſt dein Herz, iſt deine eee 
immer unentweiht geblieben? 

Wie Jeſus Chriſtus einſt, beim Anblick der ihm vorgeführten 
Sünderin, ſtatt ſie zu verdammen, ausrief: Wer ſich keiner 
Schuld bewußt iſt, werfe den erſten Stein auf fie! fo 
ſollen auch wir noch heute oftmals in Rückſicht ſolcher Perſonen 
denken, deren Fehltritte aus dem Verborgenen ans Tageslicht 
kommen, während die Folgen der unſrigen verhüllt oder nur in 
unſerm eigenen Gedächtniſſe vergraben bleiben. — Wir ſollen 
uns ſelbſt noch nicht deswegen für vollkommener halten, weil wir 
bisher noch nicht die Aufmerkſamkeit der Menſchen durch irgend 
ein grobes, durch ſeine Wirkungen auffallendes Vergehen be⸗ 
ſchaͤftigten. | 

Man nennt zwar im gemeinen Leben ſchon denjenigen ge⸗ 
wöhnlich einen guten Menſchen, eine Perſon von unbeſcholtenem 
Wandel, welchem man eigentlich nichts Schlechtes oder Unan⸗ 
ſtändiges nachzuſagen weiß; und Viele bilden ſich wohl ein, ſchon 
dadurch ein Verdienſt oder einen Anſpruch auf die Achtung ihrer 
Mitbürger zu haben, daß ſich keiner derſelben über ſie zu be— 
klagen hat. — Aber, iſt es denn ein Verdienſt, kein Verbrecher 
zu ſein? — Sollen wir den Begüterten loben, daß er kein Dieb 
und Räuber, den ſchwachen Greis, daß er kein Verführer der 
Unſchuld, den Furchtſamen, daß er kein Todtſchläger und Zänker 
iſt? — Wer darf mit frohem Herzen vor Gott treten, und ſich 
ſeines Wohlgefallens freuen, der da nur zu ſagen weiß: ich habe 
nicht betrogen, nicht verrathen; ich bin kein Trunkenbold, kein 
Verleumder?! — — Sind denn Handlungen, die wir nicht bes 


— 8 — 


gangen haben, eine Handlung? Und können wir von der Saat, 
die nicht geſäet worden iſt, Aernte verlangen. 

Wahrlich, irret euch nicht, Gott läßt ſich nicht ſpotten! Wir 
haben keineswegs den Beruf empfangen, das möglichſt wenige 
Böſe zu ſtiften, ſondern das möglichſt viele Gute. Der Knecht, 
der ſeines Herrn Willen weiß, und hat ſich nicht bereitet, auch 
nicht nach ſeinem Willen gethan, der wird viele Streiche leiden 
müſſen! ſpricht Chriſtus. (Luk. 12, 47.) Schon das iſt Ver⸗ 
brechen, eine Tugend, die wir Gelegenheit hatten, auszuüben, 
unterlaſſen zu haben. Denn wer da weiß Gutes zu thun, 
und thut es nicht, dem iſt es Sünde! (Jak. 4, 17.) 

Die meiſten Sterblichen, nur auf irdiſche Vortheile für ihr 
Haus, für ihre Bequemlichkeiten, für ihre Ergöoͤtzlichkeiten be⸗ 
dacht, leben in mittelmäßiger Gemeinheit des Sinnes hin. Nie⸗ 
mand kann ſie ſchelten, aber loben kann ſie ihr eigenes Gewiſſen 
nicht. Sie ſind viel zu träge und ſchüchtern, das Böfe zu thun, 
aber auch eben jo träge und ſchüchtern für das Gute. Sie 
wähnen Alles vollbracht zu haben, wenn fie irgend ein Werk der 
Liebe vollbringen helfen, wozu ſie ſich aus Temperament oder 
Langeweile, oder aus Begierde entſchloſſen, bei den Leuten einiges 
Anſehen zu bekommen. — Ach, dieſes iſt keine Tugend! — Sie 
ſind Sünder und verächtliche Weſen, weil ſie jede Kraftanſtrengung 
ſcheuten, und nur thaten, was fie aus mancherlei Urſachen nicht 

wohl laſſen konnten. 
Wer da weiß, Gutes zu thun, — thut es nicht, dem iſt es 
Sande, ruft Gottes Wort. 

Sobald der Menſch den Jahren der Unmänbigfeit entwachſen 
f if, kennt er den Inbegriff ſeiner Pflichten. Und hätte kein Vater, 
keine Mutter, kein Lehrer ihm die Pflichten gegen Gott und 
Menſchen und Thiere mitgetheilt: eine innere Stimme würde in 
ihm erwachen, und ihm nennen, was Recht und Unrecht ſei. — 
Gehe hin in die entfernteſten Weltgegenden, wo noch Menſchen 
wohnen: bei aller ihrer Rohheit wirſt du in ihnen das Gefühl 
deſſen finden, was gut und böſe iſt. Denn die Gottheit offen⸗ 
bart ſich in aller Sterblichen Vernunft und Herzen alſo, daß 
Niemand eine Entſchuldigung für ſich hat. 


— u — 


Am wenigſten hat ſie der Chriſt. Was dem Wilden in 
ſeinem Heidenthume nur noch dunkel vorſchweben mag, das hat 
Jeſus in glänzender Klarheit vor uns aufgeſtellt. Wir kennen 
ſeine Worte, in welchen er den heiligen Willen unſers Schöpfers 
offenbarte; wir kennen ſein Leben voller Unſchuld, Gerechtigkeit, 
Liebe und Selbſtaufopferung für Menſchenwohl; es iſt ein heller 
Spiegel, in welchen wir ſehen ſollen. Wie mögen wir uns mit 
Unwiſſenheit entſchuldigen, wenn wir nicht ſo viel Gutes auf 
Erden ſtiften, als wir Gelegenheit dazu haben? 

Auch kann wahrlich Niemand mit Gerechtigkeit die Klage 
führen, daß es ihm an Anläſſen fehle, unter ſeinen Mitmenſchen 
nützlich und verdienſtvoll durch wohlthuende Handlungen zu wer⸗ 
den. Denn jeder Tag bietet uns dazu mancherlei Stoff dar; 
hätten wir nur Muth, nur Willen genug, ihn zu ergreifen. 

Es iſt wahr, nicht alles das Gute, das wir gern bewirken 
möchten, können wir ausführen. Aber hüten wir uns, nur gern 
auf das, was außer unſrer Macht liegt, hinzublicken, und darüber 
das geringere Gute zu verfäumen, welches wir in der Nähe und 
mit geringen Mitteln ſtiften können! — Doch iſt dies ein ge⸗ 
wöhnlicher Fehler bei Vielen, daß ſie immer über den ihnen an⸗ 
gewieſenen Geſchäftskreis hinweg in die Ferne ſehen, und ſich 
beklagen, außer Stand zu ſein, dieſes oder jenes wohlthätige 
Unternehmen auszuführen, weil ihnen ihre Lage es nicht erlaubt; 
oder nicht an der Stelle dieſer oder jener Perſon zu ſein, wo ſie 
dann gewiß nützlicher und wirkſamer, als eben dieſe, ſein würden. 

Nein, ſehet doch nur anf eure eigenen Verhältniſſe; fie find 
weitläufig genug, ein großer Spielraum eurer Frömmigkeit und 
Tugend zu fein! — Sprich doch nicht: hätte ich ſo viel Ver⸗ 
mögen, wie Dieſer oder Jener, ich würde gewiß edlern Gebrauch 
davon machen! Warum machſt du denn nicht von deinem ge— 
ringern Vermögen die edelſte Anwendung? Haſt du nicht ſo viel, 
daß du ohne deinen und deiner Familie Nachtheil davon Großes 
entbehren kannſt: warum entbehrſt du denn nicht zum Troſt des 
Leidenden wenigſtens das Geringe, ſondern verwendeſt es lieber 
zur Vermehrung deiner Bequemlichkeiten, zur Verdoppelung 
deiner Luſtbarkeiten, zur beſſern Reizung deines Gaumens mit 


ia 


Getränken und Speiſen wohlſchmeckender Art? Und biſt du jo 
dürftig, daß du endlich auch das Geringe nicht mehr entbehren 
kannſt: beſitzeſt du nicht die Gabe zu reden? haſt du nicht einige 
wohlhabendere Bekanntſchaften, die du um Beiſtand für hilfs⸗ 
bedürftige Familien anſprechen könnteſt? Es iſt ja immer leichter, 
ein Wort für Andere zu reden, als für ſich ſelber. 

Sprich doch nicht: hätte ich die Gewalt großer Fürſten, ich 
würde der ganzen Welt den lang entbehrten Frieden geben, Wohl⸗ 
ſein, Liebe, Eintracht unter allen Völkern herſtellen! Warum 
vollbringſt du denn das löbliche Werk nicht in deinen eigenen Ver⸗ 
hältniſſen? Warum ſtifteſt du denn keinen Frieden mit deinen 
eigenen Feinden? Warum weigerſt du dich denn ſo ſtolz, dem die 
Hand der Verſöhnung zu bieten, der dich beleidigt hat? Warum 
meideſt du denn nicht die Verſuchung zu ſchadenfrohen Spötte⸗ 
leien über fremde Gebrechen, und erzeugſt damit Erbitterung? 
Warum biſt du denn ſchwach genug, wenn du Böͤſes von deinen 
Nebenmenſchen reden hörſt, zu ſchweigen; oder ſchwach genug, 
wenn Entzweiung unter deinen Bekannten iſt, ſtatt die Mißver⸗ 
ſtändniſſe zu heben, ſie zu dulden mit Gleichgültigkeit; ſtatt die 
Erzürnten zur gegenſeitigen Nachgiebigkeit und Verzeihung ge— 
neigt zu machen, ſie wohl gar durch Beiſtimmung in ihren harten 
Urtheilen zu verhärten, oder durch Jwiſchentragertt die Feind⸗ 
ſchaft zu vergrößern? 

Sprich doch nicht: hätte ich dieſen oder jenen Beruf gewählt, 
bekleidete ich dieſes oder jenes Amt, wie thätig, wie unermüdet, 
wie nützlich wollte ich fein; aber in meinem Berufe bin ich ge⸗ 
lähmt, und leiſte nicht den tauſendſten Theil deſſen, wozu ich die 
vortrefflichſten Anlagen in mir fühle! — Warum biſt du denn, 
mit allen deinen Anlagen, nicht in deinen engern Geſchäften der 
Vortrefflichſte von Deinesgleichen? Warum beweiſeſt du nicht 
dadurch, daß du eines größern Wirkungskreiſes würdig wäreft, 
indem du deinen gegenwärtigen Platz ganz ausfüllſt? Wer nicht 
mit dem kleinen Pfunde zu wuchern verſteht, wie ſoll man den 
über Vieles ſetzen? — Biſt du aber in deinem Gewerbe und Be⸗ 
ruf einmal der Vortrefflichſte in deiner Art: wie leicht wird es 


a 


dir dann werden, deine nützliche Thaͤtigkeit auch weit darüber hin⸗ 
aus auszudehnen! 

Siehe, dies iſt die Unterlaſſung des Guten, das du kennſt 
und vollbringen könnteſt; dies iſt deine Sünde! 

Es gibt keinen Menſchen, der nicht jeden Tag wenigſtens 
einen Anlaß fände, Gutes zu thun; ſelbſt dem dürftigſten Bett⸗ 
ler an der Straße fehlt dazu die Gelegenheit nicht. Doch um 
dieſe Gelegenheiten zu erblicken, muß man ſie nur erblicken 
wollen. Aber dazu gebricht es an Neigung. Siehe, dies iſt 
Unterlaſſung des Guten. Klage nicht die Vorſehung an, daß 
ſie dich in keine Umſtände verſetzt, in denen du deine Tugend er⸗ 
ſcheinen laſſen könnteſt — klage deine Trägheit an, welche dich 
hindert, die Augen aufzuſchließen, um zu ſehen, was in e 
Nähe liegt. 

Nicht Gelegenheit zum Guten, ideen das erſte Talent zum 
Guten fehlt dir, nämlich ungeheuchelte Menſchenliebe und 
Dienſtgefälligkeit. Wer dieſe beſitzt, der weiß erfinderiſch 
Jedem, mit dem er in Berührung kommt, irgend etwas Liebes 
zu erweiſen, und ſelbſt Anweſenden und Entfernten nützlich zu 
ſein; der weiß immer etwas von ſeinen Erſparniſſen zu erübrigen, 
womit er Andern helfen oder gemeinnützigen Unternehmungen 
beiſtehen kann; der hat, wenn auch nicht immer Geld, doch hier 
ein gutes Wort, da einen zweckmäßigen Rath, dort einen Troſt. 

Frage dich nur nach einem vollbrachten Tagewerk in der 
Abendſtille: haft du alles das Gute gethan, was du eigentlich 
hätteſt thun können? Haft vu die kleinen Anläffe vortheilhaft be⸗ 
nutzt, wo du in deiner Tugend leben konnteſt? — Und wenn ſich 
dein Gedachtniß keiner Gelegenheit dazu erinnert, dann lege dir 
noch die einzige Frage vor: und was würdeſt du wohl gethan 
haben, wenn du ein Muſter wohlwollender Menſchenliebe und 
Dienſtgefälligkeit hätteft fein wollen? Dein Gewiſſen wird dir 
in ſtillem Nachdenken antworten, wird dir ſagen: und du haſt 
es nicht gethan! Wer da aber weiß, Gutes zu thun, und thut 
es nicht, dem iſt es Sünde. 

Die Schuld der Unterlaffung guter Handlungen wird um fo 
größer vor Gott, dem Richter unſers Werthes, um ſo größer vor 


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unſerm eigenen Bewußtſein, je leichter es uns war, jenes zu 


thun. — Unzähliges aber geſchieht nicht, ob es gleich Kleinig⸗ 
keit geweſen fein würde, es zu vollbringen. Denn nicht nur hat 
jeder Sterbliche die Erkenntniß deſſen, was recht iſt, ſondern Jeg⸗ 
licher hat beſondere und ausgezeichnete Anlagen, der Eine zu 
dieſer, der Andere zu jener Tugend. 

Wer von der Natur weichmüthig und gefühlvoll iſt, dem 
koſtet es wenig Ueberwindung, gegen Unglückliche die ſchöne Pflicht 
des Mitleids in That und Wort zu üben. Warum pflegte er 
dieſen göttlichen Trieb ſeines Herzens nicht? Warum that er ſich 
ſogar Gewalt an, ihn nicht allzulaut werden zu laſſen? Ach, 
da hindert ihn bald Eitelkeit und Furcht vor dem, was die Leute 
ſagen würden, irgend ein Werk ſchöner Barmherzigkeit zu üben; 
bald hindert ihn Hang zur Gemächlichkeit, in die Wohnungen 
der Unglücklichen zu gehen, von denen er hörte, oder ſich genauer 
von ihren Umſtänden zu unterrichten, und wie ihnen am beſten 
zu helfen wäre; bald unverzeihlicher Leichtſinn; bald Prachtluſt, 
für die mancherlei Ausgaben zu machen waren. 

Wer von Natur muthigen, entſchloſſenen Herzens iſt, dem 


koſtet es wenig, ſich des Unterdrückten anzunehmen. Und warum 


that er, der von Natur allem Unrecht feind iſt, dieſem edeln Sinne 
kein Genüge? Ach, da war der Eigennutz, welcher ihn gegen 
ſeine beſſern Wünſche nöthigte, ſtumm zu bleiben; da waren 
allerlei Rückſichten gegen Perſonen, welchen man ſich beliebt 
machen möchte, die ihn bewogen, das Ungerade für gerade gelten 
zu laſſen. i 

Wer Anſehen und Einfluß auf Denkart und Willen ſeiner 
Mitbürger hat, dem iſt es ein Leichtes, unzähliges Gute auf die 
Bahn zu bringen, oder zu befördern, was Andern bei aller An⸗ 
ſtrengung ihrer Kräfte ſchwer zu verrichten wird. Oft genügt 
nur ein bloßes Beifallgeben, ein einziges aufmunterndes Wort, 


um das Nützliche vollzogen zu ſehen. — Warum ſprach er das 
Wort nicht aus? — Ach, weil ihm die Sache am Ende ſehr 


gleichgültig war, und er ſich nur nicht die Mühe geben wollte, 


ihren Werth zu bedenken; oder weil ſeine Bequemlichkeit ſich mit 


der Gegenfrage entſchuldigte: warum ſoll ich mich in Alles miſchen, 


a 


was mich nicht unmittelbar angeht? Oder weil die Rede von 
Dingen war, die nur fremde Perſonen, eine fremde Stadt, ein 
fremdes Dorf und deren Nutzen betrafen. 

Doppelt ſchwere Verantwortlichkeit haftet auf deſſen Seele, 
der das Gute unterläßt, nicht nur wo ihn die Gelegenheit dazu 
auffordert, ſondern wo ihm ſelbſt ſeine angebornen Neigungen 
und die Mittel es leicht machten, welche in ſeiner Gewalt ſtanden. 
Hier iſt die höhere Pflichtvergeſſenheit offenbar die Wirkung eines 
ſchon in ihm mächtig gewordenen entgegengeſetzten Laſters, es 
heiße daſſelbe nun Eigennutz, Selbſtſucht, Neid, Stolz oder 
ſchlaffe Trägheit, Leichtſinn, Unachtſamkeit. 

Du liebſt die, die dich lieben, die dir ſchmeicheln; du thuſt 
denen wohl, von denen du Gefälligkeiten erwarten kannſt — was 
iſt dies nun mehr? Dies thun auch die Heiden, ſo thun auch die 
Thiere. Jeſus Chriſtus nannte die erhabenern Pflichten — ent⸗ 
ziehſt du dich ihnen: o ſo glaube nicht an einen wirklich vorhan⸗ 
denen Werth deines Herzens. — Du begehſt keine Verbrechen; 
betrügſt, verleumdeſt, übervortheilſt, verfolgſt deine Nebenmen⸗ 
ſchen nicht — aber was haſt du damit mehr gethan? Alles dies 
thut auch der todte Stein nicht, den du mit Füßen trittſt. 

Wie arm ſtehſt du da, Sterblicher, wenn deine unſterbliche 
Seele, gerüftet mit großen Anlagen für ein ewiges, beſſeres Da⸗ 
ſein, ausgerüſtet mit Erkenntniß des Wahren und Falſchen, aus⸗ 
gerüſtet mit einem kräftigen Willen, ſich einſt keiner andern Vor⸗ 
züge zu rühmen weiß, als rein geblieben zu ſein von groben 
Verbrechen! Darf der gefühlloſe Stein höhere Seligkeit an⸗ 
ſprechen, und der träge Knecht, welcher ſein Pfund in die Erde 
vergrub, die Hoffnung faſſen, einſt über Mehreres geſetzt zu wer⸗ 
den, denn hienieden? 

Wie arm ſtehſt du da, Unglücklicher, im fürchterlichen Selbſt⸗ 
betrug! Denn du wähnſt dich, wenn auch nicht mit Tugend ge= 
ſchmückt, doch rein von ſchweren Vergehen — ſiehe, deine tauſend 
Unterlaffungen des Guten find deine tauſend Sünden, welche 
dich zur Verantwortung rufen. Es ſchlägt einſt die ernſte Stunde, 
da du ſchaudern wirſt vor deiner Gleichgültigkeit gegen zahlloſes 
Gute, was nun ungeſchehen blieb. Denn Gleichgültigkeit gegen 


a 


eine Tugend, die wir üben können, iſt Gleichgültigkeit gegen die 
Ewigkeit, die uns richten wird — iſt Gleichgültigkeit gegen den 
Allerheiligſten. Jede Gelegenheit zum Guten, welche wir wahr⸗ 
nehmen, iſt gleichſam eine Einladung Gottes an unſer Herz, es 
ihm zu weihen; die Bitte unſers guten Engels, göttlicher zu 
werden. 8 

Und wie ſtehe ich da, o himmliſcher Vater, vor Dir! 
Wehe, wenn meine Tage und Stunden mir vorgerechnet, und 
mir die Verſäumungen guter Thaten vorgezaͤhlt werden, wie mag 
ich beſtehen? Und fo groß auch Deine Gnade iſt: welche An- 
ſprüche und Hoffnungen kann ich auf eine heitere Ewigkeit, auf 
ein vollendeteres Daſein haben, da ich fie — ach! nur zu oft, 
verſcherzte? | 

Ich erkenne vor Dir meine Schwäche, meine Schuld. Ja, 
ich bin Sünder, größerer Sünder, als ich oft zu ſein mir ein- 
bildete. Meine Unterlaſſungen ſind meine Verbrechen, die mich 
drücken, und rechtfertigen kann ich ſie nicht vor Dir. 

Doch ich lebe noch! — Gott, barmherziger Gott, Deine Lang- 
muth hat mich Unwürdigen noch nicht verlaſſen. Ich lebe noch; 
ſehe noch eine Reihe von Tagen vor mir, da ich mehr als un⸗ 
fruchtbare Reue, nein, da ich die Kraft eines tugendhaftern, Dir 
wohlgefälligern Willens zeigen kann. Ich lebe noch, und ſehe 
freudig den Augenblicken entgegen, die mir Gelegenheit geben zu 
Geſinnungen, Worten, Thaten, welche zur Vermehrung allge⸗ 
meiner Glückſeligkeit beitragen. O Vater, Du forderſt nichts, 
was die Kräfte Deiner Kinder überſteigt, ach, warum ſollte ich 
nun nicht gern leiſten, was die Krafte vermögen? — O vergib, 
Barmherziger, vergib mir meine Unterlaffungen; Vater, vergib 
uns unſere Schulden! Amen. 


S. 


Richtigere Beurtheilung unferer 
Gemüths bewegungen. 
Joh. 2, 14 — 17. 


Selbſtüberwindung fordert Muth! 
Es gilt den Kampf ums höchſte Gut! 
Wer iſt ein Chriſt und gleicht nicht gern 
Den Märtirern, 
Nicht gern auch Chriſto, ſeinem Herrn? 


Wo iſt der Held, den je im Streit, 
So ſchwer er war, die Mühe reut? 
Wenn er nur kämpfte wie ein Mann, 
Das Feld gewann, 

Und ſeines Sieges froh ſein kann. 


Hilf, Todesüberwinder, mir, 
Ich halte, Chriſtus, feſt an Dir! 
Nur Menſch zu ſein, iſt Menſchenpflicht, 
Mehr will ich nicht. 
Dem Seraph ſtrahlt ein andres Licht. 


Wenn ein guter Menſch zuweilen beim Anblick der Ungerechtig⸗ 
keit zum Zorn und Unwillen aufflammt, oder ſich dem Ungeſtüm 
der Freude bei fröhlichen Anläſſen hingibt, oder von der Furcht 
gefoltert, die ein Mangel des Vertrauens auf göttliche Vorſehung 
zu ſein ſcheint, oder von andern dergleichen lebhaften Gefühlen 
überrafcht wird: geſchieht es nicht ſelten, daß Andere, die vielleicht 
von Natur weniger lebhaft und reizbar find, ihn tadeln. Es 
geſchieht nicht ſelten, daß eben ſolche an ſich gute, aber allzu⸗ 
ängftliche Menſchen ſich deswegen ſelber mit Vorwuͤrfen beſtür⸗ 
men, ſich vor Gott anklagen, und die Aufwallungen ihres ae 
müths als eben fo große Sünden bitterlich bereuen. 
Ihrer Viele ſind geweſen, die deshalb ſich von der Welt zu⸗ 
rückgezogen haben, um weniger zu Zorn und Freude, heftigem 
Schmerz oder Verdruß hingeriſſen zu werden. Sie gingen in 
Einſamkeiten, in Flöfterliche Zellen, oder führten in der Mitte 
großer Staͤdte ein abgeſchiedenes Leben. Andere wieder, welche 
jene Aufwallungen nicht weniger für ſuͤndlich hielten, traten recht 
mit Abſicht in das Gewühl des Lebens hinein, oder vermieden 


„ AT ae 


wenigſtens die Gelegenheit, durch welche ihre Gefühle aufgeftört 
werden könnten, um dann ſie deſto heldenmüthiger zu beſiegen, 
ſich gegen Unmuth und Fröhlichkeit, gegen Furcht, Schrecken und 
Zorn zu ſtärken oder unempfindlich zu machen. Noch andere 
hielten alle lebhaften Aufwallungen der Sinnlichkeit für natür⸗ 
liche Verderbtheit des Menſchen, und nach manchem vergeblichen 
Kampfe dawider ſich unfähig, jemals fromm und der göttlichen 
Gnade würdig zu werden. N 

Warum rede ich von vergangenen Zeiten? Es iſt noch heu⸗ 
tiges Tages ſo. Es ſind viele Chriſten, welche eben darein 
den höchſten Triumph des Chriſtenthums ſetzen, daß ſie alle 
Lebhaftigkeit der Gefühle unterdrückt wiſſen wollen, und es für 
ſtrafbar halten, von denſelben überraſcht zu werden. 

Iſt denn aber eine ſtarke Gemüthsbewegung Sünde? Will 
denn Gott, daß wir uns ſelber in einem ſolchen Grade abſterben, 
daß wir gegen Schmerz und Fröhlichkeit, Luft und Unmuth uns 
empfindlich werden? Bin ich verdammungswürdig, wenn ich 
über das, was ſchändlich iſt, iu Zorn und Mißmuth gerathe? 
oder wenn ich an der Heiterkeit meiner Freunde Theil nehme, 
mit ihnen ſcherze und lache, zum Tanz und Schauſpiel gehe, und 
Vergnügen an geſelligen Luſtbarkeiten nehme? Iſt es Gottes 
Gebot, daß ich meine ganze Lebenszeit in ununterbrochener kalter 
Gelaſſenheit bleibe, oder wohl gar in einem trüben, ſtets auf ſich 
ſelbſt zurückdenkenden Ernſt zubringe? 

O gewiß nicht. Hier iſt ein Irrthum! Es kann auch wohl 
eine allzuweit getriebene Gewiſſenhaftigkeit geben, die mich mit 
Vorwürfen beſtürmt, wo ich fie doch nicht verdiene. Denn wären 
mehr oder weniger lebhafte Gemüthsbewegungen Sünde: ſo haͤtte 
Gott mir ſie nicht ſelber gegeben. Die größere oder geringere 
Reizbarkeit der Empfindungen hängt offenbar von der eigenen 
Beſchaffenheit unſers Temperaments ab. Das Temperament 
aber iſt nicht unſer eigenes Werk. 

Wären ſehr lebhafte Gemüthsbewegungen an ſich tadelhaft: 
ſo müßte auch eine ſehr lebhafte Einbildungskraft, ein allzutreues 
Gedaͤchtniß ſündlich fein. Denn das Gedaͤchtniß, wie die Ein⸗ 
bildungskraft, verleiten eben jo leicht zu böſen Werken, als die 


3 


gereizten Gefühle. Wie ſollte ich mir alsdann erklaren, daß 
Gott den einen Menſchen ſchon von Natur beſſer, den andern 
ſchlechter geboren werden ließ? Ich kenne Leute, die ſo trägen 
Gemüthes ſind, daß ſie immer kalten Blutes bleiben, und durch 
nichts leicht in Zorn gerathen; weder ungemein fröhlich, noch 
ungemein traurig werden können. Iſt denn das Greiſenalter 
darum frommer oder löblicher, weil es weniger Hang zu ſinnlichen 
Ergötzungen hat, für welche ihm die Neigung fehlt, weil es an 
Nerven und Kräften ſtumpfer geworden? Iſt denn Jüngling 
und Mädchen, oder Mann und Weib in den beſten Lebensjahren 
zu tadeln, weil hier mehr Fülle der Kraft und mächtigere Be⸗ 
gierde iſt? 

Der Gegenſtand iſt wichtig genug, daß ich darüber nach⸗ 
denke. Es iſt für meine eigene Ruhe erforderlich, daß ich mir 
deutliche Vorſtellungen verſchaffe über Sündlichkeit oder Unſünd⸗ 
lichkeit gewiſſer Aufloderungen des Gefühls; ob ich, um fromm 
und gottgefällig zu ſein, alles Regewerden meiner Sinnlichkeit 
unterdrücken müſſe. 

Schon die Vernunft ſagt mir, daß dies nicht ſein ſolle und 
könne. Aber doch behaupten es die ſtrengen Eiferer und Sitten⸗ 
lehrer. Oft wird es mir ſogar von Kanzeln gepredigt, mein 
Fleiſch ſammt den Lüſten und Begierden zu kreuzigen, abzutödten 
in ſolchem Maße, daß ich allen Freuden dieſes Lebens entſagen 
müſſe. 

Blicke ich hingegen auf den Göttlichen, der ihr Lehrer und 
auch der meinige iſt, auf Jeſum Chriſtum, den heiligſten und 
unſchuldigſten der Menſchen: ſo überzeuge ich mich vom Gegen⸗ 
theil; auch er war keineswegs von den lebhafteſten Bewegungen 
des Gemüthes frei. Schrecken, Zorn, Furcht, Angſt, Fröhlich⸗ 
keit, Luſt an ſinnlichen Ergötzungen, waren ihm gar nicht fremd, 
und er unterdrückte dieſe unwillkürlichen Neigungen nicht. 

Es wird erzählt, wie er in heftigen Unwillen gerieth, da er 
im Tempel von Jeruſalem die Wechsler ſitzen ſah, und die, welche 
Ochſen, Schafe, Tauben zu Opferungen feil hatten. Er machte 
eine Geißel aus Stricken, trieb fie alle hinaus, und verſchüttete 
den Wechslern das Geld, und ſtieß die Tiſche um, indem er ſagte: 


— TE 


Machet nicht meines Vaters Haus zum Kaufhauſe! (Joh. 2, 
14— 16.) Dieſe Stelle aus dem Leben Jeſu hat mich oft ernſt 
beſchäftigt. Sind die Aufwallungen des Zorns an ſich eine Sünde 
vor Gott, wie hätte ſie Jeſus in ſich dulden können? Und doch 
bereuete er ſie nicht. Daß er mit Zorn gehandelt habe, iſt nicht 
zuläugnen. Mehrmals gerieth er in Eifer. Ja, es wird ausdrück⸗ 
lich in der heiligen Schrift geſagt, wie er einſt, da die Phariſäer 
ihm zum Verbrechen machen wollten, wenn er am Sabbath Men⸗ 
ſchen heilen würde, da ſich feines Unwillens nicht erwehrte: er 
ſah fie umher an mit Zorn. (Marci 3, 5.) 

Zu andern Zeiten war er der tiefſten Betrübniß hingegeben. 
Ja, wir wiſſen, daß er in jener bangen Nacht am Oelberge be⸗ 
trübt war bis in den Tod, und ſo ſehr von Angſt und Furcht 
und Kummer überwältigt, daß ſein Schweiß wie Blutstropfen 
ward, die auf die Erde fielen. (Luk. 22, 44.) Er war Theilneh⸗ 
mer an geſelligen Freuden und fröhlich mit den Froͤhlichen. Da 
es an der Hochzeit zu Kana an Wein gebrach, die Geſellſchaft zu 
beleben, war er es, der es ſeiner nicht unwürdig achtete, mit 
wunderbarer Kraft das Mangelnde zu ſchaffen. Er verſchmaͤhte 
keineswegs die angenehmen Genüſſe der Sinnlichkeit, und ließ 
ſich gefallen, daß fein Haupt mit wohlriechendem, köſtlichen Oelen, 
nach der Weiſe des Morgenlandes, geſalbt wurde. Er wußte 
ſehr gut, daß es damals, wie heute, mürriſche Eiferer gab, die 
da meinten, um ein heiliges Leben zu führen, müſſe man arm 
und ſtrenge leben, nur mit ſchlechter Nahrung und geringer Klei⸗ 
dung vorlieb nehmen, und ſich mit den haͤrteſten Entſagungen 
quälen. Dennoch that er es nicht. Er ging wohl öfters zu den 
reichen und verhaßten roͤmiſchen Zollwächtern zu Tiſch, und ver⸗ 
achtete den Tadel derer, denen Alles unrecht iſt, man mache es, 
wie man wolle. Johannes iſt gekommen, ſprach er, und führte 
das allerenthaltſamſte Leben, aß nicht und trank nicht. Da ſagten 
ſie: Er hat den Teufel. Nun iſt des Menſchen Sohn gekommen, 
ißt und trinkt. Siehe, ſagen ſie, wie iſt der Menſch ein Freſſer 
und ein Weinſäufer, Geſellſchafter von Zöllnern und Sündern! 
(Matth. 11, 18. 19.) 

So iſt denn offenbar, daß weder das Grünen, noch das 


— 68 — * 


Bekümmern, weder die Luſtigkeit, noch die Traurigkeit, weder 
das Wohlgefallen an ſinnlichen Genüſſen, noch die Ungeduld, 
noch die Sehnſucht, noch irgend eine von allen andern Gemüths⸗ 
bewegungen an ſich ſtrafbar ſind; daß ich irre, wenn ich es mir 
vorwerfe, ſie nicht unterdrücken und tödten zu können; daß ich 
dies ſogar nicht verlangen ſoll, weil es etwas Unnatürliches und 
am Ende ſogar Unmögliches wäre; daß diejenigen zu weit gehen, 
welche fordern, der Menſch müſſe beſtändig kalten Blutes bleiben, 
und dem Leibe ſo wenig Ehre anthun als möglich. 

Aber Alles hat ſein Maß! Wann hören unſere Gemüths⸗ 
bewegungen auf, unſchuldig zu fein? Wie lange find fie 
nicht nur unſchuldig, ſondern ſogar löblich? 

Sie ſind löblich, ſo lange ſie unſere Begierde zu dem, 
was recht und gut iſt, unterſtützen und erheben. Ohne 
Lebhaftigkeit der Gefühle kann kaum etwas Gutes mit gehörigem 
Nachdruck ausgeführt werden. Ja, auch Chriſtus gerieth in Zorn, 
aber nicht aus Neid und Scheelſucht, nicht aus Noth oder Hab⸗ 
ſucht, nicht für ſeinen Eigennutz, ſondern für die Sache Gottes. 
Ihn empörte die Falſchheit der Menſchen; ihre Niederträchtigkeit, 
ihre Heuchelei. Ihn erzürnte die Unehrerbietigkeit gegen Gott. 
Darum trieb er die Geldwechsler und Opferverkäufer aus dem 
Tempel; darum ſchalt er die ſcheinheilige Großthuerei der Pha⸗ 
riſaͤer. Wer das Gute will, kann es nicht ohne eine gewiſſe Be⸗ 
geiſterung vollſtrecken. Es muß eine Erhöhung aller unſerer 
Gefühle eintreten, um uns gegen Hinderniſſe zu ftärfen, und 
Gefahren verächtlich zu machen. Die Gefühle ſind gleichſam der 
Wind und das Segel unſers Willens. Wer bei Schandthaten, 
deren Zeuge er fein muß, kaltblütig fein kann; wer gelaſſen zu— 
ſehen kann, wie man einen Schuldloſen verdammt, einen offen- 
baren Böſewicht ſchmeichelt und begünſtigt, vielleicht weil er reich 
und von guter Herkunft iſt; wer gleichgültig bei fremder Noth, 
oder bei Gefahren des Vaterlandes, oder bei verbrecheriſchen An— 
ſchlaͤgen fein kann: verdient er wohl den Namen des Tugend» 
haften? Iſt er ſelbſt wohl großer Edelthaten fähig? Könnte der 
ſich für irgend eine heilige Sache aufopfern® Vermögen, Ehre 
und Leben dafür hingeben? 


1 


So tadle und verdamme denn Niemand die Aufwallungen 

eines edeln Zorns und Unwillens; ſo mache ſich denn Niemand 
Vorwürfe, wenn er ſeinen Abſcheu gegen Ungerechtigkeiten laut 
werden ließ. Iſt es die Tugend ſelbſt, welche die Flamme des 
Gemüths entzündet, ſo lodert ſie rein. 

Löblich iſt die Freude. Seid fröhlich mit den Froͤhlichen und 
mit den Weinenden weinet! ruft uns das göttliche Wort felber 
zu. (Röm. 12, 15.) Wer nicht innigen Antheil am Glück der 
Frohſinnigen nehmen kann, der iſt auch wohl ſelten aufgelegt, 
ſich Unglücklichen mit gänzlicher Hingebung zu weihen. Welche 
Sünde iſt ein Spiel, welches das Herz vergnügt? Wo iſt das 
Wohlgefallen am Schönen verdammt, es entwickele ſich in Be⸗ 
trachtung der Natur, oder der Kunſtwerke, in den Bewegungen 
des Tanzes, oder in den Klängen der Muſik? Wer will das durch 
Witz und Scherz belebte Gaſtmahl, wer die höhern Stimmungen 
zur Freude durch den mäßigen Genuß des Weins verdammen? 
Es iſt Scheinheiligkeit, froͤmmelnde Ziererei oder übertriebene 
Gewiſſenhaftigkeit, ſich davon auszuſchließen, und den als ein 
Weltkind zu verſchreien, welcher daran Theil zu nehmen nicht 
verſchmäht. Auch Jeſus Chriſtus, mein Heiland, mein Erlöſer, 
fehlte bei vergnügenden Gaſtmählern nicht. Er ſelber ſchuf den 
Wein zu Kana, um die freudige Stimmung der Anweſenden zu 
erhöhen. Er wollte nicht, daß der Menſch finſter, ungeſellig und 
mürriſch, in übermäßiger Strenge und Enthaltſamkeit ſich die 
Welt Gottes zum Kerker, das Leben zur Folter mache. 

Gemüthsbewegungen find dann erſt fündlich, wenn fie ſich 
mit unerlaubten Begierden vereinigen und dieſelben 
ſtärken. Sie ſind an ſich ſelber zwar weder gut noch böfe, aber 
ſie werden es, je nachdem ſie in den Dienſt des Rechts oder Un⸗ 
rechts treten. Die boshafte Schadenfreude iſt nicht die Freude 
des Redlichen. Der Zorn der Rachſucht, die Erbitterung gekränk⸗ 
ter Citelkeit, das Feuer der Eiferſucht iſt nicht der heilige Zorn 
des Chriſten gegen Ungerechtigkeit, nicht der edle Eifer wider 
Sittenloſigkeit, nicht der empörte Unwille gegen Schamloſigkeit 
der Frevler. Die Sucht zu alltäglicher Schwelgerei und Zer⸗ 
ſtreuung, die Unmäßigkeit des Trunkenbolds, die Begierde zur 


Löſchung wilder Triebe der Ueppigkeit, die Luft an Ueberſchrei⸗ 
tung alles Wohlanſtändigen, iſt nicht die harmloſe Luſt des Edeln 
an muntern Scherzen, an vergnügenden unſchädlichen Ergötzun⸗ 
gen, an Erheiterungen jeder Art, denen keine Reue folgt. 

So lange wir alſo, auch bei aller Heftigkeit unſerer Gemüths⸗ 
bewegungen, eigentlich nichts Böſes wollen, oder kein Wohl⸗ 
gefallen an dem finden, was ſchlecht und unedel iſt: haben wir 
uns weder unſere Luſtigkeit noch unſern Verdruß, weder unſern 
Unwillen noch Kummer, noch unſere lebhafte Begeiſterung oder 
unſer Entzücken als Sünde anzurechnen, beſonders wenn wir 
uns unſerm Zorn und Schmerz, unſerer Fröhlichkeit und dem 
Genuſſe finnlich angenehmer Gegenſtände, zu denen wir ein Recht 
haben, nicht maßlos überlaſſen. 

Aber Sünde wird jede Bewegung des Gemüthes, wenn ſie 
den Verſtand verfinſtert, wenn ſie ſo heftig wird, daß 
fie unfähig macht, mit gehöriger Beſonnenheit zu han⸗ 
deln. Furcht und Angſt vor Unglück ſind keine Sünden und 
keine Beweiſe von Mangel des Vertrauens an Gott. Es ſind 
unwillkürliche Regungen des Gemüths, wie der Verdruß und 
die Traurigkeit um verlorne Freuden. Jeſus vergoß am Oelberge 
den blutigen Angſtſchweiß; aber dennoch behielt er Kraft genug, 
ſich wieder ermannen und beten zu können: nicht mein Wille, 
Vater, ſondern der Deinige, geſchehe. Wenn aber die Verzagt⸗ 
heit des Gemüths ſo groß wird, daß alle vernünftigen Vorſtellun⸗ 
gen verdunkelt werden, daß das Herz verzweifeln möchte: dann 
iſt Gefahr, dann die Sünde nahe. Wenn wir im Zorn über das 
Ruchloſe aufwallen, mag es edel genannt werden; wenn er uns 
aber ſo betäubt, daß wir, von ihm übermannt, unſer ſelber nicht 
mehr mächtig ſind, und aus Eifer für das Rechte im Grimme 
Unrecht thun: dann iſt er Sünde. Wenn Freude uns in dem 
Grade berauſcht, oder wir uns ſinnlichen Genüſſen in ſolcher 
Ausgelaſſenheit hingeben, daß unſerer Geſundheit, Unſchuld und 
Ehre, oder dem Wohlſein und Glück Anderer daraus Nachtheil 
erwaͤchſt: dann iſt fie Sünde. 

Daher, obgleich die Bewegungen des Gemüths, es mögen 
Empfindungen angenehmer oder unangenehmer Art ſein, durch 


De 


aus für fich ſelbſt nicht ſündlich zu heißen find, haben wir bei 
ihrem Daſein die größte Vorſicht anzuwenden, daß wir derſelben 
immer Meiſter bleiben, und daß ſie ſich nicht gänzlich unſerer 
Beſonnenheit bemeiſtern. Haltet Maß in allen Dingen, in Zorn, 
in Schmerz und Freude. Nur allzuſchnell werden wir durch den 
Sturm der Empfindungen über die Grenze des Rechten, des 
Billigen und Schicklichen hinweggeriſſen. Reizbare, lebhafte 
Gemüther geriethen dadurch, ſo edel auch ihre Abſichten, ſo un⸗ 
ſchuldig auch die Veranlaſſungen, ſo rein auch anfänglich ihre 
Begierden waren, nur allzuoft bis zum ſchwarzen Augenblick der 
Reue. Sie vorzüglicher, als Andere, die eines kaltblütigen We⸗ 
ſens ſind, müſſen darüber wachen, daß gewiſſe Gemüthsbewe⸗ 
gungen nicht allzuhäufig wiederkehren, und dadurch herrſchende 
Gewohnheiten werden. ü 

Gemüthsbewegungen werden fündlich, ſobald ſie 
bei jedem, auch dem geringſten Anlaſſe laut werden, herr- 
ſchende Gewohnheiten ſind, auch folglich den Willen leiten, 
die Vernunft und das Gewiſſen unterjochen. Bei jedem kleinen 
Fehler des Nächſten in Zorn gerathen und Aergerlichkeiten aͤußern; 
über geringfügige Dinge ſogleich in Schrecken und Furcht kom⸗ 
men; Alles, jo unbedeutend es auch ſei, mit haſtigem Ungeſtüm 
und Begeiſterung ergreifen; oder immer luſtig ſcherzen, auch bei 
den ernſthafteſten Geſchäften Spaß und Muthwillen treiben, und 
in den offenbarſten Gefahren leichtſinnig gaukeln: bezeugt Schwäche 
des Gemüths, Schwäche des Verſtandes. So herrſchend gewor⸗ 
dene Gemüthsbewegungen lähmen jede Staͤrke zur Tugend, und 
ſind fortgeſetzte Unbeſonnenheiten. Hier iſt der Kampf des Geiſtes 
nöthig zur Wiedererhaltung der Herrſchaft über das Gemüth. 
Alles hat ſeine Zeit, Lachen und Weinen. 

Jeder prüfe ſich nun ſelbſt. Zu große Lebhaftigkeit der Em⸗ 
pfindungen, wie Gefühlloſigkeit, find gleich nachtheilig. Beide 
Fehler entſpringen oft aus körperlichen Zuſtänden. Aber dem 
ſtarken Willen des Geiſtes iſt es möglich, ſelbſt das Temperament 
zu verbeſſern. Wer zur Traurigkeit und Schwermuth geneigt iſt, 
bemühe ſich um Zerſtreuungen; wer zum Zorn und Verdruß ge⸗ 
neigt iſt, ſtrebe nach Kaltblütigkeit und ruhiger Anſicht der Dinge, 


— 0° 


und der erſte Schritt dazu iſt, wenn er fo viel über ſich gewinnt, 
niemals in der erſten Aufwallung ſeines Gefühls zu reden und 
zu handeln; wer ſich oft in fröhlichen Geſellſchaften zu ſehr ver⸗ 
gißt, und ſeine Heiterkeit in ausgelaſſenes, unbeſonnenes Weſen 
ausſchweifen läßt, gehe nie zu ſolchen Gelegenheiten ohne den 
feſten Vorſatz, von allen Anweſenden der Nüchternſte und Ge⸗ 
laſſenſte zu bleiben. Wer bei ſich empfindet, daß er gegen fremde 
Noth zu gleichgültig, bei nichtswürdigen Handlungen zu unbe⸗ 
fangen, für das Edle und Gute einer Unternehmung zu unbe⸗ 
geiſtert und träge iſt, dünke ſich darum nicht weiſe, ſondern er 
durchdringe mit feinem Verſtande erſt die Abſcheulichkeiten des 
Verbrechens, und denke ſich ſelbſt in die Lage der dadurch Un⸗ 
gluͤcklichwerdenden; er überzeuge ſich von dem Segen einer edeln 
Unternehmung in allen ihren mannigfaltigen Folgen; er belebe 
ſeine Einbildungskraft mit den Vorſtellungen der fremden Noth 
und Freude. Die Trägheit ſeines Gemüths iſt nichts weniger als 
Kraft, ſondern Schwäche, durch welche eins oder das andere 
ſeiner Seelenvermögen zu einer nachtheiligen Unthätigkeit geräth. 

Wie gefühlvoll, o mein Jeſus, Bild erhabener Menſchen⸗ 
freundlichkeit, warſt Du bei Anderer Schmerzen, über welche 
Du die eigenen fo gern vergaßeſt; wie entflammt gegen die Schänd⸗ 
lichkeit alles Böſen, was die Herzen der Menſchen von ihrem 
Glücke und ihrem Gotte trennt; wie willig warſt Du, die Freu⸗ 
den Deiner Brüder zu mehren, zu erheben, zu läutern und zu 
veredeln! O ſei mein Vorbild in Allem! Ich will mich meines 
Herzens, meiner Empfindungen, meiner Aufwallungen nicht ſchaͤ⸗ 
men; ſie ſind ſo menſchlich! Und mehr als Menſch zu ſein, iſt 
nicht des Menſchen Pflicht. 

Aber lehre Du mich, Gottes Sohn, mäßig ſein in Allem, 
in Schmerz und Vergnügen, damit ich Dir ähnlich werde und 
Gott gefällig. Nein, Gott gab uns nicht ſelbſt die das Leben 
verannehmlichenden Gefühle, daß wir ſie wieder in uns tödten 
und ausrotten, ſondern daß wir ſie zu Schwingen der Andacht 
und Tugend, zu Waffen derſelben gegen die das Leben verhee— 
renden Laſter machen ſollen. Amen. 


— 73 — 


— 


9. 
Schein un d Weſen. 
Jak. 2, 1. 4. 


Ich bitte nicht um Gut und Gold 
Und Würden dieſer Erden; 
Was uns das flücht'ge Leben zollt, 
Muß wieder Aſche werden. 


Nur Weisheit gib mir, Weisheit nur, 
Du, aller Weſen Meiſter! 
Sie leitet mich auf heil'ger Spur, 
Sie iſt der Schatz der Geiſter. 


Sie lehret fern von Trug und Schein 
Den Werth der Dinge kennen, 
Und für das Göttliche allein 
Das fromme Herz entbrennen. 


Gott ift die höchite Weisheit! So hören, fo leſen wir oft, ohne 
daß wir immer klar und deutlich einſehen, was eigentlich die 
Weisheit ſei. 

Gott iſt die hoͤchſte Weisheit; der Sterbliche aber ſoll das 
weiſeſte unter den göttlichen Geſchöpfen auf Erden fein. Darum 
ſchmückte uns der Schöpfer mit der Gabe der Vernunft. Darum 
hörte die Welt aus dem Munde der Gottesgeſandten die heiligen 
Offenbarungen; darum offenbarte ſich Gott ſelbſt durch Jeſum. 

Und wer iſt denn ein wahrer Weiſer? — Der Chriſt ſoll es 
ſein; ach, aber iſt jeder Chriſt ein Weiſer? — Warum iſt er 
es nicht? 

Was iſt das Weſen der Weisheit? Es iſt die klare Erkenntniß 
des Wahren, Guten und Schönen; es iſt die Entfernung von 

aller Taͤuſchung, von allem Selbſtbetrug über die Dinge der Welt. 
Das Gegentheil der Weisheit aber iſt die Thorheit. Die 
Thorheit aber beurtheilt die Dinge nicht nach dem, was fie wirk⸗ 
lich find, das heißt, nach ihrem Weſen, ſondern läßt ſich durch 
den Schein blenden. Sie laßt ſich durch die Außenſeite der 
Sachen irre führen, und hält fie für etwas Anderes, als fie find. 

Daher iſt der Greis gewöhnlich weiſer, als der unerfahrene 

Jüngling; die betagte Mutter weiſer, als die mit der Welt un⸗ 
III. 4 


„ 


bekannte Tochter. Das Alter iſt durch Erfahrung belehrt, iſt 
durch die Schulen des Irrthums zur Erkenntniß der Wahrheit 
gelangt, und von mancher Täuſchung zurückgekommen. 

Der Thor beurtheilt den Werth des Menſchen nur nach ſei⸗ 
nem Kleide, nach ſeinem Vermögen, nach ſeinem Amte; — der 
Weiſe ſchätzt den Mann nicht nach ſeinem Aeußern, ſondern nach 
ſeinen Geſinnungen, nach ſeinen Einſichten, nach ſeinen Hand⸗ 
lungen. — Der Thor hält denjenigen für einen frommen Chriſten, 
der fleißig den Gottesdienſt beſucht, ſich das beſcheidene, äußere 
Anſehen eines Frommen gibt, auswendiggelernte Gebete herzu— 
ſagen pflegt, oft in der Bibel oder in andern Religionsbüchern 
liest, und die rauſchenden Vergnügungen vermeidet. Der Weiſe 
hält nur denjenigen für einen Chriſten, der in allen ſeinen Ge⸗ 
danken und Handlungen voller Menſchenliebe iſt, überall hilft 
und beiſteht, Keinen beleidigt, und ſo gleichſam nur in der Liebe 
lebt, das heißt, in Gott lebt und handelt. An ihren Früchten 
ſollt ihr ſie erkennen! 

Gott iſt die höchſte Weisheit, das heißt, Gott kann durch 
keinen Außenſchein getäuſcht und geblendet werden. Er kennt den 
wahren Werth aller lebloſen und lebendigen Dinge. Vor ihm 
gilt nicht das Anſehen der Perſon. Auf der Wage ſeiner Gerechtig⸗ 
keit find der königliche Scepter und der Stab des Bettlers von 
gleichem Gewicht; für ihn iſt das Zufällige keine Hauptſache. 

Aber der Sterbliche wandelt hienieden lange unter Tau- 
ſchungen. Denn es gibt ſich jeder Menſch Mühe, beſſer zu 
ſcheinen, als er iſt. Einer betrügt durch dieſen Schein den An⸗ 
dern. Wir wiſſen nicht, was die Menſchen ſind, ſondern nur 
was ſie ſcheinen. Wir beugen uns vor dem Irrthum, ſtatt vor 
der Wahrheit. Wir bemerken nur die zufälligen Nebendinge, 
ſtatt der Hauptſache dahinter. Wir ſtehen vor übertünchten Grä⸗ 
bern, aber ſehen nicht darunter die Verweſung und den Moder. 

Je richtiger ein Menſch andere Menſchen und die Dinge um 
ſich her würdigt, und je weniger er ſich vom Schein und der 
guten oder ſchlechten Außenſeite blenden läßt, je weiſer iſt der 
Menſch. 

Die Grundregel der Weisheit alſo iſt: Trenne den Schein 


Po 


vom Weſen! — nimm die Dinge für das, was fie wirklich find: 
nicht für das, was ſie ſcheinen. 

Dieſe Regel begreift den Inhalt aller Weisheit in ſich. Wer 
ſie überall erfüllen kann, der iſt der Weiſeſte. Schon in zarter 
Jugend ſollen wir fie unſern Kindern geben; jo werden fie un— 
aufhörlich nach Weisheit ringen; werden nicht den Traum für 
Wachen halten, das wahre Glück nicht außer ſich in andern 
Dingen, ſondern in dem Werth ihres Herzens ſuchen, und das 
ſüße Gift der Laſter Gift nennen, fo ſüß es auch immer ſei. 

Dieſe Regel begleite jeden Menſchen von einem Tage zum an— 
dern über, wenn er Anſpruch darauf macht, ein Weiſer zu werden. 
Nur damit entweicht er tauſend Gefahren, Leiden und Sorgen 
des Lebens; denn was uns hienieden unglücklich macht, iſt immer⸗ 
dar Irrthum. Nur weil wir die Erſcheinungen des Lebens uns 
richtig anſehen, uns keine Mühe geben, ſie richtig zu erkennen, 
behandeln und empfangen wir ſie falſch. Daraus entſteht unſere 
Qual. Wir fürchten alſo den Schatten mehr, als die Sache; 
wir ängſtigen uns mehr vor dem Traum, als vor der Wahrheit. 

Wir leiden mehr über den Verluſt des eingebildeten, als des 
wahren und ewigen Gutes. 

Dieſe Regel iſt die Saule des wahren Chriſtenthums. Denn 
was iſt Chriſtenthum anders, als die allein wahre, ächte Gottes⸗ 
weisheit für den Menfchen? — Nur in der Erfüllung dieſer 
Regel bekommt der Menſch eine hohe Kraft und innere Größe. 
Er erhebt ſich über den Schein und Trug, und ſieht den Irr⸗ 
thum von Tauſenden. — Er gewinnt eine Selbſtſtaͤndigkeit, 
die ihm nichts Anderes geben kann. Er weiß, was irdiſches Glück 
und irdiſches Unglück ſei, und beides kann ihn nicht aus ſeiner 
Gemüthsruhe verdrängen. Er hängt von keinem Zufall ab; denn 
er hängt nur an dem, was ewig wahr, ewig gut, ewig beſeligend 
iſt — er hängt an Gott und der ewigen großen Beſtimmung 
ſeiner Seele. Er bekommt dadurch jene Religioſitaͤt, die den Nach⸗ 
folger Jeſu bezeichnet. Er genießt die Annehmlichkeiten des Le⸗ 
bens, ohne ſie für mehr als eine vorübergehende Erquickung ſeines 
Körpers zu halten. Er leidet jedes unverſchuldete Unglück als 


— 76 — 


Vollziehung der Rathſchlüſſe einer göttlichen Vorſehung zu ſei⸗ 
nem Heil. 

Er lebt, wie Chriſtus, nur um wohlzuthun Andern; nicht 
um ſich zu erheben über Staub und Tand, oder Würden und 
Reichthum zu ſammeln, die er nach wenigen Jahren wieder an 
die Welt zurückgeben muß. Was der unendliche Gott dem uner⸗ 
meßlichen Weltall iſt, das iſt er dem Menſchen i in ſeinem kleinen 
Wirkungskreiſe hienieden. Das heißt in Gott leben, daß iſt das 
wahre Chriſtenthum. 

Trenne den Schein vom Weſen in der Beurtheilung dei⸗ 
ner Mitmenſchen. Entziehe zwar nicht den verſchiedenen Staͤnden 
denjenigen Zoll von Hochachtung, welcher in der bürgerlichen 
Geſellſchaft eingeführt und üblich iſt; aber bringe der Tugend 
deine Bewunderung und Liebe, wo Du ſie findeſt, gleichviel, im 
Palaſt oder in der Hütte des Armen. Sieh nicht auf das Kleid, 
auf die Geburt, auf die Herkunft, auf den Stand, auf das Ver⸗ 
mögen, auf die Würde des Mannes, ſondern auf ſeine Verdienſte, 
auf ſeine vorzüglichen Eigenſchaften. Verdamme Niemanden um 
des Scheins willen, ehe du die Urſachen genau kennſt, warum der, 
den du tadeln willſt, ſo und nicht anders gehandelt hat. Laß dich 
nicht durch Worte zu vertraulicher Freundſchaft mit Jemanden 
verführen, deſſen Herz du nicht kennſt, und deſſen Abſichten dir 
fremd ſind. Halte nicht Maßregeln deiner Obrigkeiten für un⸗ 
gerecht, jo lange du ihre Zwecke zu prüfen nicht Gelegenheit hatteft. 

Indem du ſo im Umgange mit den Menſchen überall das 
Wahre aufſuchſt, und den Schleier der Taͤuſchung zu zerreißen 
ſuchſt, wird dein Gemüth ſelbſt wahrhaft werden, ſo wie Gott 
wahrhaftig iſt. Du wirſt mit Offenheit und Ehrlichkeit ſprechen und 
thun, doch nicht ohne Vorſichtigkeit wegen derer, die deine Offen- 
heit mißbrauchen koͤnnten. Es wird dich anekeln, vor den Leuten 
zu ſcheinen, mehr als du biſt, oder anders und beſſer als du biſt. 
Es wird dir ein Gräuel fein, Andere mit dir zu täufchen; ſondern 
du wirſt nur gelten wollen vor Gott, der ins Verborgene ſieht. 
(Matth. 6, 18.) 

Trenne den Schein vom Weſen! Dieſe Worte ſind das 
Schild deiner Glückſeligkeit, wenn du ſie recht verſtehſt und ihren 


ana; AL 


Sinn recht erfüllſt, und um ſie recht zu verſtehen, gehe in dich 
ſelbſt zurück, und denke an die Tage, da du dich für unglücklich 
hielteſt, folglich mit deinem Zuſtande nicht zufrieden warſt. — 
Woher entſtand wohl größtentheils deine Unzufriedenheit? War 
es nicht oft, weil du meinteſt, du würdeſt glücklicher ſein können, 
wenn du in einer andern Lage wäreſt, wie dieſer oder jener deiner 
Bekannten? Oder wenn du mehr Vermögen hätteſt? Oder wenn 
du nicht vor der Zukunft in Sorgen ſein müßteſt? Oder wenn 
du dir noch dieſe oder jene Ergötzungen verſchaffen könnteſt? — 
Haft du nicht oft das Glück, das Vermögen, die Verhaͤltniſſe An- 
derer dir ſelbſt heimlich gewünſcht, und dich bedauert, daß du es 
nicht ſo gut haben konnteſt, wie ſie? 

Ach, lieber Unzufriedener, du urtheilteſt nach dem Schein, 
und hielteſt ihn für das Weſen! Diejenigen, welche du in der 
Stille deines Herzens beneidet haſt, waren vielleicht unglücklicher, 
als du; unter Gold und Seide wohnt oft großer Gram und Ver⸗ 
druß; du ſprichſt freilich: welche Urſachen hätten auch dieſe Leute, 
unzufrieden zu ſein? Wenn ſie unglücklich ſind, ſo ſind ſie es 
durch ihre Thorheit. — Wohlan denn, wenn es dir an Glück 
und Zufriedenheit fehlt, iſt daran nicht auch deine eigene Thor⸗ 
heit ſchuld? Auch du haſt ja Vorzüge und Glücksgüter, die vielen 
Andern fehlen, und um die dich die Aermern und Geringern be- 
neiden. — Hätte ich nur, ſo ſprechen gewiß auch Andere von 
dir, haͤtte ich nur, was er hat, wie glücklich könnte ich ſein! 

Mit wunderbarer Weisheit gab Gott jedem Stande, jedem 
Alter, jedem einzelnen Tage ſeine beſondere Luſt, ſeine beſondere 
Noth. Darum beneide Niemanden, denn der Schein betrügt dich, 
und Niemand iſt dir Bürge, daß dn unter andern Umſtänden 
nicht noch empfindlicher in mancherlei Schmerzen und Uebeln 
ſein würdeſt. 

Trenne den Schein vom Weſen, wenn du nach irgend 
etwas mit Begierde verlangſt, was du für das höchite Gut des 
Lebens hältſt. Hüte dich, dasjenige für das vollkommenſte Gut 
zu halten, was deiner Einbildung angenehm ſchmeichelt, ſo lange 
du es nicht haſt, und was dir gleichgültig werden kann, wenn 
du im Beſitz deſſelben biſt. — Hüte dich, dasjenige für dein höch⸗ 


u TB m 


ſtes Glück zu halten, was zwar an ſich glänzend ſcheint, aber 
doch nicht im Stande wäre, dir jede Stunde deines Lebens zur 
frohen Stunde zu machen. — Hüte dich, dasjenige für das wün⸗ 
ſchenswertheſte Gut zu halten, woran du mit dem ſpäteſten Alter 
alle Freude verlörſt, oder was dir Menſchenhände, Kriegsunfälle 
rauben können, und für deſſen bleibenden Beſitz du keinen ein- 
zigen Tag vollkommen ſicher biſt. 

Entzückt dich vielleicht die Hoffnung großen Reichthums und 
Gewinns? — Was würden die Haufen Goldes frommen, wenn 
du deines Vermögens willen Neid und Verfolgung litteſt? was 
die ſeidenen Polſterkiſſen, wenn du als Kranker auf ihnen ſchmach⸗ 
teteſt? was aller Glanz und alle Pracht, wenn du durch des 
Todes Hauch deine geliebteſten Freunde einbüßteſt? Könnte dich 
dein Gut tröſten? Würde dir dein Reichthum die vielleicht ſchon 
nahe Sterbeſtunde verſüßen oder erſchweren? 

Entzückt dich vielleicht die Hoffnung größerer Ehren? — 
Warum blickſt du nach der glänzenden Außenſeite? Wärſt du 
auch in der That höherer Ehren würdiger, als ein Anderer: 
wollteſt du den Verdienſtvollen wohl zurückdrängen? — Hängt 
ſich nicht der Haß am liebſten an jene, die vor der Welt eine Aus⸗ 
zeichnung genießen? Iſt nicht der Schatten da am ſchwärzeſten, 
wo das hellſte Licht hinfaͤllt? — Sind Verdruß und Sorgen 
nicht mit den hoͤhern Würden häufiger verbunden, warum treten 
denn, des Geräuſches müde, erhabene Männer oft ſo gern in die 
beneidenswürdige Ruhe des Mittelſtandes zurück? Warum haben 
denn ſo manche Fürſten ihre Kronen freiwillig niedergelegt, um 
in der unbemerkten Einſamkeit ſich ſelber leben zu können? 

Trenne den Schein vom Weſen, und halte nur dasjenige 
für das höchſte Gut, was eben nicht ſchimmert, aber dir zu 
deiner Glückſeligkeit deſto mehr leiſtet; was im Stande iſt, dir 
im Reichthum oder in Armuth, in hoher Würde oder in Nied— 
rigkeit, in der Fülle deiner Geſundheit, oder auf dem Kranken⸗ 
bette, in den Jugendtagen, oder unter den Gebrechlichkeiten des 
Alters, immerwährende Luſt, tiefe, innige Ruhe und Selbſt⸗ 
zufriedenheit, Achtung und Ehrfurcht vor guten und ſchlechten, 
vornehmen und geringen Menſchen zu verſchaffen; ja, was dir 


— 0 — 


ſelbſt Gewißheit gibt, du ſeieſt Gott, dem Ewigen, dem Heiligen, 
angenehm. — Und wie heißt dies erhabene Gut, dies Kleinod, 
mehr als eine Königskrone, mehr als eine Tonne Goldes werth? 
Es heißt Chriſtusweisheit, Gottähnlichkeit im Sinne und 
Wandel, ſtille Religioſität des Herzens. — Dies Gut raubt 
dir kein Sturm des Lebens; vergeht nicht mit der Blüthe der 
Jugend; dies iſt das Reich Gottes, in welchem nur veredelte 
Geiſter glänzen und wohnen, in welchem Gott allein herrſcht 
und waltet, und das Glück der Seelen unwandelbar lacht. Nach 
dieſem trachtet! (Matth. 6, 33.) — Weltliche Würden, Güter 
der Erden ſind nicht einmal Hilfsmittel zur Erlangung dieſes 
höchſten Gutes, ſondern in den Händen des Weiſen, des Gott⸗ 
menſchen nur Werkzeuge zur Beförderung nützlicher und wohl⸗ 
thätiger Abſichten. So iſt die ganze Schöpfung Gottes nur Werk⸗ 
zeug des Ewigen zur Beſeligung der von ihm erſchaffenen Geiſter. 

Welch ein begeiſternder, über Welt und Staub und Grab 
erhebender Gedanke! — Hier iſt Weſen und Wahrheit, nicht 
mehr Schein und Selbſttauſchung! Wie mag die menſchliche 
Seele, wenn ſie dieſes Gut nur einmal erkennt, ferner ſich um 
leeres, nichtiges Schattenwerk quälen, welches, kaum erhalten, 
ſchon verſchwindet? 

Trenne den Schein vom Weſen, indem du den Werth 
dieſes Lebens und das beurtheilſt, wozu du in der Welt be⸗ 
ſtimmt zu ſein glaubſt. 

Ach, wie entfernt von der Chriſtusweisheit leben doch die 
meiſten derer, die ſich Chriſtus-Jünger nennen! Sie treten in 
die Welt, ſie werden zu einem Beruf erzogen, ſie wählen ihren 
Beruf, ſie arbeiten in demſelben; ſie leben nur für dieſen Beruf, 
leben nur von und für den Gewinn, welchen ſie daraus ziehen; 
denken kaum etwas Anderes; freuen ſich, wenn es ihnen darin 
glückt; werden kalt; können nicht mehr genießen, was ſie mühſam 
errungen haben; hinterlaſſen es den Erben, und geben ihren 
Geiſt auf. 

Dies iſt die Geſchichte der meiſten Menſchen. Sie verwech⸗ 
ſeln das Zufällige mit dem Wahren, das Verſchwindende mit 


3 


dem Ewigen. Sie leben für das Irdiſche, als würden ſie nie 
ſterben, und ſterben, als würden ſie nie leben. 

Wenn aber der Menſch hienieden zu keinem andern Zweck 
vorhanden iſt, als für einen qualvollen, flüchtigen Traum von 
fünfzig oder ſechszig Jahren, — als für Güter, die ihm nicht 
gehören und bleiben, — als für Freuden, die ſchneller vorüber- 
gehen, denn kommen: wahrlich, für ein ſolches Leben wäre es 
nicht der Mühe werth, geboren zu ſein, und Millionen Sterb⸗ 
lichen würde es wohler geweſen fein, wenn fie nie vorhanden ge⸗ 
weſen wären. Aber dies Flüchtige, dies Vergängliche in den 
Lebensſtunden, mahnt nicht gerade dies unſern Geiſt am lauteſten 
an das Wahre und Bleibende? Der gottgeſchaffene Menſch iſt 
Geiſt und ewig in Gottes ewiger Schöpfung; hier ſoll er ſich im 
Wohl und Weh, im Licht und Schatten zu ſeiner Vollkommen⸗ 
heit entwickeln. Er ſoll nicht dem Staube außer ihm, er ſoll 
ſeinem ewigen Ich leben. Er gehört ſeiner Natur nach zu keiner 
Körperwelt, er gehört einer Geiſterwelt an. Zu dieſer empor winkt 
ihm Gottes Hand; zu dieſer empor ruft ihm Chriſti Stimme. — 
Warum vernehmen wir des theuern Hirten Stimme nicht? 

Ich höre ſie, o Jeſus, überirdiſcher Lehrer, Deine Stimme! 
Ich ſehe ihn, o Vater der Geiſter, Deinen Wink der Liebe! — 
Empor, empor, zur Vollkommenheit, zur Verklärung meines 
Selbſtes forderſt Du mich! — Ich will mich nicht an dies Ir⸗ 
diſche ketten. Inſofern ich mit meinem Körper hienieden der 
Welt zugehören muß, gehöre ich ihr, lebe ich ihr — doch meine 
Seele ſtrebt empor zu Dir, zu Deinen herrlichen Geiſtern, — 
ſie gehört einer Ewigkeit, die jetzt ſchon für ſie begonnen iſt, — 
zu einer Ewigkeit, von der das Leben nach dem Tode nur Fort- 
ſetzung iſt; zu einer Ewigkeit, wo der Edelſte, der Heiligſte Dir 
am nächſten ſteht; zu einer Ewigkeit, der Du mich ſchon geweiht 
haſt, ehe ich geboren war hienieden, und zu deren vollkommenem 
Genuſſe ich mich durch Chriſtus-Weisheit vorbereitete. 

Dieſe Weisheit beherrſche nun mein Gemüth, denn ſie kommt 
von Dir! Du offenbarteſt ſie durch Jeſu Mund, Du offenbarſt 
ſie durch das Mittel jeder menſchlichen Vernunft allen Sterb⸗ 
lichen! 


8 


Wohl wandle ich hienieden unter mancherlei Taͤuſchungen; 
wohl halte ich oft den Irrthum für Wahrheit, das Uebel für ein 
Gut, das Nichtige für eine Hauptſache. Ach, der Geiſt des Men- 
ſchen, wie iſt er oft ſo ſchwach! Aber, wenn meine Begierden 
und Wünſche am heftigſten werden, wenn mich meine Sehnſucht 
irgend wohin am mächtigſten treibt — dann will ich mich faſſen, 
dann mich fragen: Wohin trachteſt du fo eifrig? Ziehe die ſtille 
Ruhe deines Geiſtes allem Andern vor. Kein Glück iſt größer, 
als dieſes; verliere es nie, auch nicht für den glänzendſten 
Preis! — Dann, dann werde ich den Schein vom Weſen trennen, 
und zufriedener und glücklicher ſein lernen. 

Gott, verleih mir Deine Kraft, verleih mir Deinen Segen! 
Amen. 


10. 


Der Streit der Pflichten. 
Matth. 22, 37 — 40. 


Wenn ich in meinen Pflichten wanke, 
Und irre bin in ihrer Wahl, 

Dann, Gott, dann ſei Du mein Gedanke, 
Und ſende mir des Geiſtes Strahl. 


Dann werde ich ſo leicht nicht irren, 
Erkennen bald die größ’re Pflicht, 
Kein Eigennutz wird mich verwirren, 

Der gern das ſchwache Herz beſticht. 


Es gibt nur ein Chriſtenthum, auch wenn es in der chriſtlichen 
Kirche mehrere Meinungen, mehrere Parteien und Sekten in 
Glaubensſachen gibt. 

Es gibt nur ein Chriſtenthum, und wer ein Genoffe deſſel⸗ 
ben iſt, muß, um wahrer Chriſt zu ſein, beide Haupttheile der 
Religion zu ſeinem Eigenthum machen können, den Glauben 
und die That. 

Die That ohne den Glauben kann den Menſchen eben ſo 
wenig beſeligen, als der Glaube ohne That. 

Wer alle ſeine Pflichten mit ſtrenger Gewiſſenhaftigkeit voll⸗ 


— 82 — 


bringt; wer keinem ſeiner Brüder ſchadet; wer jedem, der mit ihm 
in Verbindung ſteht, angenehm, wohlthätig und nützlich iſt; wer 
ſich ſogar für das allgemeine Wohl großmüthig aufopfert — und 
er hat den Glauben nicht, iſt zu beklagen; denn er iſt ein Un⸗ 
glückſeliger, der auf Erden, von Zweifeln aller Art gefoltert, 
mit ungewiſſen Blicken in die Zukunft hinausſtarrt. — Nur der 
glaubende Chriſt hat einen ewigen, ſtillen Troſt in ſeiner Bruſt, 
den Troſt göttlicher Offenbarung. Nur der glaubende Chriſt 
hat durch Jeſum Muth in allen Fällen des Lebens und Freudig⸗ 
keit im Tode. Nur ſein Glaube erhebt ihn über jedes Ungemach, 
und gewährt ihm jene erhabene Zuverſicht, welche auch dem 
Weiſeſten der Heiden fehlte. Nur durch dieſes frommen Glaubens 
Licht erheitern ſich die Nächte ſeiner Schickſale, verklaͤrt ſich ihm 
das ganze Weltall, löſen ſich die Räthſel dieſes Erdentraums, 
und erſcheint ihm eine liebende, Alles umfaſſende, für Alles 
ſorgende, Alles mit Weisheit leitende, Alles beſeligende Gott— 
heit, zu welcher wir in himmliſcher Kindſchaft rufen können: 
Abba, lieber Vater im Himmel! — Nur durch Jeſu Wort und 
Blut iſt ihm die theure Bürgſchaft von der Ewigkeit ſeines Heils, 
von der Gnade des Allbarmherzigen, und den Freuden einer 
beſſern Welt nach den Tagen dieſes Staubes, zu Theil gewor- 
den. Nur durch den Glauben ſeiner Religion iſt er gegen den 
Sturm der Welt ſtark, und gegen die Empörung feiner Leiden⸗ 
ſchaften allezeit gewaffnet. Die alleredelſten und frömmſten 
Grundſätze und Entſchlüſſe haben keinen feſten Grund und können 
leicht zerrüttet werden — denn wie mächtig iſt der Reiz der Ver— 
führung und des Beiſpiels, wie ſchwach oft die Vernunft, wenn 
fie nicht auf religiöſer Ueberzeugung beruht! 

So wenig aber die That ohne den Glauben an Jeſu Offen⸗ 
barungen uns vollkommen zu beſeligen im Stande iſt, eben ſo 
fruchtlos iſt der Glaube an Jeſum ohne die That. 

Wahrlich, und es finden ſich noch heutiges Tages, wie zur 
Zeit unſers Erlöſers, weit mehr Menſchen, die da hoffen, ſelig 
zu werden durch das bloße Glauben, durch das Herr-Herr— 
Sagen, durch die Beobachtung äußerer gottesdienſtlicher Uebun⸗ 
gen, durch Verrichtung von Gebeten und durch Spielen mit 


— 


8 


religiöfen Gefühlen, als ſich Menſchen finden, die Chriſti Lehren 
des Heils in tugendhaften Thaten und Gedanken auszuüben, 
ohne an ihn zu glauben. 

Denn es iſt dem zum Guten trägen Menſchen leichter, Worte 
zu reden, als Thaten zu üben; es tft ihm leichter, äußere Ge- 
bräuche zu beobachten, als innere ungerechte Neigungen 
zu bekämpfen. Es iſt ihm leichter, ſich auf die Fürbitte der Hei⸗ 
ligen oder auf das Gebet der Frommen, auf das Verdienſt und 
die Gerechtigkeit Jeſu zu verlaſſen, als den Willen des Vaters 
im Himmel zu thun, und vollkommen zu werden, wie er. Sie 


ſprechen gern von den Wunden Jeſu, aber ihr eigenes Fleiſch und 


ihre Begierden zu kreuzigen, das heißt, ihrem Hang zur Wolluſt, 
zur Habſucht, zum Ehrgeiz, zum Neid, zum Trunk, zur Ver⸗ 
leumdung, zum Haß, Gewalt anzuthun, das fällt ihnen ſelten ein. 

Aber nicht euer Beobachten gottesdienſtlicher Handlungen, 
nicht die äußere Ehrbarkeit, nicht das Spiel mit füßen religiöfen 
Gefühlen, nicht das Herr-Herr-Sagen, nicht das Hineinflüchten 
in die Wunden Jeſu, und der Gebrauch anderer bildlicher Aus- 
drücke, die keine klare Vorſtellung gewähren — nicht alles dieſes 
und Anderes hilft zur Seligkeit, ſondern, ſagt Jeſus Chriſtus, 
die den Willen thun meines Vaters im Himmel, die 


ſind Gott angenehm! — Nicht an ihren Worten, an ihren 


Meinungen, Auslegungen, ſondern an ihren Früchten, das heißt, 
an ihren Thaten, ſollt ihr fie erkennen! (Matth. 7, 20. 21.) 


Zwar auch die heiligen Apoſtel empfehlen in ihren Briefen 


an die damaligen chriſtlichen Gemeinden die Angelegenheiten des 


Glaubens, und reden von ihm, von der Perſon Chriſti, als dem 


Herrn und Grund des Heils, von der Gerechtigkeit des Glaubens, 
von der Fruchtbarkeit des Evangeliums, von dem Verdienſt des 
Opfertodes Jeſu; ſie ſprechen ausführlicher darüber, als Jeſus 
Chriſtus ſelbſt oft gethan. Aber ihr Werk war, erſt Heiden 
oder Juden zur chriſtlichen Religion zu bekehrenz dieſen, die 
gleich den Galatern oft abtrünnig wurden, mußten fie den Glau- 


ben an Jeſum vorzüglich einſchaͤrfen und lebendig machen; aber 


' 


dennoch verſäumten fie auch nie, den andern Haupttheil der chriſt⸗ 
lichen Religion eben ſo nachdrücklich zu predigen. Wenn ſie im 


a 

erſten Theile ihrer Briefe die Glaubenslehren erklaͤrt hatten, 
dann drangen ſie am Schluſſe ihres Schreibens auch ganz vor⸗ 
züglich auf die That, auf die Werke der Gottſeligkeit. Sie 
nannten, ſie ſchilderten muthig die Reihe der damals im Schwange 
gehenden Laſter, und ſtellten denſelben die chriſtlichen Tugenden 
entgegen. Sie ermahnten zum Glauben und zur Liebe Gottes, 
aber fie erklaͤrten feierlich: Das iſt die Liebe zu Gott, daß wir 
ſeine Gebote halten. (1. Joh. 5, 3.) 

Darin alſo offenbart ſich die wahre Nachfolge Jeſu, daß wir, 
als von Gott geboren, die Welt, das heißt, unſere irdiſchen ſchlech⸗ 
ten Neigungen, überwinden, und mit Liebe und Freundſchaft 
gegen die Menſchen handeln, wie Jeſus Jeden von uns geliebet 
hat, und noch liebet. — Denn ſo Jemand ſpricht, ich liebe Gott, 
und haſſet ſeinen Bruder, der iſt ein Lügner. (1. Joh. 4, 20.) 

Wenn wir unſere Pflichten als Bürger, als Haus vater und 
Hausmütter, als Gatten oder Kinder erfüllen ſollen: fo koſtet es 
nicht ſelten einen ſchweren Kampf mit uns ſelbſt, beſonders wenn 
unſere Eigenliebe ins Spiel tritt. In dieſem Kampfe iſt's, wo 
wir überwinden und unſer Chriſtenthum offenbaren ſollen! 

Mancher ſpricht: Ich thue, was ich kann, aber mehr kann 
Niemand von mir begehren. Ich gebe von meinem Ueberfluſſe 
den Armen, aber ich kann mir und den Meinigen doch auch nicht 
alle Freuden und Bequemlichkeiten entziehen. Wohl denn, aber 
wenn du dir einen Theil deiner Bequemlichkeiten in dieſen Tagen 
allgemeiner Noth entzögeft, und könnteſt damit eine arme Familie 
aufrecht erhalten, und vor dem Bettelſtab bewahren: ſagt dir 
nicht dein Gewiſſen, du hätteſt ein ächt chriſtliches Werk gethan? 

Ein Anderer ſpricht: Ich will meinem Feinde verzeihen; ich 
weiß, er ſpricht übel von mir, er ſucht mich überall zu verdraͤn⸗ 
gen und zu verkleinern; er würde mir ſchaden, wo er nur konnte. 
Ich will ihm verzeihen; aber Niemand verlange, daß ich mich 
mit Liebkoſungen zu ihm dränge, daß ich mich für den Menſchen 
aufopfere, der nur hohnlachen würde, wenn er ſaͤhe, wie ich zu 
Grunde ginge. — Wohl denn, du ſollſt und magſt allerdings 
mit Klugheit dich gegen deinen Feind betragen; aber berechtigt 
dich dieſes, in heimliche Verwünſchungen gegen ihn auszubrechen? 


a 


Berechtigt dich dieſes zur Schadenfreude, wenn ihm etwas Un⸗ 
angenehmes widerfährt, daß du ſprichſt: Er hat's um mich ver⸗ 
dient! Berechtigt es dich, nichts zu thun, wenn es bei dir ſtaͤnde, 
ihm, auch ohne daß er jemals es erfaͤhrt, Nutzen und Vortheil 
zu ſtiften? — O verbirg dich, ſchwacher Menſch, und brüſte dich 
nicht mit deiner Religion, mit deinem Glauben, mit deinen Ge⸗ 
beten, mit deinen Hoffnungen auf das Verdienſt und die Gr- 
rechtigkeit Jeſu — du biſt ſein Nachfolger nicht, du biſt kein 
Chriſt, und haſt keinen Theil an ihm. 

Am meiſten pflegen aber die Menſchen ſich gern ſelbſt zu 
täuſchen, wenn fie die Ausübung einer Pflicht vernachlaͤſſigen, 
unter dem Vorwande, daß ſie auch andere Pfichten auf ſich 
hätten. Sie machen mit dieſen Worten gleichſam eine Tugend 
zur Mörderin der andern, und bringen im Grunde nur ihrer 
Eigenliebe, ihrer Selbſtſucht, ein gefälliges Opfer. Sie 
gleichen den Phariſäern, die, um den Sabbath, den Tag Gottes, 
recht zu feiern, zu Ehren Gottes, die Unglücklichen lieber leiden 
laſſen wollten, als ihnen helfen, und durch Arbeit den Sabbath 
entweihen. (Matth. 12, 1 — 12.) 

Doch aber kann es auch dem froͤmmſten und tugendhafteſten 
Chriſten begegnen, daß er bei Ausübung einer Pflicht Gefahr 
läuft, eine andere zu verletzen, die ihm eben fo: heilig iſt. Dieſer 
Streit der Pflichten gegen einander verurſacht in zarten Ge⸗ 
müthern nicht ſelten den ſchmerzlichſten Kampf. — Aber ein ſtilles 
Nachdenken über dieſen wichtigen Gegenſtand führt uns bald zur 
Beruhigung, und die Ueberzeugung zerſtört den Zweifel. 

Was haben wir im Streite von Pflichten zu thun, 
die einander widerſprechen, und wo wir die eine nicht 
ausüben können, ohne die andere zu vernachläſſigen? 

Die einfache und kurze Beantwortung dieſer wichtigen Frage 
wird manchem zartfühlenden, chriſtlichen Gemüth, das ſchon in 
ähnlichen Verlegenheiten kämpfte, von großem Werthe ſein. 
Denn fie klärt uns über die Rangordnung unſerer Verpflich- 
tungen auf, und lehrt uns, vor den Eingebungen unſerer bered⸗ 
ſamen Eigenliebe auf der Hut zu ſein! 

Die Antwort aber liegt in den Worten Jeſu: Liebe Gott 


1 


über Alles, und dann erſt deinen Nächſten wie dich ſelbſt. 
(Matth. 22, 37 — 40.) 

Höher alſo, als Menſchenſatzungen, ſind Gottes Gebote. 
Kein Sterblicher, keine Obrigkeit, kein Monarch darf etwas an⸗ 
ordnen und befehlen, das den Geboten Gottes widerſpräche. Und 
wagte es ein Tirann, die göttliche Ordnung umſtürzen zu wollen, 
wagte es ein Sterblicher, dich zu einem Verbrechen gegen Gott 
zwingen zu wollen, dann iſt die Wahl nicht mehr ſchwer: du 
ſollſt Gott mehr gehorchen, als den Menſchen! 

Das heilige Leben der Chriſten in den erſten Jahrhunderten 

gibt uns zahlloſe Beiſpiele von der Treue der Chriſten zu Gott. 
Sie opferten Freunde und Verwandte, Eigenthum, Aemter, 
Reichthum, Ehre, Vaterland — ja ſelbſt das Leben auf, wenn 
ein Tirann ſie zwingen wollte, Jeſum zu verläugnen, oder eine 
andere Religion anzunehmen. — Man ſoll Gott mehr gehorchen, 
als den Menſchen; darum verlor manche tugendhafte Jungfrau 
lieber ihr Leben, als ihre Unſchuld durch den Machtſpruch eines 
gefühlloſen Barbaren. Du ſollſt Gott mehr gehorchen, als den 
Menſchen, darum verweigere Jedem den Gehorſam, der dich zu 
einer Sünde nöthigen will. 
Doch, dem Himmel ſei Dank, nur dokn haben wir in uns 
fern Tagen, und beſonders in chriftlichen Ländern, gegen der— 
gleichen Befehle zu kämpfen, die wider Gott, Natur und Ver⸗ 
nunft ſtreiten. Mehr haben wir gegen unſere Eigenliebe den 
geheimen Krieg zu führen, wenn ſie ſich anmaßt, den Streit 
zwiſchen einander widerſprechenden Pflichten zu ſchlichten. Darum 
gehe ich zur andern Hälfte des Spruches Chriſti über. 

Du ſollſt deinen Nächſten lieben, wie dich ſelbſt. 
Ich habe folglich bei mir ſelbſt gar keinen Vorzug vor Andern. 
So ſehr ich mich liebe, eben ſo ſehr ſoll ich auch jeden Andern 
lieben. Auf dieſem heiligen Grund, den Jeſus ſelbſt gelegt hat, 
beruht nun mein Benehmen im Streite der Pflichten. 

1) Sei erſt gerecht gegen Andere, und dann erſt gütig 
gegen dich ſelbſt; das heißt, thue allemal erſt gegen Andere, 
was ſie ein Recht haben, von dir zu fordern und zu erwarten, 
und dann erſt thue das, was dir ſelbſt Nutzen bringt. Bringe 


4 


alſo Keinen um ſein Brod, um dir ſelbſt Ueberfluß zu verſchaffen; 
ſtürze Niemanden in feinem Amte, um dir eine höhere Stelle zu 
verſchaffen; laſſe Niemanden verhungern, um dir von deinen Be⸗ 
quemlichkeiten keinen Abbruch zu thun; ſondern laſſe Jedem was 
ihm gebührt: ſo biſt du nur gerecht gegen ihn, und noch gar 
nicht gütig und wohlthätig. 

Sei erſt gerecht gegen Andere, dann gütig gegen dich: ſtille 
erſt die dringendſte Nothdurft deines Nächſten, dann thue dir 
ſelbſt mit deinem Ueberfluſſe wohl. Bekleide erſt den Nackten, 
dann gib dir ſelbſt erſt Anmuth durch ſchönere Gewänder und 
Hausgeräthe; laſſe erſt den Verdienſten Anderer Gerechtigkeit 
widerfahren, dann erſt freue dich der Vorzüge, die dich ſchmüͤcken; 
mildere erſt die Schmerzen und Leiden Anderer, dann erſt gönne 
dir ſelbſt Vergnügen. — Was Andern nothwendig, was Andern 
unentbehrlich iſt, das mußt du ihnen zuerſt gewähren, dann erſt 
kannſt du dir gütlich thun mit dem minder Nothwendigen und 
mit Dingen, die du allenfalls entbehren könnteſt. Denke dich in 
ihre Lage, und welche Forderungen du an die Menſchlichkeit und 
Gerechtigkeit deiner Mitbrüder thun würdeſt. Nun wohlan denn, 
was du willſt, das dir die Leute thun ſollen, das thue ihnen auch. 

2) Sei gerecht gegen dich ſelbſt, ehe du gütig gegen 
Andere biſt. Du ſollſt Andere lieben, wie dich ſelbſt, aber du 
ſollſt auch dich lieben, wie Andere. Wenn du deine Ehre, deinen 
guten Namen, die Achtung, welche du zu fordern berechtigt biſt, 
muthwillig aufopferſt, um Andern, daß ſie dich zum Gegenſtand 
ihres Spottes erniedrigen, eine vorübergehende Freude zu machen: 
ſo biſt du ungerecht gegen dich ſelbſt, um Güte für Andere zu 
haben. Wenn du deine eigenen nothwendigen Geſchäfte ver— 
ſäumſt, um Andern in Dingen zu dienen, die ihnen ohne Scha⸗ 
den auch wohl entbehrlich fein könnten: fo biſt du ungerecht gegen 
dich, um Anderer Ueberfluß zu vermehren. Wenn du dir ſelbſt, 
deiner Familie, deinen Kindern das zum Lebensunterhalt und 
anſtändigen Fortkommen nöthige Vermögen ſchmaͤlerſt, um An⸗ 
dern, die deſſen nicht fo nöthig bedürfen, Geſchenke zu machen: 
ſo biſt du ungerecht gegen dich und die Deinigen und, wenn gleich 
bei den beſten Abſichten, ein Verſchwender, zum Beſten ſolcher, 


- Mr 


die ohnehin nicht darben würden. Wenn du beſcheiden zurück⸗ 
trittſt, während ein Anderer ein Amt begehrt, dem du gewachſen 
biſt, wenn Jener ſchon Amt und Brod hat, während du mit den 
Deinigen noch Noth leideſt: ſo iſt deine Beſcheidenheit eine Un⸗ 
gerechtigkeit gegen dich, während du dem Vortheil ſchaffeſt, der 
ihn ſchon hat. 

Dieſer einfache Grundſatz alſo: immer das Nothwendige, das 
Unentbehrliche, das Gerechte zuerſt zu thun, und dann erſt gegen 
ſich oder Andere Billigkeit, Gütigkeit und das Ueberflüſſige zu 
uͤben, wird uns, wenn wir ihn mit Klugheit befolgen, beim 
Streit der Pflichten immer zu der beſſern Wahl führen. 

3) Weil wir aber Andere lieben ſollen, wie uns ſelbſt, ſo 
geht daraus auch die Pflicht hervor, daß, wo wir mehrern 
Andern einen entſchiedenen Nutzen ſtiften können, wir 
unſern eigenen Nutzen hintanſetzen müſſen. — Jeder 
Menſch iſt nur ein Theil der menſchlichen Geſellſchaft; er muß 
ſich ſelbſt alſo im Fall der Noth willig für das Ganze aufopfern, 
und nicht verlangen, daß das Ganze aufgeopfert werde für 
den Theil. 

Willig und freudig alſo ſoll der Chriſt, wenn das Ganze in 
Gefahr iſt, ſeine eigene Sicherheit verachten; er ſoll, wenn das 
Vaterland feiner Unterſtützung bedarf, mit Freuden feine Bei⸗ 
ſteuer, ſeine Abgaben entrichten, wenn ſie gefordert werden, ja 
er ſoll durch fein patriotiſches Beiſpiel Andere ermuntern; er ſoll, 
wenn das Vaterland mit dem Untergange bedroht iſt, und ſeinen 
Arm zur Vertheidigung begehrt, willig hineilen, und das Glück 
des Landes durch ſein Blut zu erkaufen ſuchen. 

Darum ſeid ihr uns und allen Zeitaltern und Nachkommen 
immerdar ehrwürdig, ihr hocherhabenen Menſchen, die ihr euch 
und eures Lebens Ruhe und eures Lebens Freuden muthig zum 
Opfer dargebracht habet für das Glück der Zeitgenoſſen! Darum, 
verherrlichen wir eure Namen, theure Helden, die ihr in den 
ſchönen Tod fürs Vaterland geeilt ſeid! Darum preiſen euch, ihr 
heiligen Männer, unſere Lobgeſänge, die ihr fur die Wahrheit 
der Religion euer Leben hingabet, und ven n derſelben mit 
euerm Blute beſiegeltet. 


„ - He 


O Gott, laß auch mich in den Stunden einer großen Prüfung 
dieſen chriſtlichen Heldenſinn beweiſen! Ferne von meinem Herzen 
ſei die kalte Selbſtſucht, die niedrige Eigenliebe, die nur dann 
Andern nützlich ſein will, wenn ſie ſelbſt dabei Vortheil ziehen 
kann; die von keinen Selbſtaufopferungen weiß, und das Geld 
höher als Tugend, die weltliche Ehre höher als die ewige Wahr⸗ 
heit, das Leben höher als die Unſchuld und Heiligkeit des Ge⸗ 
müthes ſchaͤtzt. 


11. 
Der Menſch und ſein e That. 


Spr. Sal. 16, 3. 


Wie ſtolz gehſt du, o Sterblicher, 
Auf deine eig'ne Kraft daher! 
Wie ſtegreich herrſchen deine Blicke, 
Wie trotzeſt du der Zukunft Tücke! 
Doch ach! ein Athemzug, der fehlt, 
Hat dich und deinen Stolz entſeelt. 


Kühn hebſt du dein Beginnen an, 
Denn wohlberechnet iſt dein Plan; 
Haſt tiefen Blick und Löwenkräfte, 
Und doch mißlingen die Geſchäfte! 
Du haſt nur Willen, Gott hat Nath; 
Du haſt den Wunſch nur, Gott die That. 


Wer iſt es, der die Himmel lenkt, 
Und Freud und Leiden niederſenkt? 
Wer iſt's, der unſer Schickſal führet, 
Der Nationen Herz regieret? 

Wir haben Willen, Gott hat Rath; 
Der Menſch die Abſicht, Gott die That. 


Es iſt umſonſt! Wir ringen und ſtreben nach dem Beſſern, und 
arbeiten gegen den Strom der Ereigniſſe; aber die Wellen des 
Lebens ſchlagen hoch gegen uns an, und brechen, ach, oft nur u 
früh, unſere Kraft. Wie viel hundert Entwürfe machte ich nicht 
ſchon ſeit meiner Kindheit; wie viel tauſend Wünſche bewogen 
mich zu tauſend verſchiedenen Handlungen! Und was iſt aus den 
hundert Entwürfen und tauſend Wünſchen geworden? Oft ſah 
ein Tag ſie zugleich entſtehen und auch ſterben; oft trug ich ſie 


„ 


von einem Jahre feſt und treu in das andere hinüber, und ruhete 
nicht; und endlich, wenn ich glaubte, dem längſt begehrten Ziele 
nahe zu ſein, warf mich wieder ein kleiner, an ſich unſcheinbarer 
Zufall weit davon zurück, und ſeufzend gab ich die Hoffnung auf, 
die mich Jahre lang freute und täuſchte. 

Denke ich an die ſchönen Stunden meiner Kindheit zurück, 
o wie war doch da Alles anders! Wie ungeſtüm verlangte ich 
bald dies, bald das zu werden, bald dies, bald das zu haben! 
Von taufend Hoffnungen ging nicht eine in Erfüllung; eine ver— 
drängte die andere; Blüthen lachten in Fülle — aber ein leiſer 
Hauch des Himmels, und die alten fielen ab; ich ſah umſonſt 
nach den Früchten umher. 

Und ich ward älter, und meine Empfindungen wurden nur 
reizbarer: neue Begierden erwachten in meiner Bruſt; glänzendere 
Plane wurden emporgebaut, und mit allem Zauber geſchmückt, 
deſſen eine warme Einbildungskraft fähig iſt. Sehet die Jung⸗ 
frau, wie ſie ſich in ſtillen Träumen von ihrer Zukunft verliert, 
und dem Ziele ihrer geheimen Wünſche nachſtrebt. Sehet den 
Jüngling, der im hohen Gefühle ſeiner Freiheit und Kraft die 
ganze Welt mit ihrer Herrlichkeit offen vor ſich liegen ſieht, und 
Alles erringen zu können glaubt. Dann betrachtet neben dieſen 
noch in ihrer Einbildungskraft Beglückten den reifern Mann, die 
Hausfrau und Mutter. Sie gehen ſchon ernſter und gelaſſener 
neben den Saaten hin, die fie ausfäeten, von denen Tauſende 
im Keime ſtarben, Tauſende aufwuchſen, um vor ihrer Reife von 
einem unerwarteten Sturme geknickt zu werden. Ach, von den 
Kindern, die ihr Stolz ſein ſollten, liegen ſchon die geliebteſten 
im Grabe; von den Freunden, mit welchen ſie ein ſeeliges Leben 
zu durchleben gedachten, iſt ſchon mehr als die Hälfte von ihrer 
Seite verſchwunden; von dem Auſehen, von dem Wohlftande, 
von dem Wirkungskreiſe, auf welchen ſie ſich Rechnung machten, 
iſt kaum der Schatten erſchienen. 

Mit Entſagung wandelt der Greis dem Grenzſteine ſeiner 
Tage zu. Er blickt nur ungern hinter ſich zurück. Die Ver⸗ 
gangenheit iſt das Land der Täuſchungen, die Zukunft das Land 
der Hoffnungen. Er richtet ſeinen Blick über das Leben empor, 


„ Be 


dahin, wo die Tauſchungen enden müſſen. Er ſpricht: Ich hatte 
einſt Löwenkraft, ich hatte Rieſenmuth, ich hatte Vorſicht und 
eiſerne Beharrlichkeit — allein mein beſter Wille ward vereitelt, 
und meine Arbeiten hatten ganz andere Folgen, als ich von ihnen 
forderte. 

Es iſt wahr, es ſcheint nicht allen Menſchen ergangen zu ſein, 
wie mir. Es ſcheint, Viele haben ihre Abſichten vollkommen 
erfüllt, und haben erreicht, was ſie ſich vorſetzten, und ſind 
geworden, was fie werden wollten. Wenn ich aber ihre Lebens- 
umſtände genauer unterſuche, werde ich doch bei Allen mit Er- 
ſtaunen gewahr, daß ſie zu dem, was ſie erhielten, das Wenigſte 
beitrugen; daß ſie von beſondern Umſtänden auf eine außerordent⸗ 
liche Art begünſtigt wurden; daß fie oft ganz gegen ihre Abſich⸗ 
ten zu Dingen gebracht wurden, die nachher ihren Vortheil aus⸗ 
machten; daß Natur und Menſchen zuſammenwirkten, um ſie zu 
bereichern, ſie zu erheben, ihren Ruhm, Anſehen, Gewalt und 
Einfluß zu vermehren, während Andere, die vorher weit mach⸗ 
tiger, reicher und geachteter als ſie waren, alle ihre Macht und 
Klugheit ſcheitern ſahen, und von ihrer alten Höhe niederſanken. 

Die Wahrnehmung, wie ungleich der Erfolg menſchlicher 
Thaten war, und wie die Sterblichen gewöhnlich einen ganz an⸗ 
dern Gang zu gehen gezwungen ſind, als ſie einzuſchlagen Wil— 
lens waren — dieſe Wahrnehmung hat von jeher die Aufmerk⸗ 
ſamkeit und das Nachdenken der Menſchen beſchaftigt. Viele Völ⸗ 
ker des Alterthums, mit unvollkommenen Begriffen von der 
Gottheit, glaubten daher ein im Verborgenen waltendes, blindes, 
eiſernes Schickſal, welches die Begebenheiten des Himmels und 
der Erde regiere. Sie glaubten ein Schickſal, welches, ohne den 
Werth oder Unwerth der Menſchen und ihre Abſichten zu kennen 
oder zu achten, mit denſelben willkürlich ſpiele, wie mit willen⸗ 
loſen Maſchienen. 

Anders urtheilt der weiſere Chriſt auf der Stufe einer edlern 
Erkenntniß von Gott, dem allerweiſeſten und mächtigſten Herrn 
des Weltalls. Es iſt kein blindes Schickſal, welches, ohne von 
ſich ſelbſt zu wiſſen, und ohne Plan, mit dem Wohl und Weh 
der Menſchen tändelt: ſondern eine höchite Weisheit, welche wun⸗ 


au U ae 


derbar das Ganze, wie das Einzelne, das Schickſal des kleinſten 
Wurmes, wie des größten Volkes führt, damit Alles wohl er⸗ 
halten, Alles zu einer größern Vollkommenheit hinaufgeleitet werde. 

Der Menſch hat nichts in feiner Macht, als ſich ſelbſt. 
Nichts, als ſich ſelbſt; auch ſogar kaum dasjenige, was mit 
ihm am engſten verbunden iſt, ſein Leib, iſt beſtändig in ſeiner 
Gewalt. Nur er ſelbſt, der Menſchengeiſt, gehört ſich. Nur 
der Geiſt hat Willen. Er kann über ſich gebieten. Er kann ſich 
beſtimmen, nach ſeinen beſſern Einſichten, nach den Ordnungen 
ſeiner Vernunft zu denken, nach den ewigen Geſetzen Gottes zu 
wollen und zu handeln, oder das Gegentheil von allem dieſem 
zu thun, und den Reizen der ſinnlichen Begierden zu gehorchen. 
Aber mehr, als ſich, hat der Menſchengeiſt nicht in ſeiner Macht. 
Der Gedanke gehört ihm, der Wille gehört ihm, die That 
gehört ihm; aber die Folgen der That liegen ſchon außer ihm. 
Er wirft ſeine Handlung in den Strom des Lebens hinaus; nun 
wird ſie das Spiel von tauſend kleinen, zuſammenwirkenden 
Wellen, deren Kraft und Wirkung er nicht berechnen kann. Von 
Vielem, was er unternimmt, von Vielem, woran er die meiſte 
Mühe, das größte Nachdenken verwendet hat, und wovon er ſich 
die glänzendſten Erfolge verſprach, ärntet er die allergeringſten 
Wirkungen. Mancherlei hingegen, wovon er ſich am wenigſten 
verſprach, und was er nur nachläſſig, oft ohne beſondere Abſich⸗ 
ten, verrichtete, brachte die unerwartetſten Folgen hervor; ward 
ihm von der Menge der Menſchen, die den Werth der Handlungen 
nicht nach dem Willen, ſondern nach ihren Folgen beurtheilt, - 
zum großen Verdienſt oder zum großen Fehler angerechnet. 

So iſt alſo der Menſch und ſein Wille ſehr verſchieden von 
ſeiner That und ihren Folgen. Läge die That eben ſo ſehr in 
ſeiner Macht, als ſein Wille, ſo würde er ſelbſt Gott ſein. 

Aber es iſt ein Gott außer uns! Er herrſcht, wohin unſere 
Kraft nicht reicht. Er leitet die Umſtände, Zufälle und Schick— 
ſale. Wir, mit unendlich beſchraͤnkten Einſichten, handeln gleich 
Blinden in das dunkle Gewühl der Begebenheiten hinein, ohne 
zu wiſſen, was daraus entſtehen werde. Nicht der Erfolg adelt 
unſere That, ſondern der dabei gehabte Wille, die edle Abſicht, 


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gibt ihr Werth; für das Uebrige Fönnen wir nicht bürgen, kaun 
uns kein Sterblicher mit voller Gewißheit gut ſtehen. 

O wie oft betrog ich mich daher ſelbſt, und richtete meinen 
eigenen Werth nach den glücklichen oder unglücklichen Wirkungen 
deſſen, was ich that! Wie konnte ich mich ſo ſehr hintergehen, 
da ich doch von jener ernſten, großen Wahrheit ſchon durch zahl⸗ 
loſe, ſelbſtgemachte Erfahrungen längſt überzeugt war! Wie 
konnte ich mich meiner Einſichten, meiner Kraft rühmen, daß 
mir dieſes oder jenes vortrefflich gelungen ſei, ungeachtet durch 
den kleinſten Zufall, den ich nicht vorherſehen, nicht abwenden 
konnte, Alles anders geworden ſein würde! Warum bewunderte 
ich ſo thöricht und kurzſichtig die erſtaunlichen Thaten mancher 
Menſchen, da die außerordentlichen Folgen ihrer Unternehmungen 
gar nicht ihr Werk, ſondern das Werk einer Macht ſind, die den 
Schickſalen gebietet! Ein unvorhergeſehener Windſturm vernichtet 
die größten Flotten; ein Froſt baut Brücken über Seen und 
Ströme, daß feindliche Heere darüber gehen; ein unbemerkter 
Zufall verräth die geheimſten Plane der Fürſten und vereitelt fie; 
ein Umſtand geringer Art endet das Leben der Herrſcher, und 
ändert das Schickſal ganzer Völker. Wer ſieht voraus, was die 
naͤchſte Viertelſtunde bringt? Und wie bei dem Größten, ſo beim 
Kleinſten. 

Wie oft betrog ich mich, eite der Kenntniß dieſer 
Wahrheiten, in der Beurtheilung anderer Menſchen, indem ich 
ihre Güte oder Schlechtigkeit aus den Wirkungen ihrer Hand» 
lungen beurtheilte! Habe ich nicht ſelbſt oft erfahren, daß Vieles, 
was aus unreinen Abſichten geſchah, zuletzt für viele Menſchen 
die wohlthätigſten Folgen hatte; und daß Vieles nachtheilig ein⸗ 
wirkte, was Dieſer oder Jener in den beſten Abſichten gedacht, 
geſprochen und gethan? 

Nein, ich will in Zukunft vorſichtiger in meinen Urtheilen über 
Andere werden, ſo wie ich wünſchen muß, auch von Andern nicht 
nach den Folgen meiner Schritte gerichtet zu ſein. Für nichts, 
als ſeinen bei der That gehegten Willen, iſt der Menſch verant⸗ 
wortlich; alles Uebrige, was daraus erfolgt, iſt Werk und Leitung 
der Vorſehung Gottes. 


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Darum will ich mit Salomo bei allen meinen künftigen Unter⸗ 
nehmungen ſprechen: „Befiehl dem Herrn deine Werke, jo wer⸗ 
den deine Anſchläge fortgehen.“ (Spr. Sal. 16, 3.) Handle 
du nach Gottes Willen, im hohen Sinne Jeſu: was daraus wird, 
iſt Gottes Sache. Du aus dir vermagſt nichts; auf ſeinem Segen 
beruht Alles. f 

Was iſt denn der Segen Gottes, von welchem wir 
unſere Thaten begleitet zu ſehen wünſchen? Iſt es das 
Gelingen unſerer Abſichten? O nein, wenn unſere Abſichten 
immer gelängen, ſie würden oft großer Unſegen für andere 
Menſchen, wie für uns ſelbſt ſein. Beſteht der Segen Gottes in 
Erfüllung unſerer Wünſche? Gewiß nicht; denn wie thöricht ſind 
oft die Wünſche kurzſichtiger Menſchen, und wie oft danken wir 
dem Himmel noch ſpät nachher, wenn wir wahrnehmen, daß 
gerade die Erfüllung unſerer ehemaligen Anne unfer größtes 
Verderben geweſen fein würde? 

Der Segen Gottes, welcher unſere Thaten und Arbeiten be⸗ 
gleitet, beſteht in den heilſamen Wirkungen, welche unſer Be⸗ 
mühen ſowohl für die Glückſeligkeit unſerer Mitmenſchen, als 
auch für die Zufriedenheit unſeres eigenen Geiſtes hat. So er⸗ 
kennt der Weiſe den Gottesſegen nicht nur in der Erfüllung, 
ſondern auch im Fehlſchlagen der Wünſche, die er hatte. Er ehrt 
die Vorſehung, welche nicht das gelingen läßt, was auch beim 
beſten Willen des kurzſichtigen Menſchen, Gutes zu thun, dem 
großen Ganzen zum Verderben gereicht haben würde. Wer ſich 
über vereitelte Wünſche viel betrübt, meiſtert der nicht die Thaten 
der Vorſehung? Wer aus ſeinen Handlungen nicht auch die 
Folgen hervorgehen ſah, die er ſelbſt im Sinne hatte, und darüber 
ungehalten wird: ſteht er nicht da, als ein Tadler der heiligenden 
und weltbeſeligenden Regierung des Höchſten? | 

Abſicht und Wille find dein; die That und ihre Folgen find 
Gottes! Baue daher Alles auf die Güte deines Willens. Nichts 
auf die Wirkungen deiner Kraft; Alles auf die Weisheit des 
Höchſten, Nichts auf die Vortrefflichkeit deiner Einſichten und 
Entwürfe. Die Plane, welche dir zerriſſen, die Hoffnungen, 
welche dir zerſtört werden, find für dein Heil zerriſſen und zerſtört. 


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Am Segen des Höchſten iſt Alles gelegen! Wie tief 
fühle ich dieſe Wahrheit, je länger ich lebe und Erfahrungen 
mache! Aber dieſe Wahrheit muß mich nicht zu neuen Irrthümern 
führen; ſie muß mich nicht zu dem Gedanken bringen: weil ich 
denn doch aus mir nichts vermag, ſo will ich Gott die Sorge 
laſſen. Wozu ſoll ich mein Nachdenken anſtrengen? Warum ſoll 
ich ohne Unterlaß arbeiten, warum mich mit Mühen aller Art 
quälen? Es iſt doch vergebens. Will Gott mich und mein Thun 
ſegnen, ſo wird er mir auch aus der geringſten Saat, die ich in den 
Acker ſtreue, hundertfältige Frucht erwachſen laſſen; und ſoll ich 
nicht ärnten, ſo wird eine einzige Hagelwolke alle meine goldenen 
Hoffnungen, alle Früchte meiner Sorgen und Bemühungen in 
einem Augenblick niederſchlagen. 

Auch der Leichtſinnige, auch der Träge ſpricht bei ſich: Am 
Segen des Höchſten iſt Alles gelegen! und rechtfertiget ſo bei 
ſich ſelbſt feinen eigenen Leichtſinn oder ſeine Unluſt zur Arbeit. 
Irret euch nicht, Gott läßt ſich nicht ſpotten! 

Um auf Gottes Segen für unſere Handlungen hoffen zu 
können, müſſen wir handeln. Soll der Herr deine Aernten 
ſegnen, mußt du geſäet haben! Willſt du aber gute Früchte ärn⸗ 
ten, darfſt du kein Unkraut ausſäen. War dein Wille ſchlecht: 
wie kannſt du erwarten, den Lohn guter Thaten zu ſammeln? 
Der Segen Gottes iſt die gute Wirkung, welche noth- 
wendig unſern Thaten folgt, wenn ſie mit den Geſetzen 
der Weltregierung und mit den vorhandenen Umſtän— 
den übereinſtimmen. Sind unſere Handlungen im Wider⸗ 
ſpruch mit den göttlichen Ordnungen und denjenigen Umſtänden, 
die er um uns her aufſtellte, fo erfolgt Mißlingen daraus, und 
Unheil für uns und Andere. 

Iſt dir am Segen Gottes für deine Unternehmungen gelegen, 
ſo beginne keine Unternehmung, ohne den beſten und reinſten 
Willen, Gutes und Nützliches zu bewirken. Erwarte von dem 
allliebenden Vater keinen Beifall, und von ſeiner Weltordnung 
keinen Beiſtand, wenn du voll Haſſes gegen Mitmenſchen auf 
Rache ſinnſt. Und wenn dir die Sache gelingt, erwarte nicht, 


daß ſie deiner eigenen Glückſeligkeit vortheilhaft ſei. Du haſt 


ir WE: so 


Andern geſchadet, dir ſelbſt aber am meiſten. Forderſt du den 
Segen Gottes, ſo fordere ihn nicht für ſchwarze Abſichten. 

Doch auch der beſte und reinſte Wille iſt bei unſern Hand⸗ 
lungen noch nicht hinreichend, uns den vollen Beifall Gottes 
für dieſelben und ihr Gelingen zu verſichern. Wir müſſen auch 
darauf denken, daß dieſer unſer gutgemeinter Wille übereinſtimme 
mit den Verhältniſſen und Umſtänden, welche uns umgeben. 
Auch ſie ſind Gottes Werk und Gottes Wille. Darum verlieh 
uns der himmliſche Vater Verſtand, daß wir, ehe wir eine Unter⸗ 
nehmung anfangen, uns gehörig von den Umſtänden unterrichten 
konnen, in welchen wir etwas auszuführen gedenken; daß wir 
ſie hinlaͤnglich prüfen, und berechnen, welchen Beiſtand oder 
welche Hinderniſſe ſie uns verſprechen. Wer allen Verhältniſſen 
und Umſtänden zum Trotz handelt, rennt wie ein Raſender gegen 
die eiſernen Schranken, die ihn umringen; wer bei aller Güte 
feines Willens leichtſinnig und unbedachtſam handelt, hat ſich's 
ſelbſt zuzuſchreiben, wenn das, was er thut, mehr Schaden als 
Vortheil bringt. Denn er verſäumte, den Willen Gottes zu be⸗ 
obachten, der ſich in den gegenwärtigen Verhältniſſen des Lebens 
deutlich ausſpricht. Er gleicht dem Unklugen, der, um ſich zu 
waſchen, in den verſchlingenden Wirbel eines Stromes ſpringt, 
und für dasjenige auf Gottes Beiſtand hofft, was durch Unklug⸗ 
heit Böſes daraus entſtehen möge. 

Erſt wenn du von der Güte deines Willens volle Ueber⸗ 
zeugung haſt, und daß du mit deinem Vorhaben keinem Menſchen 
Unglück und Schaden verurſacheſt; erſt wenn du deinen Entwurf 
forgfältig nach den obwaltenden Umſtänden berechnet und ein- 
gerichtet haſt, ſo daß du weißt, ob deine Mittel zum Zweck hin⸗ 
reichen, ob du nicht zu viel auf Dinge baueſt, die du gar nicht 
kennſt: erſt dann empfiehl dem Herrn deine Werke, fo werden 
deine Anfchläge fortgehen. Erſt dann hoffe auf den Segen des 
Hoͤchſten — und er wird dir zu Theil werden, wenn das Ge- 
lingen deiner Anſchläge wirklich dein Heil bewirken kann. 

Denn ſo tief auch menſchlicher Scharfblick in das unendlich 
verworrene Spiel der Begebenheiten und Möglichkeiten eindringe; 
fo genau auch menſchliche Klugheit Alles erwäge, berechne, ordne 


u 
und benutze, was fie kennt — immer bleibt fie bejchränft, und 
ahnet tauſend Ereigniſſe nicht, die aus dem Schooſe der nächſten 
Stunde hervortreten. Immer alſo liegt die Unternehmung, auch 
des klügſten Mannes, in der Gewalt Gottes, und die Folgen 
ſeiner That kann ſich nie ein Sterblicher als eignes Verdienſt zu⸗ 
ſchreiben — ſie ſind Sache der Alles leitenden Vorſehung. 

Darum, war deine Abſicht rein, deine Ueberlegung reif, ſo 
weit deine Einſicht hinreichte: dann gehe hin und handle, und 
befiehl dem Herrn deine Werke mit jener Zuverſicht, die dem 
Weiſen geziemt, auf die Güte des Allvaters. Dein Wille iſt gut, 
aber der Wille des Allweiſeſten iſt beſſer. 

Vater im Himmel, nicht mein Wille geſchehe, ſondern der 
Deinige. So betete Jeſus, mein Heiland, zu Dir: ſo bete auch 
ich. Und wenn mein Wille alſo übereinſtimmt mit dem Deinigen, 
daß er in ſegensvolle Thaten für mich und Andere gedeiht: o ſo 
mache mich dies nicht ſtolz auf meine Klugheit und Kraft — wie 
nichtig ſind doch dieſe! — aber es erfreue mich tief, und ermun⸗ 
tere mich, emſig Deinen Abſichten zur Beſeligung meiner und 
Anderer nachzudenken. Und wenn Du in andern Dingen mein 
Bemühen nicht ſegneſt; wenn meine Seufzer vergebens ſind, 
meine Sorgen, meine Anſtrengungen fruchtlos bleiben: ſo ſoll 
mich dies nicht muthlos machen, nicht an Deiner Gnade und 
Liebe mich zum Zweifler werden laſſen. Denn daß das nicht ge⸗ 
ſchah, was ich beabſichtigte, auch das iſt Liebe und Gnade von 
Dir, und ein von mir mit Vereitelung meiner Plane abgewand⸗ 
tes Uebel iſt Segen von Dir! — O wie viel Segen aus Deiner 
väterlichen Güte wird mir oft zu Theil, ohne daß ich's weiß und 
vermuthe! Freilich mag oft mein Herz bluten, wenn ich plötzlich 
die Freuden und Hoffnungen einer langen Zeit vernichtet, wenn 
ich unfägliche Arbeit und Mühe, die ich hatte, verloren ſehe, ohne 
Frucht für mich — wenn meine heißeſten und theuerſten Wünſche 
umnvollführt dahin ſterben müſſen, und mir wohl gar das gefürch⸗ 
tete Gegentheil derſelben zum Looſe wird. Allein wenn auch 
meine Sinnlichkeit blutet, Gott, mein Geiſt ſoll Dich dennoch 
verherrlichen und preiſen; mein Auge ſoll dankbar und vertrauens⸗ 
voll auch unter ſeinen Schmerzensthränen zu Dir emporlächeln; 

III. 5 


1 


denn Du biſt Gott, mein Gott. In Dir allein iſt Weisheit und 
Barmherzigkeit. Von Dir ſtrömt Segen allein herab auf die 
Erſchaffenen, und was der heutige Augenblick bezweifelt, das 
wird vom folgenden Jahre mit Anbetung geprieſen; denn Dein 
iſt immer das Reich und die e und die Herrlichkeit, in allen 
Ewigkeiten. Amen. 


12. a 
Der Kampf des Weiſen mit ſeinem Schickſale. 


1. Tim. 6, 12. 
Du kamſt, mein Heiland! Da zerfloſſen nicht 
Die Wolken unter Dir in Licht, 
Dem Kommenden zu Ehren. 
Die Berge wurden nicht erregt, 
In ihren Gründen nicht bewegt, 
Du kamſt nicht, zu zerſtören. 
Dich kündigte kein Sturmwind an, 
Kein fließend Feuer ging voran, 
Kein Donner hallte und kein Blitz 
Flammt durch die Himmel, Deinen Sitz. 
Du kamſt zur Welt, 
Zur Rettung der gefall'nen Welt, 
Still, wie der Thau der Nächte fällt. 


Nühmet immerhin, Staubgeborne! die unvergänglichen Werke 
eurer Künſtler, und vergöttert ihren ſchöpferiſchen Sinn, mit 
welchem ſie gleichſam den todten Marmor zu beleben und eine 
blühende Welt auf dem farbigen Tuche hervorzurufen verſtanden. 
Was ſind ihre Meiſterwerke? Todte Nachildungen des lebendigen 
Schönen in der Schöpfung; äußere Umriſſe und weſenloſe For⸗ 
men des Regen und Seelenvollen in der unendlichen Natur; kleine 
Geſtaltungen, die noch niemals die Vollkommenheit des Wirk— 
lichen erreichten. 


Verherrlichet immerhin, Staubgeborne, eure Helden und 


Eroberer; bewundert die Kühnheit und das Glück ihrer Unter⸗ 
nehmungen, ihre Entſchloſſenheit in der Noth, ihre Kaltblütig- 
keit in der Gefahr, den Glanz ihrer Beute, ihrer Siege. 


— .. 


Erhebet immerhin, Staubgeborne! die hohe Weisheit eurer 
Weiſen, und wie ſie mit ihrer Arbeit die Felder der Wiſſenſchaft 
blühend machten, die Summe der Entdeckungen und Erfindun⸗ 
gen vergrößerten; den Wohlſtand von Staͤdten und Völkerſchaften 
glänzender machten. Wie beſchränkt war ihr edler Wirkungs⸗ 
kreis; wie gering zuletzt und unſcheinbar die Summe alles Guten, 
was ſie leiſteten! Weiſere ſtanden jederzeit gegen die Weiſen auf, 
und zerſtörten, was jene für alle Weltalter erbaut zu haben 
glaubten. Waren ſie nicht endlich Alle Schüler des göttlichen 
Weiſen von Nazareth? Und die ihn nicht kannten, waren ſie nicht 
Alle in den wichtigſten Angelegenheiten der Menſchheit beſchränk— 
ter, als heute jeder Jünger, jede Jüngerin Jeſu Chriſti, die 
durch ihn mit froher Zuverſicht auf eine beſeligende Ewigkeit zum 
höchſten Weſen beten, wie Kinder zu einem Vater? 

Wer hat, wie Jeſus Chriſtus, durch ſein gewaltiges Wor 
die ganze Geiſterwelt erſchuͤttert? Wer, wie Jeſus, die Träume 
des Irrthums von der Menſchheit verbannt, und die Seelen zu 
ihrer urſprünglichen Würde und Beſtimmung zurückgeführt? Wer 
hat, wie Jeſus, uns das Heiligthum der liebenden Gottheit offen- 
baret, die Vernunft der Sterblichen mit ſich ſelbſt und der ganzen 
ſie umringenden Natur wieder in Einklang gebracht? Wer hat, 
wie Jeſus, die Gottesſprache geſprochen, daß ſie der Unmün⸗ 
digſte im Volk begriff, und der Weiſeſte unter den Weiſen daraus 
das Höhere erlernte? Wer hat, wie Jeſus, die Erde wieder mit 
dem Himmel vermählt, die Menſchheit mit Gott verföhnt? 

Ja, Weltverſöhner zu fein, dies war fein göttlicher Beruf, 
und er erfüllte ihn mit göttlicher Kraft. — Seinesgleichen erſchien 
nie wieder. Und hätte vor ihm das ganze Menſchengeſchlecht an 
keinen Gott geglaubt: das heilige Licht, welches er brachte, würde 
den Glauben in allen Herzen entzündet haben. 

Er verſöhnte die Welt mit Gott — nicht Gott mit der Welt. 
Denn Gott liebte ſeine Erſchaffenen mit ewiger Liebe; ſeine Lang⸗ 
muth ertrug ihre Fehler; in ihm war nie ein Wechſel des Sinnes, 
nie die unreine Leidenſchaft des Zornes. Aber die Menſchheit war 
durch ihren Irrthum, durch ihre Sündhaftigkeit entzweit mit dem 
Allerheiligſten. Sie, ſtatt das Göttliche und Ewige zu ſuchen, zog 


1 


das Sinnliche und Irdiſche vor, weihte ihre Seele, ſtatt dem 
Himmliſchen und Unvergänglichen, nur dem Staube und deſſen 
Freuden. Das Höhere im Menſchen, der Geiſt, floh gleichſam 
Gott und verlor ſich im Irdiſchen. Da erſchien Jeſus, führte die 
Seelen zur Gottheit zurück, entſündigte uns durch ſein Wort und 
ſeinen Tod, und verſöhnte uns mit unſerm wahren Heil, mit Gott. 

Dies große Werk zu vollbringen, war die erhabene Aufgabe 
ſeines Daſeins. Aber die Welt ſelbſt und alle äußern Verhält⸗ 
niſſe ſchienen ſich gegen ihn zu empören, und ſein heiliges Unter⸗ 
nehmen zu hindern. Sein ganzes Leben war ein fortwährender 
Kampf ſeiner Grundſätze und Abſichten gegen die furchtbarſten 
Schickſale. Er aber beſtand den Kampf und ging zuletzt ſiegreich 
aus demſelben hervor. Er, deſſen lange Niemand achtete, zog 
zuletzt die Augen der ganzen Welt auf ſich; ihm, dem oft fehlte, 
wohin er ſein Haupt legen konnte, weihten alle Welttheile ihre 
Tempel; vor ihm, den einſt der Niedrigſte im Pöbel verſpotten 
mochte, beugten endlich die Könige der Erde ihre Knie! 

Jeder Menſch hat ſeine Schickſale, aber nicht jeder hat den 
Muth, ihnen entgegen zu ſtreben, ſondern läßt ſich von dem Spiele 
der Umſtände umhertreiben, wie eine Feder in dem Wirbel des 
Windes. Ein ſolcher Menſch iſt ohne Kraft, weil er vergißt, daß 
ihn eine höhere Kraft bewohnt, durch die er ſelbſt das Schickſal, 
das heißt, die Verkettung der Begebenheiten und Zufälle, beſiegen 
könne. Er iſt gleichſam nur ein willenloſer, ſchwacher Staub, 
dem die Seele fehlt, oder deſſen Seele von dem Staube regiert 
und gelähmt wird, der ſie umfängt. 

Nur darin erkenne ich das Daſein eines ſelbſtſtandigen thä— 
tigen Geiſtes, daß er ſich im Menſchen ausſpricht, und ſeine 
Grundſätze, ſeinen Willen äußert. Darin erkenne ich, daß dieſer 
Geiſt frei ſei, wenn er nur ſeinen eigenen Willen thut, nur 
ſeinen Geſetzen folgt, nämlich den Geſetzen der Vernunft, der 
Wahrheit, der Tugend, welches die Geſetze der Gottheit ſind, wie 
ſie Jeſus offenbarte. Ein Geiſt aber, welcher den Geſetzen der 
Sinnlichkeit gehorcht, und den Gelüften feines Leibes, der Wolluſt, 
Bequemlichkeit, Habſucht, Ruhmliebe folgt, oder ſich von den 
Umſtaͤnden beherrſchen laßt, ob er rechtſchaffen fein wolle, oder 


— 101 — 


nicht — der iſt ein willenloſer Sklave feines Körpers, ein Sklave 
der Umſtände und Begebenheiten. 5 

So wie Jeſus das Urbild der höchſten menſchlichen Weisheit 
war, ſo iſt auch der wahre Chriſt ein wahrer Weiſer. Der Weiſe 
aber gibt ſich zu erkennen durch die erhabene Stärke ſeines Wil⸗ 
lens, durch die ſiegende Kraft ſeines Geiſtes, mit der er, allen 
ſinnlichen Lockungen, allen Unannehmlichkeiten, allen Schid- 
ſalen, allen Hinderniſſen zum Trotz, dasjenige thut, was er für 
recht und wahr und pflichtgemäß und gottgefällig erkannt hat. 
Man kann ſeine Gebeine in Feſſeln ſchlagen, aber nicht ſeine 
Grundſätze; man kann ſeinen Leib tödten, aber nicht ſeinen Geiſt. 

Dieſe Seelengröße, mit welcher der Weiſe den Stürmen des 
Lebens begegnet, dieſer Kampf ſeiner beſſern Ueberzeugungen und 
Grundſätze mit den Schickſalen, die ihn vergebens beugen wollen, 
iſt jederzeit eines der rührendſten und ehrwürdigſten Schauſpiele. 
Es iſt etwas Göttliches darin, wenn er, ſtatt ſich von ſeinen 
ſinnlichen Schwächen übermannen zu laſſen, fie beſiegt; wenn er, 
ſtatt von Begebenheiten und Ereigniſſen aller Art in ſeinen Grund— 
ſätzen wankend zu werden, ſtandhaft dem Schickſal entgegenſtrebt, 
und ſich über daſſelbe erhebt. Da wird Jedermann inne: wahr- 
lich, der Menſch iſt mehr als Staub, mehr als das willenloſe 
Werk der Zufälle; er iſt ein Geiſt, eine Kraft, göttlichen Ur— 
ſprungs, erhaben über das Vergängliche der Dinge, der Herr— 
ſchaft und Ewigkeit würdig. 
Diieſe beharrliche Denkart, welche den Weiſen auszeichnet, 
der in den Fußſtapfen des göttlichen Welterlöſers wandelt, iſt 
aber keineswegs zu verwechſeln mit jenem kleinlichen Eigenſinn 
und mit der vernunftwidrigen Hartnäckigkeit, vermittelſt welcher 
manche Menſchen ihre Abſichten und Wünſche im gewöhnlich 
Leben durchſetzen wollen, es möge für ſie und Andere daraus 
entſtehen, was wolle. 

Die Standhaftigkeit des Weiſen beſteht in unbeweglicher 
Feſtigkeit ſeines wohlüberlegten Willens und ſeiner tugendhaften 
Grundſätze gegen alle innerliche und aͤußerliche Gewalt. Er zeigt 
ſie im Kampfe mit ſeinen eigenen Leidenſchaften, welche die Tu— 
gend in ihm untergraben wollen; er zeigt fie in der Unerſchrocken— 


— 102 — 


heit, mit welcher er den Gefahren entgegengeht, die ihn ſeiner 
Tugend und Wahrheit willen bedrohen; er zeigt ſie in der ent⸗ 
ſchloſſenen Erhabenheit über kleinliche Bedenklichkeiten; er zeigt 
ſie in der bewundernswürdigen Geduld, mit welcher er alle Uebel 
tragt, die außer feiner Gewalt find; er zeigt fie in der Heiterkeit 
und Selbſtgleichheit ſeines ganzen Weſens, wie ſeine Seele, im 
Bewußtſein, nur das Allgemeinwahre, nur das Allgemeingute, 
nur das Göttliche zu wollen, voll unzerſtörbarer Ruhe iſt. 

Die Hartnaͤckigkeit der Thoren hingegen beſteht in der leiden⸗ 
ſchaftlichen Beharrlichkeit des Willens für eigennützige Abſichten; 
im Feſthalten von Meinungen, die nur irdiſche Verhältniſſe, 
häusliche und bürgerliche Angelegenheiten betreffen, und unter 
veränderten Umſtänden wahr oder falſch, früher nützlich, ſpäter 
ſchädlich ſein können; im Verſpotten aller Klugheit, indem man, 
um ſeine Entwürfe durchzutreiben, weder auf Zeit, noch Ort, 
noch Menſchen Rückſicht nimmt, wie ſie ſind; im eigenſinnigen 
Stolz, indem man Andere zwingen will, ihren Willen, ihre Mei⸗ 
nung, ihre Wünſche für die unfrigen fahren zu laſſen. 

Es zwingt der Weiſe Niemanden ſeine beſſern Ueberzeugun⸗ 
gen auf, aber auch er läßt ſich nicht zwingen, ſie zu verläugnen. 
Zwar fordert er nicht mit Gewalt, daß Jeder nach den von ihm 
bekannten Grundſätzen handle; aber ihn kann weder Hoffnung 
noch Furcht, weder Wolluſt noch Gefahr bewegen, anders als 
tugendhaft und wohlthätig für das Glück ſeiner Mitbürger, für 
Recht, Wahrheit und Unſchuld zu handeln. Freilich will er nicht 
die gebieteriſchen Umſtaͤnde gewaltſam ändern, daß fie feinen Ab— 
ſichten beſſer entſprechen, aber die Gewalt der Schickſale kann ihn 
auch nicht ändern, ſo zu denken, zu handeln, zu leben, wie er es 
für göttlich, wahr und recht hält. Vielmehr er nimmt mit Klug⸗ 
heit Rückſicht auf Ort, Zeit und Menſchen, wie ſie eben ſind, 
um ſie zu ſeinen gemeinnützigen, edeln Zwecken zu benutzen und 
zu leiten, und lernt ſo fein Schickſal beherrſchen, Verhaͤltniſſe 
unterjochen, ſtatt daß fie den ſchwachen Menſchen beherrſchen 
und leiten. 

So handelte der göttliche Weiſe Jeſus Chriſtus. Mit dieſer 


— 18 — 


Erhabenheit des Gemüths trat er in den Kampf gegen die Schick⸗ 
ſale, die ſeiner harrten. 

Er war von dunkler Geburt, ohne hohen bürgerlichen Rang, 
ohne glaͤnzenden Reichthum; auf feinen Wink flogen keine Kriegs⸗ 
heere, bewegten ſich keine Nationen. Und dennoch wollte er eine 
große Verwandlung des Menſchengeſchlechts; den Sturz der in 
allen Welttheilen ſchimmernden Altaͤre der Götzen; die Anbetung 
des allein wahren Gottes, und daß Könige auf Thronen und 
Bettler an den Krücken den Worten ſeiner Weisheit folgten. 
Welch ein Unternehmen! — „Iſt dies nicht des Zimmermanns 
Sohn von Nazareth?“ fragten ſpöttiſch, die ihn in ſeiner Dürf— 
tigkeit dahinwandeln ſahen. Unerſchüttert aber wandelte Jeſus 
die erkorne Bahn für das Heil des menſchlichen Geſchlechts, und 
zur Beſeligung derer und ihrer Nachkommen, die ſein ſpotteten. 
Seine Herkunft, ſeine Armuth waren ihm keine Hinderniſſe. 
Was ſind denn Gold und Geburt in der Geiſterwelt? — Er 
wählte zu ſeinen Jüngern einfache, unverdorbene, für ſeine Lehren 
empfängliche Männer, die, arm und unbekannt wie er, an keinem 
Gelde und an den Vorzügen keines Standes hingen. Am Jordan 
lehrte er, und nach Jahrtauſenden ſchallt ſeine Gottesſtimme durch 
alle Länder des Erdbodens, über alle Weltmeere. f 

Was ewig wahr und ewig gut iſt, das bedarf keiner Macht— 
ſprüche von Thronen herab, keiner Kriegsheere, um ſiegreich zu 
werden. Es bricht ſich ſelbſt ſeine Bahnen, entwaffnet die blinde 


Menge und ſtürzt die widerſpenſtigen Thronen vor ſich hin in 


den Staub. Groß iſt die irdiſche Gewalt des Geiſtes und des 
ewigen Rechts und der unvergänglichen Wahrheit. 

So trat Jeſus Chriſtus in den Kampf gegen das Schickſal, 
unerſchrocken vor den Hinderniſſen ſeiner Herkunft und Armuth. 
Er ſchritt nicht gewaltthätig wider die ihn umgebenden Verhält- 
niſſe; aber er benutzte ſie und die Zeiten und die Menſchen, wie 
fie ſich ihm darboten, um feine göttlichen Abſichten zu erreichen. 
Und was auch geſchah, ſtandhaft vollführte er den erhabenen 
Plan ſeiner Sendung; nichts lockte ihn von der erwählten Bahn, 
nichts ſchreckte ihn von derſelben zurück. 

Mehr als einmal ſammelte ſich um ihn her ein zur größten 


— 14 — 


Empörung reifes Volk. Tauſend und taufend Stimmen forder⸗ 
ten ihn auf, Roms Weltherrſchaft zu zertrümmern, und den wei⸗ 
land glaͤnzenden Thron Iſraels und Juda's wieder aufzurichten; 
Tauſende und Tauſende boten ihm ihr Leben an, wenn er ſie 
unter ſeinen Fahnen zum Schlachtfelde führen, und für Jeru⸗ 
ſalems Ruhm und für die Gräber ihrer Väter ſtreiten heißen 
würde. „Hoſiannah dem Sohne Davids!“ ſcholl es von tauſend 
und tauſend Lippen, als er aus ſeiner Einſamkeit hervortrat in 
das Gewühl der volkreichen Hauptſtadt, die ſeines Winkes ge⸗ 
wärtig war. Doch unerſchütterlich beharrte Jeſus in feinen gött⸗ 
lichen Grundſätzen. Er verſchmähte die Heere, welche ſich für ihn 
bewaffnen wollten; den Thron, der ihm geboten wurde; die 
Pracht und den Ueberfluß des Palaſtes der Herrſcher, welcher 
ihm geöffnet werden ſollte. Nicht die Anmuth des Reichthums, 
welcher ihm zu Füßen lag, nicht die Silberſtimme des Ruhms, 
die an ſein Ohr drang, nicht die Herrlichkeit der Gewalt und des 
Einfluſſes, welche man ſeinen Händen zu übergeben entſchloſſen 
war — nichts von Allem, was den gemeinen, ſinnlichen Men- 
ſchen reizen kann, machte den Göttlichen von ſeinem Ziele ab— 
wendig. Er wollte nicht die Rettung Juda's; er wollte mehr als 
dies — die Rettung der Menſchheit! 

So beſtand Jeſus von Nazareth den Kampf gegen die Macht 
der ſinnlichen Begierden und Leidenſchaften, jo den Kampf gegen 
das Schickſal. Es ſchwiegen ſeine Begierden; es erlag kraftlos 
das Schickſal gegen die Hoheit ſeines unbeweglichen Willens. 

Und mit derſelben Ruhe, mit welcher er eine Herrſcherkrone 
abgelehnt hatte, ſah er die finſtern Stürme ſeines Lebens heran— 
nahen — aber er wankte keinen Augenblick. Er kannte der Prieſter 
Stolz und glaubenseifrige Wuth; jener Prieſter, deren Heuchelei 
er entlarvt, deren Opfer er unnütz gemacht hatte. Er kannte des 
Pöbels Wankelmuth, welcher morgen verdammt, den er heute 
vergöttert, und der, da ſeine Anerbietungen verſchmäht waren, 
an die Stelle getäuſchter Erwartungen Erbitterung und Groll 
treten ließ. Er kanute die Unzuverläſſigkeit und Schwache mancher 
ſeiner eigenen Vertrauten, die feile Treue eines Judas Iſcharioth, 
den Ungeſtüm und wandelbaren Sinn eines Petrus, die Schüch⸗ 


Me 


ternheit Aller. Er ſah ſeine Gefahren, ſeine Verfolgungen, ſeine 
Leiden voraus, — aber dies ſchreckliche Schickſal, welches ihm 
entgegentrat, es beugte ihn nicht, er wich ihm keinen Schritt 
weit aus. 

Er ging den ſchweren Gang zum Welterlöſertode — noch 
verkannte ihn die ganze Welt — noch begriffen ihn ſelbſt ſeine 
Jünger nicht — er hatte Niemand, der die Hoheit ſeiner Sen— 
dung und ſeines weltbeſeligenden Zieles kannte — einſam ſtand 
er in der Welt! den Blick auf Gott! Aber mit dieſem Blick trat 
er muthig in das Grauſen des Todes ein. 

Zweifle Niemand, daß der welterlöſende, Tod und Grab 
beſiegende Held nicht auch Menſch war — Menſch, mit unſern 
Gefühlen und Begierden. Ergriffen nicht auch ihn Furcht und 
Entſetzen, als die entſcheidende Stunde kam? — Als er unter 
Gethſemane's Delbäumen in furchtbarer Todesangſt verging, als 
ſein Schweiß wie Blutstropfen ward, die auf die Erde fielen 
(Luk 22, 44); als er betend auf ſein Angeſicht niederfiel, und 
feine ganze Natur in Aufruhr gerieth gegen den furchtbaren Opfer- 
tod, rief da nicht ſeine bange Seele zu Gott: „Meine Seele iſt 
betrübt bis in den Tod! Mein Vater, iſt's möglich, fo gehe dieſer 
Kelch von mir!“ Dennoch ſiegte ſein Geiſt über den Einfluß fei- 
ner irdiſchen Empfindungen; dennoch wich er nicht von ſeinen 
Grundſätzen und heiligen Zielen, ſondern er ſetzte mit erhabenem 
Gemüthe hinzu: „Doch nicht wie ich will, Vater, ſondern wie 
Du willſt!“ (Matth. 26, 39.) 

Da ward das Urbild der Unſchuld von Verbrechern gerichtet; 
da der Heiligſte, welcher jemals auf Erden gewandelt, von Sün⸗ 
dern zum Tode verurtheilt. Er ging, erſchöpft an Kräften, nicht 
erſchoͤpft an Heldenmuth, den Gang nach Golgatha. Sein letztes 
Wort zum Volke war das Wort des Troſtes und der Güte: „Ihr 
Töchter von Jeruſalem, weinet nicht über mich, ſondern weinet 
über euch ſelbſt und über eure Kinder!“ (Luk. 23, 20.) Treu 
ſeinem göttlichen Zweck, war ſein letztes Gebet am Kreuze für 
die Mörder, für die er liebend und ſegnend ſtarb. 

So war der große Kampf vollbracht. Kein Schickſal hatte 
ſeinen heiligen Willen bezwungen! aber er ſchwebte über die Er⸗ 


a - 


eigniſſe feines Lebens, über den ohnmächtigen Zorn einer Welt 
erhaben, die er beſeligen wollte, und die ihm vergeblich wider⸗ 

ſtrebte. 
* Ja, Welterretter, Heiland, Jeſus Chriſtus! auch ich bin zum 
ewigen Daſein berufen, auch mir winkt die Krone des beſſern 
Lebens — ich kämpfe Dir nach! Soll ich ein ſchwankendes Rohr 
im Winde ſein, ein Spiel des Zufalls, eine Beute des Staubes? 
Bin ich nicht ein unſterblicher Geiſt, erkoren zur Vollkommenheit, 
ausgerüſtet mit Einſichten des Guten, des Wahren und Ge⸗ 
rechten? Iſt das Wahre, das Gute und Gerechte, was ich erkenne, 
nicht Gottes Sache? Wie, ſoll ich länger Gottes Sache zum 
Raube meiner Leidenſchaften und ſinnlichen Neigungen werden 
laſſen, die oft dagegen ankämpfen? Soll ich mich durch das ver⸗ 
änderliche, bald ſchmeichelnde, bald drohende Schickſal bewegen 
laſſen, was ich für wahr erkenne, unwahr zu nennen, und was 
gut iſt, nicht zu thun, ſondern das Schlechtere? 

Nimmermehr! Weſſen Geiſt während des Menſchenlebens 
nur ein Sklave des Körpers und ſeiner Einflüſſe iſt, wird er 
nicht, wenn ſein Herr Staub wird, vielleicht mehr als er ſein? 
Nur der große, erhabene Geift auf Erden iſt groß und erhaben, 
auch wenn er losgeſchaͤlt vom Körper in die Ewigkeit übertritt. 
So ſitzt Chriſtus, wie es die heilige Schrift nennt, zur Rechten 
Gottes. Er iſt erhaben über alle Weſen dort, wie er hier auf 
Erden war. 

Ich will ihn eingehen, den großen, den göttlichen Kampf mit 
Leidenſchaft und Schickſal für Tugend, Gerechtigkeit und Wahr— 
heit. Ich will Jeſum, ich will Gott bekennen in meinen Hand- 
lungen vor der Welt, und keine Gefahr fürchten. Auch ich werde 
ſiegen durch den Ernſt meines Willens! ich werde im letzten 
Augenblicke meines irdiſchen Seins ſprechen können: „Ich habe 
einen guten Kampf gekämpft; ich habe den Lauf vollendet, ich 
habe Glauben gehalten! Hinfort iſt mir beigelegt die Krone der 
Gerechtigkeit, welche mir der Herr an jenem Tage, der gerechte 
Richter, geben wird: nicht mir allein, ſondern Allen, die ſeine 
Erſcheinung lieb haben.“ (2. Tim. 4, 7. 8.) 


13. 
Der Meuſch ein Schöpfer feines Schick ſals. 


1. Kor. 3, 6 — 9. 


Wie Manchem ward das Glück, 
Das Gott mir gab, entzogen, 
Wie Mancher von der Luſt, 

Der Sinnlichkeit betrogen! 
Weil, ungewarnt, ſein Fuß 
Nicht jede Schlange mied, 
Die unter Blumen lauſcht, 
Und ſticht, eh' er ſie ſieht! 


Was gut und edel iſt; 
Was meinen Brüdern nützet; 
Was auf des Lebens Bahn 
Uns vor dem Fall beſchützet; 
Was Muth im Leiden gibt, 
Vor guten Menſchen ehrt, 
Das liegt in meiner Kraft, 
Iſt meines Strebens werth. 


Wenn nicht Jeder bei ſich überzeugt wäre, er könne durch eigene 
Klugheit ſein Glück gründen, würde Niemand dahin arbeiten, 
fein Loos auf Erden zu verbeſſern, ſondern Alles in voller Ge⸗ 
laſſenheit von der Gunſt des Himmels erwarten. Aber ohne Ar- 
beit kein Lohn, ohne Mühe kein Gewinnſt, ohne Vorſicht nur 
Gefahr. 

Die Weisheit Gottes wollte nicht, daß der Menſch in todter 
Unbehilflichkeit lebe. Darum gab ſie ihm einen freien Willen, 
zu thun, was ihm beliebe; Verſtand, um das Beſſere kennen zu 
lernen und zu wählen. Ja, ſie trieb ihn durch das harte Geſetz 
der Noth, jede Trägheit fahren zu laſſen, und ſich durch Anwen⸗ 
dung der ihm verliehenen Gaben des Geiſtes ein beſſeres Schickſal 
zu verſchaffen. Den Thieren des Feldes gab ſie ein Kleid von 
behaarten Fellen, den Vogel umhüllte ſie mit Federn, um gegen 
jede Witterung Schutz zu haben; aber den Menſchen ließ ſie nackt 
und bloß. Den Thieren verlieh ſie natürliche Waffen, mit denen 
ſie ſich gegen ihre Feinde vertheidigen konnten, ſeltene Stärke 
oder ungemeine Geſchwindigkeit; aber der Menſch hatte von 
Natur nichts, um dem Horn des Stiers, der Klaue des Löwen, 


— 108 — 


der Starke des Tigers, dem Stich der Schlange, Trotz zu bieten. 
Sie gab ihm Verſtand und Vernunft. Er ſollte ſeine Kleider, 
ſeine Waffen ſelbſt erfinden, ſich Alles ſelbſt ſchaffen. Sie zwang 
ihn, ſeine Geiſteskräfte zu benutzen, um endlich Herr aller Thiere 
zu werden; der unfruchtbaren Erde Nahrung abzugewinnen; ſich 
gemeinſchaftliche Wohnungen, Dörfer und befeſtigte Städte zu 
erbauen, und zum friedlichen Leben unter einander wohlthätige 
Geſetze zu erſinnen. 

Da alſo nach dem göttlichen Willen ſich jeder Menſch durch 
eigene Anwendung ſeines Verſtandes und ſeiner Kräfte ſein Loos 
auf Erden bereiten muß, iſt es wohl ein blindes und übermäßiges 
Vertrauen auf Gott, eine träge Frömmigkeit, wenn Jemand ſeine 
Arbeit vernachläſſigt, in der Hoffnung, Gott werde ſchon ohne 
ſein Zuthun gewähren, was gut und nützlich iſt. Es iſt eine 
träge Frömmigkeit, zu glauben, man könne durch Gebet und 
Kirchengehen Alles bewirken, und bloß durch göttliche Gnade, 
oder was die Menſchen Glückszufall nennen, zu Reichthum, Ehre 
und Anſehen kommen. Es iſt ein falſches Vertrauen zu Gott, 
wenn man ſich einbildet, um ihm gefällig zu ſein, um einſt nach 
dem Tode der Genoſſe der ewigen Seligkeit zu werden, ſei es 
hinlänglich, ſich auf das Verdienſt und den Tod Jeſu, auf die 
Gnade und Barmherzigkeit Gottes, auf die Fürbitte der Menſchen 
und Heiligen zu verlaſſen, und keineswegs nothwendig, ein ſtren— 
ges, in allen Tugenden mühſames, wohlthätiges und , 
nütziges Leben zu führen. 

Nein, nicht vergebens gab uns der Schöpfer unſere Kräfte. 
Wer dieſe zu benutzen verſäumt, vernachläſſigt das ihm anver— 
traute Pfund, verachtet den Willen des ewigen Vaters, und ſtürzt 
ſich durch die Verkehrtheit ſeines Geiſtes in unfehlbares Verderben. 

So thöricht es daher iſt, Alles von Gott zu erwarten, und 
Nichts von ſich ſelbſt; fein irdiſches Wohlſein lieber vom Müßig- 
gang oder einem Looſe des Glücksſpiels zu erwarten, als von 
Fleiß und Arbeitſamkeit, Ordnung und Sparſamkeit: eben jo 
thöricht iſt es von der andern Seite, Alles auf ſeine eigenen 
Kräfte zu bauen, und Nichts auf die Gnade Gottes. Wie wenig 
find wir ohne ihn! Wie arm ſtehen wir da, wenn er unſer Ber 


3 A he 


mühen nicht ſegnet, das heißt, wenn er nicht alle Umſtände jo 
lenkt, daß dasjenige, was unſer Fleiß verrichtet, was unſer Nach⸗ 
denken erſinnt, vortheilhaft für uns ausfällt! Umſonſt fiel der 
Schweiß des Landmanns auf ſeinen Acker: Regen, Sturmwinde 
und Hagelwetter zogen darüber hin. Umſonſt machten wir Ent- 
würfe zu unſerm und der Unſrigen Glück: es traten andere Men⸗ 
ſchen mit anderm Sinn dazwiſchen, und verderbten Alles, ohne 
von unſern Abſichten zu wiſſen. Daher das alte und durch Mil- 
lionen Erfahrungen WEN Sprichwort: der Menſch denkt und 
Gott lenkt! 

Die wichtigſten Begebenheiten in unſerm Leben ſind oft Fol⸗ 
gen eines Umſtandes, auf den wir am wenigſten gezählt hatten; 
und oft hat dasjenige, worauf wir die meiſte Mühe verwendet 
haben, uns den allergeringſten Vortheil gebracht. Ja, das Schickſal 
der Schlachten, das Schickſal großer Reiche hing oft von einem 
ſogenannten Zufalle ab, an welchem alle Macht und Klugheit 
zu Schanden ward. 

Wir haben unſern Willen, unſere Klugheit, unſere Kräfte; 
Gott aber hat die Umſtände in ſeiner Gewalt; durch dieſe regiert 
er die Menſchen, ſegnet oder verderbt ihr Thun. 

Was heißt alſo: der Menſch iſt ein Schöpfer ſeines Schick— 
ſals? Iſt dies ein Gedanke ohne Sinn? — Er iſt es, wenn wir 
unter Schickſal Dinge verſtehen, die außer unſerer Macht liegen; 
wenn wir unſere Herrſchaft über Unmöglichkeit ausdehnen wollen. 
So wenig ein Sterblicher feine Hand in den Himmel empor- 
ſtrecken, und die Sonne in ihrem Laufe hemmen, die Geſtirne in 
andere Richtungen leiten kann: eben ſo wenig iſt er vermögend, 
das Denken, Wollen und Thun aller mit ihm auf Erden leben⸗ 
den Menſchen nach ſeinen Abſichten und nach ſeinem Vortheil zu 
lenken. Dies Alles liegt außer dem Gebiet ſeiner Macht. Aber 
von dieſem Allen hängt auch fein wahres Schickſal nicht ab, ſon⸗ 
dern nur das Schickſal deſſen, was ihm nicht bleibend gehört, 
etwa das Schickſal ſeines Leibes, ſeines Wohlſtandes, ſeiner 
bürgerlichen Verhältniſſe. Wer in ſolchen Dingen ſein ganzes 
Weh und Wohl gründet, hat für feine Ruhe einen ſchlechten 
Grund gewählt. Er wird beſtändig das Spiel der abwechſelnden 


— * 


Umſtände ſein, ſich mit ihnen auf kurze Zeit erheben, und mit 
ihnen untergehen. 5 | 

Nicht der Leib und was ihn allein angeht, ſondern der Geiſt 
im Menſchen iſt es, der da redet und die Hauptſache iſt. Das 
Reich deſſelben erſtreckt ſich aber nur auf ſich ſelbſt. Spricht er 
von einem Schickſal, welches er ſich ſchaffen könne, fo ſpricht er 
nur von dem ſeinigen; nicht von dem Schickſal deſſen, woran er 
im Irdiſchen einen Antheil hat. Dies iſt irdiſchen Geſetzen unter- 
worfen. „Sein eigenes Schickſal kann der menſchliche Geiſt ſich 
bereiten“, heißt alſo: es ſteht in ſeiner Gewalt, auch unabhangig 
von äußern Umſtänden glücklich oder unglücklich zu ſein, wie 
er will. 

Dies ſteht in ſeiner Gewalt; denn Gott gab ihm dazu den 
freien Willen, gab ihm Erkenntniß und die Kraft; er gab ihm 
zur Erwerbung äußerer Mittel und Annehmlichkeiten die aus Er- 
fahrungen erwachſene Klugheit; er gab ihm zur Gründung inne- 
rer, feſter Glückſeligkeit die Weisheit Jeſu. Oft kann jene Klug⸗ 
heit täuſchen, niemals dieſe Weisheit. Denn jene verändert ſich 
nach den Umſtänden, dieſe bleibt und richtet ſich ewig nach den 
bleibenden Ordnungen Gottes in der Welt. 

Und zu dieſen Ordnungen der Gottheit gehört auch das durchs 
ganze Weltall und Leben herrſchende Geſetz: Alles Gute hat 
feine guten Folgen, alles Böſe muß feine böfen Folgen 
haben, und ſich zuletzt ſelbſt verderben. Das Gute aber 
iſt der durch Jeſum geoffenbarte Wille Gottes; das Böſe iſt die 
Verachtung des wahren Guten um ſinnlicher Begierden willen. 

Wer alſo nur das Gute will und thut, wird der Schöpfer 
unzähliger guter Folgen. Jede rechtſchaffene That, die wir, 
gleich einer nützlichen Saat, ins Leben hineinſtreuen, bringt uns 
Segen aus demſelben zurück. Wir umringen uns ſelbſt mit den 
Früchten unferer Liebesthaten; und aus der Wahrnehmung der- 
ſelben entſteht endlich das höchſte Vergnügen, das reinſte Glück, 
welches uns zufrieden mit uns ſelbſt und unſerer Art zu ſein 
macht. Es iſt möglich, daß bei dem Allen wir an dußerlichen 
Gütern arm fein konnen; es iſt möglich, daß wir durch traurige 
Verhaͤltniſſe dasjenige von unſerm Wohlſtande ſogar verlieren, 


> 1 


was wir ſchon hatten. Es kann uns weh thun. Aber unſere 
innere Zufriedenheit kann dies nicht ſtören; wir werden ſchnell 
zu unſerer Heiterkeit zurückkehren, weil wir uns nicht von dieſem 
Bergänglichen abhängig machten. Nur der, welcher feinen eigenen 
Werth und die Wahrheit zu wenig kennt, wer in eine Bequem- 
lichkeit mehr oder weniger fein ganzes Glück ſetzt, kann beim Zu— 
ſammenſturz irdiſcher Wohlfahrt Ruhe und Zufriedenheit auf 
immer verlieren. So gab es Menſchen, welche ſich zuletzt mit 
verruchter Hand ſelbſt das Leben raubten, weil ihr Leib nicht 
mehr die Genüſſe haben konnte, nach denen er am meiſten geizte. 

Alles Gute hat unfehlbar ſeine guten Folgen. Ja, dieſe 
Folgen erſtrecken ſich nicht bloß auf die innere Heiterkeit unſers 
Gemüths, auf die ſelige Empfindung, daß wir Gottes ſind, und 
nach dem Traume des Erdenlebens ein noch unendlich herrlicheres 
Loos zu erwarten haben: ſondern nicht ſelten ſogar auf unſere 
irdiſchen Verhältniſſe. Der rechtliche Mann, der Menſchenfreund, 
der Wohlthaͤter der Hilfsbedürftigen, der Friedfertige, der Be— 
ſcheidene — iſt er nicht von dem Zutrauen, von der Liebe Aller 
umgeben, die ihn kennen zu lernen Gelegenheit hatten? Trifft ihn 
ein Unglücksfall, mit wie viel ſtiller, herzlicher Theilnahme be— 
grüßt ihn Jeder! Wie gern wünſcht Jeder demjenigen zu helfen, 
der ſonſt immer bereit war, Andern zu helfen! — Die liebende, 
ſorgfältige, ordnungsvolle Hausmutter, wer ſchätzt fie nicht? 
Wer ehrt nicht ihre Tugend im Leben unter den Kindern, ihren 
freundlichen Ernſt gegen das Gefinde, ihre Gefälligkeit gegen Be- 
kannte und Nachbarn, ihre beſcheidene Anſpruchloſigkeit, wo 
Andere mit ihren Verdienſten glänzen würden? 

Gott will es: alles Gute ſoll hienieden ſeine guten Folgen 
haben. Daher iſt es längſt eine von allen Erfahrungen be- 
kräftigte Wahrheit, daß es keine beſſere Klugheit gebe, als die 
Tugend. Wir wiſſen nicht immer, was unter gewiſſen Umſtän⸗ 
den nützlich ſein könne; aber jeder Menſch weiß, was unter allen 
Umſtänden recht und edel gethan iſt. Unſer Verſtand kann oft 
irren; aber unſer Gewiſſen irret nicht leicht. Der Wille zum 
Beſten iſt in unſerer Macht; aber der Erfolg des Beſten re 
von Gott ab. 


— 112 — 


Willſt du alſo ein Schöpfer deines beſſern Schickſals werden, 
ſo ſorge nicht um die Erfolge deiner Thaten, ſondern um die 
Güte und Gerechtigkeit dieſer Thaten. Du vermagſt nicht Alles; 
du kannſt nur einen Theil des Guten ſtiften, welches du in der 
Welt zu ſehen wünſcheſt. Jeder tragt nach ſeinen Kräften dazu 
bei. Der Eine pflanzet, der Andere begießet, Gott aber iſt's, der 
das Gedeihen gibt. Ein Jeder aber wird ſeinen Lohn empfangen 
nach ſeiner Arbeit. (1. Kor. 3, 8.) 

Das Böſe, ſo iſt es göttliches Geſetz, hat feine böſen 
Folgen, und muß ſich ſelbſt verderben. Wer es wählt, richtet 
mit eigener Hand fein Elend an. Beftätigen nicht die Erfahrungen 
unſers Lebenslaufes die ewige Wirkung jener göttlichen Ord⸗ 
nung? Sehet den Ehrgeizigen, er ſtirbt in immerwährenden 
Kämpfen und Unruhen. Sehet den Geizigen, er verſchmachtet 
an der Quelle. Sehet den Wüſtling, aus ſeinen bleichen Mienen, 
aus ſeinen erloſchenen Augen ſpricht das Gift, mit dem er ſein 
Blut vergiftete, ſeine Nerven zerſtörte. Sehet den Trunkenbold, 
er iſt von ſeinem Laſter gezeichnet, und ſtumpf an Geiſt und 
Sinnen fährt er in die frühe Gruft, nachdem ihn Krankheiten 
peinigten. Sehet den Heimtückiſchen, er wird geflohen; er hat 
keinen wahren Freund; er ſtürzt, und Jeder gönnt ihm den Unter⸗ 
gang. Sehet den ſtolzen Verſchwender, er fällt und muß oft 
Hilfe bei denen betteln, die er ehemals verachtungsvoll überſah. 

Woher kommt es, daß Wenige in ihrem Leben weder ganz 
glücklich, noch ganz unglücklich ſind? Daher, weil ſie weder 
ſchlecht genug ſein mögen, ganz böſe zu ſein, noch Muth genug 
haben, ganz gut zu handeln. Sie ſchwanken ungewiß zwiſchen 
Fehler und Tugend, daher auch zwiſchen Zufriedenheit und 
Leiden aller Art. Das Gute, was ſie thun und lieben, belohnt 
fie gleichmäßig, wie die Sünde, die fie begingen, fie beſtraft und 
verdrießlichen Verhältniſſen preisgibt. Willſt du ganz glücklich 
ſein, ſo mußt du dich nicht begnügen, nur halb gut zu ſein. 

Der Laſterhafte iſt der Schöpfer ſeines eigenen Elendes, ſeiner 
Krankheiten, feiner Unruhen, feiner Verzweiflung. Wer laͤugnet 
es? Und ſo kann auch der Gerechte der Schöpfer ſeiner unzer— 


— 8 — > 


ſtörbaren Zufriedenheit, das heißt, eines Wohlſeins werden, 
welches menſchliche Gewalt ihm nicht entreißen kann. 

Aber der Menſch kann mehr als das. Nicht nur iſt er durch 
ſeinen tugendhaften Sinn fähig, das unwandelbare Glück ſeines 
Gemüthes zu ſchaffen: er iſt durch die Weisheit Jeſu fähig, ſeine 
äußern Schickſale zu verbeſſern, und ſelbſt, wenn dieſe noch ſo 
traurig wären, über ſie zu triumphiren. Dies iſt das Höchſte, 
was der Menſch hienieden leiſten kann. So glänzt er in gleich- 
ſam göttlicher Vollendung, und ſteht höher als alle irdiſchen Er— 
eigniſſe. Stürme mögen wüthen; aber er ſchwebt groß über den 
Stürmen. Sie erreichen ihn nicht. 

Wie kann er dies? — Nicht durch gewöhnliche Klugheit, nicht 
durch eine aus mannigfaltigen Erfahrungen erbeutete Vorfichtig- 
keit: ſondern durch die Religion; durchdrungen von den Wahr- 
heiten derſelben, muß er in ihnen athmen. Was Jeſus lehrte, 
muß er denken; was Jeſus war, muß er fein. Er muß, als nach 
dem Ebenbilde Gottes geſchaffen, gleichſam ein Theil der Gottheit, 
nur in Gott, für Gott leben. So wird er der Schöpfer eines 
höhern Schickſals, das ihn weit über jedes irdiſche Ereigniß 
erhebt. 

Um dies göttlich-große Ziel zu erreichen, gewöhne dich an 
den Gedanken, daß du auf Erden für nichts leben ſollſt, als für 
deinen Geiſt; daß dir hienieden nichts gehört, als dein unſterb⸗ 
licher Geiſt; daß du nichts zu vollenden haſt, als deinen Geiſt, 
und daß alles Uebrige, Stand und Würden, Vermögen und 
Gelehrſamkeit, Schönheit und Geſchicklichkeit, Geſundheit und 
Krankheit, Freundſchaft und Verfolgung, irdiſches Glück und 
Unglück, nur Mittel zu deinem einzigen, höchſten und letzten 
Zweck ſein ſollen. Gewöhne dich an den Gedanken, daß dir nichts 
von Allem, was du äußerlich beſitzeſt, bleibt; daß dir nur Alles 
geliehen ſei; daß ſelbſt, was du durch deinen Fleiß erworben haſt, 
vergänglich ſei; daß ſelbſt deine beſten Freunde, Aeltern, Brüder, 
Schweſtern, Gatte, Kind nur kurze Zeit neben dir zu wandeln 
haben. Gewöhne dich an den Gedanken, daß du mit deinem Geiſte 
nur auf einem Beſuche in dieſer Welt biſt, von dem du bald um⸗ 
kehren mußt; daß du von deinem ewigen Vater nur eine Sendung 


— 114 — 


hienieden empfangen haſt, um ſeinen Willen in vielerlei Dingen 
zu vollſtrecken, worauf du von ihm wieder zurückgerufen wirſt. 
Gewöhne dich an den Gedanken, daß nur Gott dein beſtändiger 
Vater ſei; daß alle menſchlichen Geiſter ohne Ausnahme deine 
Brüder ſind; daß die Hüllen, die ſie tragen, ihr Leib, ihr Stand, 
nur Kleider ſind, die ſie während ihrer Sendung auf Erden 
tragen müſſen. 

Biſt du von dieſem wap und großen Gedanken, der über⸗ 
all in Jeſu Lehren liegt, innig durchdrungen: ſo wird deinem 
Auge die ganze Welt anders erſcheinen, als du ſie bisher ange— 
ſehen haft. Du wirft dich ſchämen, allen Reizungen und Be- 
gierden, die aus der Natur deines Körpers entſpringen, unter⸗ 
than zu ſein; dur wirft dich ſchämen, die Sendung, welche dir dein 
Gott in dieſer Welt gab, unerfüllt zu laſſen, um mit dem Staube 
zu ſpielen, über welchem du hinwandelſt. Du wirſt das Leben 
überall vom Schein unterſcheiden lernen; wirft mit Klarheit er⸗ 
kennen, daß nicht um Felder und Häuſer zu bauen, um Ehren⸗ 
ſtellen zu bekleiden, oder in prächtige Gewaͤnder gewickelt zu wer⸗ 
den, du von Gott in dieſe Welt geſchickt wurdeſt, ſondern um 
Gottes Mitarbeiter an der allgemeinen Glückſeligkeit des menſch⸗ 
lichen Geſchlechts zu werden. (1. Kor. 3, 9.) Du wirſt es hell 
verſtehen, was Jeſus mit den vielſagenden Worten ſagte: Trachtet 
am erſten nach dem Reiche Gottes und nach ſeiner Gerechtigkeit, 
ſo wird euch alles Uebrige zufallen. (Matth. 6, 33.) Darum, 
wenn ihr Nahrung und Kleider habet, ſo laſſet euch genügen. 

Du wirft leben, nicht um dir einen Vortheil auf den andern. 
zu häufen, und endlich ſterbend von deinen Schätzen davon zu 
gehen, ſondern um alle Weſen um dich her, fo weit deine Kraft 
reicht, glücklicher und weiſer zu machen. Die Glückſeligkeit Aller 
iſt erſt dein Glück. Du kennſt, du willſt kein anderes. J 

Du wirſt nur lächeln können, wenn dir die Bosheit thieriſch— 
geſinnter Menſchen deinen Wohlſtand zerſtört; ſie rauben dir 
nichts als einige Mittel, durch die du ihnen hätteft nützlicher wer— 
den können. Du wirſt nur lächeln, wenn dich das zweideutige 
Erdenglück um Hoheit, Anſehen und Einfluß betrügt. Denn 
was iſt's am Ende mehr, ob du deinen Leichnam in grobes Tuch 


— 15 — 


oder in den feinſten Purpur wickelſt: beide verfaulen endlich; 
beide ſind dem Geiſte gleichen Werthes. Was iſt's denn mehr, 
ob dich die Menſchen einen Fürſten oder einen Bettler in dieſem 
Lebenstraume nennen: dadurch erhältſt du in dir ſelbſt und im 
Weltall Gottes und im Reiche der Geiſter keinen größern und 
keinen geringern Werth. Der du ſelbſt biſt und vor Gott biſt, 
der bleibſt du. Vor ihm, dem Hocherhabenen, gilt wahrlich kein 
Anſehen der Perſon, nach den Erfindungen menſchlicher Eitelkeit 
und kleinlicher Maßſtäbe. 

Du wirſt nur lächeln, wenn dich eine Krankheit niederwirft. 
Du findeſt darin nur eine Zerrüttung deines dir als gebrechlich 
bekannten Werkzeuges. Vielleicht will Gott es dir nehmen, um 
dir ein vollkommneres zu verleihen. Vielleicht will Gott dich nur 
mahnen, auf dies Zerbrechliche nie hohen Werth zu ſetzen. Ge- 
nug, du freueſt dich unter den Schmerzen deines Leibes der Ge— 
ſundheit deines Geiſtes; deine Seele hat keinen Schaden genommen. 
Du wirſt mit feſter Ruhe den Tod deiner Geliebteſten auf Erden 
ertragen. Sie hatten den Beruf, wie du. Ihre göttliche Sendung, 
derentwillen ſie in die Welt kamen, iſt nur einige Tage früher 
vollendet worden, als die deinige. Sie ſtehen am Ziele. Sie 
empfangen aus Gottes Hand, nach hier vollendetem Geſchäft, eine 
ſchönere Laufbahn. Sie wird auch dir zu Theil werden. Mag 
ihre Hülle modern — du haſt ja nicht die Erdentheile an ihnen 
geliebt, von denen ſie umgeben waren, ſondern ihre Seele. Dieſe 
Seele bleibt dir ja verwandt und treu. Sie bleibt ja in Gott; 
verharre nur du auch in Gott, fo iſt keine Trennung möglich. — 
Denkſt du, empfindeſt du jo: wo iſt ein Ereigniß, das deine 
Heiterkeit, deinen Seelenfrieden, das heißt, dein wahres bleiben 
des Glück, verderben könnte? Biſt du dann nicht der Schöpfer 
deines höhern Schickſals geworden? Kann dich dann ein irdiſcher 
Sturm erſchüttern, oder nur berühren? 

So war Deine hohe Seligkeit auf Erden, o Jeſus, Du 
Göttlicher! Du verachteteſt das Irdiſche, und genoſſeſt nur da- 
von, ſo viel es zur Erhaltung Deiner menſchlichen Natur und 
Deines Wirkens nothwendig war. Du liebteſt alle Weſen um 
Dich her; die Kinder Gottes nannteſt Du Deine Brüder. Dein 


— 16 — 


Beruf, deswillen Du in dies Leben geſandt warſt, iſt geweſen, 
eine ſündige Welt von den Banden der Finſterniß, von den 
Feſſeln des Irrthums, der Sünde zu erlöſen, und die Geiſter frei 
zu machen von der Knechtſchaft, in der ſie durch ſinnliche Gelüſte 
gehalten werden. Dieſen Beruf allein hatteſt Du in allen Deinen 
Wegen vor Augen. Ob Dich das Volk bald zum Könige von 
Iſrael ausrufen, bald ſteinigen wollte, bekümmerte Dein gött⸗ 
liches Gemüth nicht. Ach, die irrende Menſchheit begriff nicht 
die Erhabenheit Deiner Sendung und Deines Thuns. Du fan⸗ 
deſt darin keine Schmach, in Knechtsgeſtalt einherzugehen; Du 
nannteſt es kein Unglück, oft nicht zu haben, wohn Du Dein 
Haupt legteſt. Das Irdiſche war für Dich werthlos; Dein 
Wandel war im Himmel. Du ertrugſt Hohn und Verfolgung 
und die Schmach öffentlicher Schande; aber Dein heiteres Be⸗ 
wußtſein erhob Dich über die thörichten Meinungen der Menſchen. 
Im Reiche der Geiſter, Du Fürſt der Geiſter, gilt eine andere 
Ehre, eine andere Schande, als in den engen Begriffen halb⸗ 
thieriſcher Menſchen. Kaum ein ſechsunddreißig Jahre langes 
Leben genoſſeſt Du auf Erden — aber Du lehrteſt den Tod ver⸗ 
achten, welchen Du nicht fürchteteſt. Welterlöſer, Du ſtarbſt, 
Deine Sendung auf Erden war göttlich vollbracht. | 

O laß mich in Dir leben, in Dir sterben! Durch Dich 
Schöpfer meines Schickſals ſein, durch Dich rte, wu 
ewigen Looſes! Amen. | 


* 
ͤ4ä— — ums 


14. 


Die Gewiſſenhaftigkeit des Chriſten als Unter⸗ 
than gegen Geſetz und Obrigkeit. 
* Röm. 13, 5 — 7. 


Nie ſei des Bürgers heil'ge Pflicht vergeſſen; 
Daß Keiner ſelbſtklug, trotzig und vermeſſen 
Des Vaterlandes fordernde Geſetze 

Liſtvoll verletze. 


Gib uns, o Gott, ein Herz voll feſter Treue, 
Daß Jeder Deines Rufs vor Dir ſich freue. 
ö Des Lebens Abend kommt. Einſt ruh'n wir Müden 
5 In Deinem Frieden. 


Bin ich nicht ſchon ein guter Bürger, wenn ich für mein Hab 
und Gut ſorge; wenn ich dadurch, daß ich nützliche Geſchaͤfte 
treibe, meinen Vortheil vermehre, auch den Nutzen anderer Men- 
ſchen befördere; wenn ich den obrigkeitlichen Perſonen die erforder- 
liche Ehrerbietung bezeuge, und ruhig dulde, was nicht zu aͤndern 
iſt; keine aufrühreriſche Geſinnungen hege, und die Abgaben von 
Allem entrichte, welche ich nicht verweigern kann? 
Wohl, wenn darin das Lob eines guten, eines chriſtlichen 
Unterthans allein beſteht, ſo genießen viele Tauſende dieſes Ruhms. 
Sie leiſten ihre Schuldigkeiten in gebührender Ordnung, wo ſie 
aus Furcht unvermeidlicher Strafe gezwungen ſind, es zu thun. 
Hingegen ſind ſie ſchon nicht ſo genau mit ſich, dann auch noch 
wahrhaften Bürgerſinn zu zeigen, wenn ſie nicht durch Strafen 
bedroht find; fie halten es ſchon für kein großes Vergehen, die 
Obrigkeit und deren Befehle hinterliſtig zu umſchleichen, wo ihre 
Untreue nicht gar leicht entdeckt werden könnte; ſie machen ſich 
kein Gewiſſen daraus, ihre Vermoͤgensumſtände, je nachdem fie 
Vortheil davon ziehen können, bald größer, bald geringer anzu⸗ 
geben, als ſie in der That ſein mögen, und ſo den Staat zu be⸗ 
trügen; ſie halten es für etwas ſehr Unſchuldiges, wenn ſie aus 
Bequemlichkeit oder aus Eigennutz den ihnen anvertrauten Theil 
des gemeinen Weſens oder der öffentlichen Verwaltung nur als 
Nebenſache, als fremde Angelegenheit, die fie nichts angeht, nach⸗ 


i 


— 118 — 


läſſig behandeln, und zwar um ſo mehr, wenn ſie dabei weder 
viel Geld noch viel Ehre einärnten können. 

Iſt dies recht? Man zuckt die Achſeln, und ſpricht: Aber ich 
allein kann und will mich nicht aufopfern; Niemand würde mir 
danken. — Iſt dies Weisheit, iſt dies Chriſtenſinn? Das Ge⸗ 
wiſſen ſpricht nein, aber der Eigennutz nennt es Klugheit und 
billige Selbſtliebe. 

Iſt es wirklich Klugheit und billige Selbſtliebe, wenn wir 
da der Obrigkeit und dem Vaterlande Ehrlichkeit verlaͤugnen, wo 
wir keine Strafe zu beſorgen haben? Unſern Wohlſtand, unſer 
Hab und Gut, und wenn wir dies noch nicht haben, ſelbſt die 
Fähigkeit, uns Eigenthum erwerben zu können, beſitzen wir nur 
in ſo fern, als wir in einem Lande wohnen, wo wir durch gute 
Ordnungen und Einrichtungen bei unſerm Eigenthum und un⸗ 
ſern Gewerben geſchützt werden, oder Anlaß finden, Vermögen 
zu gewinnen. Allein für uns ſelbſt, Jeder für ſich, können wir 
nicht beſtehen. Der reichſte Mann mit Tonnen Goldes in men⸗ 
ſchenloſer Einſamkeit wäre ärmer, als der Bettler in einer be> 
völkerten Stadt. 

Für dieſe Möglichkeiten, unſere Beſitzungen und Güter durch 
Fleiß erweitern zu können, müſſen wir alſo dem Lande, worin 
wir wohnen, dankbar ſein. Für den Schutz, welchen wir für 
unſere Rechtſame gegen fremde Eingriffe erhalten, müſſen wir 
beitragen nach unſern Kräften, daß die Landesobrigkeit die öffent⸗ 
lichen Einrichtungen unterhalten könne, welche unſern Rechten 
und unſerm Stande volle Sicherheit verſchaffen. 

So gebietet uns demnach die geſunde Vernunft, willig die 
Laſten des Landes nach Maßgabe unſerer Kraft mittragen zu 
helfen, und uns keineswegs von den Auflagen und deren Be⸗ 
zahlung ganz oder theilweiſe auszuſchließen. Denn geſchieht dies 
auf irgend eine hinterliſtige oder ſaumſelige Weiſe, ſo betrügen 
wir das Vaterland und die Obrigkeit um die rechtmäßige Schuld, 
die wir abzuſtatten haben. Unſere Klugheit iſt dann nicht beſſer, 
nicht edler, nicht verzeihungswürdiger, als die Klugheit des 
Diebes, welcher Andere in ihren Rechten und Beſitzungen ver— 
fürzt. Unſere ſogenannte billige Selbſtliebe tft ein ſchändlicher 


— 119 — 


Eigennutz, der uns zum Vexräther an Geſetz und Mitbürger⸗ 
ſchaft macht. Wenn wir es an uns verzeihlich finden, die Obrig⸗ 
keit zu hintergehen und fie in den pflichtmäßig zu leiſtenden 
Abgaben zu verkürzen: jo iſt es nothwendig auch wohl Allen ver⸗ 
zeihlich. Wenn aber alle Bürger jo unredlich denken: wer möchte 
mit Ruhe unter einem ganzen Volk von Betrügern wohnen? 
Woher ſoll der Staat Mittel nehmen, die allgemeinen Angelegen⸗ 
heiten in geziemender Kraft und Würde zu handhaben? Wer 
darf es dem Fürſten verargen, wenn er, um das Ganze zu retten, 
ſtrenge Maßregeln gegen Einzelne ergreift, die es trifft? 

Was ſchon die Vernunft und das einfache Rechtlichkeitsge⸗ 
fühl gebietet, iſt durch ſich ſeilbſt für den vernünftigen, für den 
redlichen Mann eine heilige Sache. Er ſchämt ſich, auch wo er 
es, ohne Aufſehen zu erregen, ohne Strafe zu befürchten, thun 
könnte, den Staat um die verlangten und geſetzlich angeordneten 
Einkünfte zu betrügen. Aber noch tiefer wird ſeine Scham als 
Chriſt. 

Denn Jeſus macht es zur ehrwürdigen Religionspflicht, der 

Obrigkeit die geſetzlichen Abgaben zur Behauptung der öffent⸗ 
lichen Ordnung zu entrichten. Gebet dem Kaiſer, was des Kaiſers 
iſt, und Gott, was Gottes iſt! ſprach er; und wer ſich dem Ge— 
bote des Heilandes entzieht, iſt der einer der Seinigen? 
8 Die frommen Aeltern Jeſu entzogen ſich den läſtigen Ver⸗ 
ordnungen ihrer Obrigkeit nicht. Als der Kaiſer Auguſtus eine 
allgemeine Schätzung in allen Ländern ausgeſchrieben hatte, zog 
Joſeph aus Nazareth nach der Stadt Bethlehem, auf daß er ſich 
mit Maria, ſeinem vertrauten Weibe, ſchätzen ließe. (Luk. 2, 
1 — 5.) In der Erfüllung dieſer Pflichten auf dieſer beſchwer⸗ 
lichen Reiſe ward Jeſus Chriſtus geboren. 

So ſeid nun aus Noth unterthan, ſagt Paulus. Nicht allein 
um der Strafe willen, ſondern auch um des Gewiſſens willen. 
Derhalben müſſet ihr auch Schoß geben. Denn fie find Gottes 
Diener, die ſolchen Schutz handhaben. So gebet nun Jederman, 
was ihr ſchuldig ſeid: Schoß, dem der Schoß gebührt; Zoll, 
dem der Zoll gebührt; Furcht, dem die Furcht gebührt; Ehre, 

dem die Ehre gebührt. (Röm. 13, 5 — 7.) 


— 120 — 


Und wie hier, ſo ermahnt noch öfter, noch dringender das 
göttliche Wort zur ſchuldigen Vollziehung unſerer Pflichten gegen 
die über uns ſtehende Obrigkeit. Denn wo eine Obrigkeit iſt, 
da iſt ſie durch Gottes Willen. 

Nicht alſo ſollen wir als Chriſten, als redliche Menſchen die 
Geſetze des Landes bloß dann pünktlich erfüllen, wenn wir durch 
die Furcht der Strafe und Schande dazu gezwungen ſind: ſon⸗ 
dern auch, wenn unſere Untreue verborgen bliebe, oder wenig— 
ſtens nicht leicht entdeckt werden würde. Nicht bloß, gleich dem 
unedeln Sklaven, ſollen wir vor der Zuchtruthe zittern, unſere 
Bürgerpflichten mit gewiſſenhafter Strenge vollziehen, ſondern 
um des Bewußtſeins willen, welches das köſtlichſte der 
Güter jedes rechtſchaffenen Mannes iſt. 

Was hülfe es uns auch, im Geheimen den obrigfeitlichen 
Willen zu umgehen, da der Allwiſſende unſere Schande ſieht; 
da unſer Gewiſſen ſich nicht vom Eigennutz beſtechen läßt, ſon⸗ 
dern bei jeder Erinnerung an den Betrug uns mahnen wird: 
du haft gegen Obrigkeit und Vaterland pflichtvergeſ— 
ſen und unredlich gehandelt! — Oder iſt das Verbrechen 
gegen die von Gott gegebene Obrigkeit kein Verbrechen gegen 
Gottes Gebote? Kann ich jemals gegen einen Menſchen, auch 
gegen den geringſten, ſündigen, ohne gegen Gott zu ſündigen? 
Kann ich jemals gegen einen Andern, oder gegen obrigkeitliche 
Einrichtungen unredlich ſein, ohne gegen meine eigene Würde, 
gegen meine eigene Seelenruhe der Allerunredlichſte zu werden? 

Ehre Fürſt und Geſetz, ſelbſt wenn das, was du 
gegen ihren Willen thun könnteſt, verborgen bliebe. 
Ehre fie in deinen Urtheilen und Meinungen, denn fie find gött- 
liche Stiftungen. 

Es iſt gewiſſer Menſchen böſe Neigung, alles das zu tadeln, 
was von ihrer Obrigkeit herrührt; entweder weil ſie einzelne Be— 
amte haſſen, oder weil ihr Ehrgeiz zu glänzen ſucht, als ver— 
ſtaͤnden fie Alles beſſer, denn die Vorgeſetzten. Man hält dieſe 
Tadelſucht für Freimüthigkeit; fie iſt aber gewöhnlich nichts, als 
der Erguß eines unreinen Herzens. Der freimüthige Mann ſpricht 
nur die Wahrheit aus, wo er überzeugt iſt, durch ſie wahrhaft 


— 121 — 


nützen zu können; nicht aber an Orten und zu Menſchen, wo 
die Obrigkeit nichts davon erfahren kann, und wo man nichts 
Anderes bewirkt, als die nöthige Ehrfurcht gegen Geſetz und 
Obrigkeit niederzureißen. Der freimüthige Mann bringt ſeinen 
Tadel offen an die rechte Behörde; nicht hinterrücks, nicht ehe er 
überzeugt iſt von der Richtigkeit ſeines gefällten Urtheils. Der 
freimüthige Mann redet ſein Wort zur rechten Zeit am rechten 
Orte, weil er dem gemeinen Weſen dann wohlzuthun und Hilfe 
zu verſchaffen hofft; aber er redet nicht aus Privathaß gegen ein- 
zelne Beamte, aus boshafter Rachſucht. Es iſt zwiſchen dem 
Freimüthigen und dem Läſterer ein fo großer Unterſchied, wie 
zwiſchen dem Muthe der Tugend und der Frechheit des heimtücki⸗ 
ſchen Verleumders. 

Entrichte mit pünktlicher Gewiſſenhaftigkeit die 
geſetzlichen Abgaben, ſelbſt wenn du, ohne Furcht ent— 
deckt zu werden, die Regierung um das Ganze oder 
einen Theil derſelben verkürzen fönnteft. So gebietet es 
dir die Vernunft; jo, und wärejt du ein Heide, dein Rechtlich⸗ 
keitsgefühl; ſo, da du in der Würde des Chriſten daſtehſt, Jeſus 
Chriſtus, dein Lehrer, dein Heiland; ſo das göttliche Wort! Aber 
ach, wie Mancher, welchen wir auf den Straßen und in Geiell- 
ſchaften als einen der Redlichſten des Landes ehren, tragt viel⸗ 
leicht in ſeiner Bruſt den Vorwurf: auch ich bin ein Betrüger des 
Vaterlandes und meiner mir von Gott angeordneten Obrigkeit! 
Wer nicht, wie unſer göttlicher Lehrer gebeut, dem Kaiſer gibt, 
was des Kaiſers iſt, o, der hat auch Gott nicht gegeben, was 
Gottes iſt! N 

Freilich fehlt es keinem Sünder an Entſchuldigungsgründen, 
und jo auch nicht dem geheimen Betrüger des Staates an DBe- 
mäntelungen ſeines ehrloſen Eigennutzes. Die Obrigkeit, wird 
er zuweilen bei ſich ſelbſt ſprechen, iſt reicher als ich; ſie hat mehr 
Hilfsmittel, das Fehlende zu erſetzen, als ich. Daß ich dem 
Staate eine Kleinigkeit von dem vorenthalten habe, was ich hätte 
zahlen ſollen, wird ihn noch nicht zu Grunde richten. Darum 
mag es mir wohl erlaubt ſein, auch für mich zu ſorgen. Ich 
brauche es nöthiger, als der Staat. 

III. 6 


— 122 — 


Wahr mag es ſein, daß der Dieb es oft nöthiger bedarf, als 
der Reiche, den er beſtiehlt; aber iſt er deswegen zum Raube be⸗ 
rechtigt? und kann er alle Bedürfniſſe und Ausgaben des Reichen 
berechnen, der für ſeine eigene Perſon vielleicht weniger dedarf, 
als der ſchwelgeriſche, diebiſche Arme? Freilich, der Räuber ver⸗ 
greift ſich an fremdem Gut. Aber du, der du dem Lande die 
ſchuldigen, vom Geſetze verordneten Abgaben hinterhältſt, thuſt 
du nicht desgleichen? Die Steuer, welche von deinem Vermögen 
dem geſammten Lande oder der Gemeinde gehört, in welcher du 
wohnſt, iſt ſie dein Eigenthum? Iſt ſie nicht der Zins, welchen 
du ſchuldig geworden biſt, und den du unterſchlägſt, oder auf 
unehrliche Art ſchmälerſt? g 

Auch damit tröſtet ſich der gewiſſenloſe Staatsbürger wohl 
oft: Ich bin gegen jeden meiner Mitbürger treu und redlich; 
Keiner darf mir etwas Uebels mit Grund und Fug nachſagen. 
Und ſo darf ich auch bei den vielen Abgaben zuweilen an mein 
eigenes Beſtes denken, und das behalten, was man mir nicht 
nachrechnen kann. 

Unredlicher! weil du Treue und Redlichkeit übſt gegen den 
Einen, biſt du darum befugt, den Andern zu hintergehen? 
Oder weil du Einzelnen gibſt, was du ihnen ſchuldig gewor— 
den, darfſt du deswegen Alle insgeſammt betrügen? Und iſt der, 
welcher den Staat an ſeinen geſetzlichen Einkünften verſchmälert, 
nicht ein Betrüger aller ſeiner Mitbürger? Denn wenn ſie alle 
ihre volle Pflicht und Zahlung leiſten, ſtehſt du allein zurück, 
und genießeſt hinterliſtig den Nutzen von ihren Aufopferungen, 
ohne würdig zu ſein, daran Theil zu nehmen, weil du nicht deinen 
rechtlichen Antheil dazu beiträgſt. Wenn dein Betrug ihnen 
offenbar würde, hatten ſie nicht das Recht, dich verächtlich als 
einen Menſchen auszuſtoßen, der auf ihre Koſten Wohlleben ge— 
nießen will? — — 

Denke nicht: Andere treiben es auch nicht beſſer. Es ſind 
ihrer wohl noch Viele, die in Entrichtung der Abgaben eben fo 
wenig mit ihrem Gewiſſen zu Rathe gehen. Deſto ſchimpflicher 
für dich, daß du in die Zahl derer treten magſt, welche du ſelbſt 
im Grunde deines Herzens verachteſt; in die Zahl derer, die ihr 


r 


Geld höher achten, als ihr unbeſcholtenes Gemüth. Deſto drücken⸗ 
der wird der Raub, welchen die unredlichen Bürger an den red⸗ 
lichen verüben. Denn wenn auf ſolche Art die Einnahmen des 
Vaterlandes verringert worden find, und damit folglich die öffent- 
lichen Ausgaben nicht gänzlich beſtritten werden können, wird die 
Obrigkeit zur Ausſchreibung neuer Steuern gezwungen, um das 
Fehlende zu ergaͤnzen. Deine Mitbürger müſſen alſo, wegen 
deiner und Deinesgleichen ſchimpflicher Unredlichkeit, doppelten 
Zins und doppelte Laſt tragen. 

Magſt du, Selbſtſüchtiger, immerhin ſchadenfroh dazu lächeln, 
und es für einen Gewinn achten, auf Unkoſten deiner Herzens⸗ 
reinigkeit und Gewiſſensruhe einiges Geld gewonnen zu haben: 
aber rühme dich fernerhin nicht deiner Treue und Redlichkeit gegen 
deine Mitbürger, die du alle betrogen, indem du die Obrigkeit 


hintergingſt; — aber rühme dich nicht deines Chriſtenthums, 


indem du um wenige Silberlinge den Frieden deines Herzens und 


deine Pflicht gegen Gott und Menſchheit verrathen haſt; — aber 


Pr 


rühme dich nicht deines Jeſus, der dich nicht als feinen Nach- 
ahmer kennt; rühme dich nicht deiner frohen Hoffnungen und 
Ausſichten in der Todesſtunde, da du ein betrogenes Vaterland 
hinter dir zurückläſſeſt, einem allwiſſenden Richter entgegengehſt, 
und ein ſchuldbeſchwertes Gewiſſen mit hinüber nimmſt, wo keine 
durch Furcht erpreßte Reue, kein flüchtiges Gebet dich fo ſchnell 
heiligt, als du dich in deinem Leben ſchnell durch eine Schänd- 
lichkeit beſudelſt. 

Verwalte mit Luſt und Eifer das gemeinſchaftliche 
Gut, welches dir von der Obrigkeit oder von deinen 
Mitbürgern zu verwalten gegeben worden iſt. Denn wir 
ſind dem Lande nicht bloß den Geldzins von unſerm Gewerbe und 
Vermögen ſchuldig, auf daß das Ganze wohl unterhalten und 
geſichert werde: ſondern auch unſere Geiſteskräfte und unſere 
arbeitsloſen Stunden ſollen wir für das Wohl unſerer Mitbürger 
anwenden. 

Wo etwa eine kleine Ehre, irgend ein kleiner Geldgewinn bei 
einer Stelle zu erhalten ſind, da werden ſich genug Menſchen 


| zudrängen, um angeſtellt zu fein. Aber deſto ſeltener find die 


— 14 — 


gemeinnützigen, dem Vaterlande mit reiner Liebe ergebenen Bür⸗ 
ger, wo die Uebernahme irgend einer öffentlichen Verpflichtung 
ohne Einkünfte und ohne ſonderliche Auszeichnung, wohl gar 
zuweilen mit Verantwortlichkeit und Verdruß verknüpft iſt. Da⸗ 
her findet man der unglücklichen Beiſpiele genug, daß aller Or⸗ 
ten das Privateigenthum beſſer als das Eigenthum der Gemeinde 
verwaltet wird; daß Niemand Geſchäfte übernehmen will, welche 
ihm keinen Vortheil abwerfen, und daß, wenn er ſie übernimmt, 
er ſie mit Gleichgültigkeit als eine läſtige Nebenſache beſorgt. 

Du aber, welcher edlern Herzens ſein und im großen Geiſte 
Jeſu handeln will, ehre den Willen deiner Obrigkeit, ehre die 
Sache deines Vaterlandes, deines Wohnortes. Dränge dich zu 
keinen Aufträgen, aber ziehe dich auch nicht zurück, wenn man 
dir für das Gemeinwohl eine Laſt auflegen will, der deine Kräfte 
gewachſen ſind. Deine Ehre iſt deine Tugend, dein Lohn iſt dein 
Bewußtſein! Werde der Diener Aller, ſo macht dich dein Herz 
zum Erſten unter Allen. Verwalte, was dir anvertraut ward, 
mit einer Sorgfalt, als verwalteteſt du deinen eigenen Nutzen: 
ſo wirſt du in den Augen deiner Mitbürger Ehrfurcht für deine 
Redlichkeit und deinen Eifer leſen, Frieden in deinem Innern, 
frohe Zuverſicht in deinem Stande zu Gott finden; ſo haſt du 
in der That nicht mehr fremde Angelegenheit, genden Deine eigene 
verwaltet. 

Herr der Welt, majeſtätiſcher Gott, ſind wir nicht Alle, der 
Fürſt, wie der Unterthan, die Werkzeuge Deiner weiſen Vor⸗ 
ſehung und Weltregierung? Wie könnte ich es wagen, freudigen 
Gemüths zu Dir emporzuſchauen, wenn ich mich weigerte, des 
Landes Wohl nach meinen Kräften zu befördern, in welches Du 
mich verſetzt haft? Wie könnte ich Deines heiligen Reichs wür⸗ 
diger Genoſſe ſein, wenn ich nicht ein rechtſchaffener Unter⸗ 
than und Bürger dieſer irdiſchen Welt ſein möchte? Aber, wie 
wäre ich Dir, Gott, du Vater und Stifter aller Ordnungen, 
gehorſam, wenn ich nicht der weltlichen Obrigkeit auf Erden zu 
gehorchen wüßte? 

Treu, feſt und ohne alle Umwege will ich mich allen Geſetzen 
und Einrichtungen derer unterwerfen, die Du zu Vorgeſetzten 


— ee 


mir gegeben haft. Ich will lieber weniger haben, als mit Un⸗ 
gerechtigkeit haben. Ich will lieber freudig gehorchen, als durch 
unanſtändiges Murren meinen eigenen Muth ſchwächen, und 
meine Mitbürger zu ähnlichen Unzufriedenheiten reizen. Selbſt 
wenn auch Manches, das mir vorgeſchrieben wird, von mir als 
unvollkommen angeſehen würde, will ich auch dies mit redlicher 
Gewiſſenhaftigkeit erfüllen. An meinen Obern iſt es, mit Voll⸗ 
kommenheit zu regieren; an mir iſt es, mit Vollkommenheit zu 
gehorchen. Jeder iſt nur in feinem Verhältniſſe vor Dir ver- 
antwortlich; er trägt nicht des Andern Schuld. 

O Vater, gib mir Kraft, daß ich auch in meines Lebens bür- 
gerlichen Verhältniſſen der Vollendetſte und Beſte werde; eine 
Aufmunterung Vieler, ein Beiſpiel Aller! Amen. 


15. | 
SGSeelengrdh e. 
R Matth. 5, 44—48. 


Der Menſch darf mehr begehren, 
Als Erd' und Himmel geben kann! 
Gott will ihm mehr gewähren, 

Beut ihm ein großes Erbtheil an. 
Er führt ihn auf die Erde, 

Daß er in dieſer Zeit 
Von ihm geleitet werde 

Zu ſeiner Seligkeit; 
Bis er mit allen Kräften, 

Gebildet und gewöhnt 
Zu göttlichen Gefchäften, 

Nach ihr allein fich ſehnt. 
Dann endet er voll Wonne 

Der hohen Tugend ſchweren Lauf. 
Gott ſelbſt wird ſeine Sonne, 

Und geht im vollen Glanz ihm auf. 
Vollendung heißt die Palme, 

Die ihm ſein Engel bringt: 
Entzücken tönt im Pfalme, 

Den er dem Schöpfer fingt. 
Um herrlich einſt zu werden, 

Groß in der Ewigkeit: 
Sei göttlich ſchon auf Erden, 

Und wuch're mit der Zeit. 


Nur zu oft ſah ich den Menſchen in ſeiner Niedrigkeit — aber 
wann habe ich ihn auch in feiner ganzen Hoheit erblickt? 
Ich ſah ihn nur zu oft, wie er ſinnlich-thieriſch dahinlebte; 
nur darauf bedacht, durch Arbeit ſein Brod zu gewinnen, oder 
ein kleines Eigenthum mehr als ſein Nachbar zu haben, oder ſich 
mit ſchönern Kleidern zu ſchmücken, als dieſer; ſah ihn, wie ſeine 
ganze Freude zuletzt in ſeinen ſtolzen Einbildungen von ſich ſelbſt 
beſtand, oder im Kitzel ſeines Gaumens bei Trinkgelagen oder 
Gaſtmaͤhlern, oder daß er einigen andern Menſchen Befehle zu 
geben hatte; ich ſah ihn, wie er an die Verbeſſerung ſeines leib— 
lichen Zuſtandes unaufhörlich dachte, um die Verbeſſerung feines 
Gemüths ſich aber, als waͤre gerade dies eine Nebenſache, am 
wenigſten bekümmerte; ich ſah ihn feinen Verſtand nur üben, 


— 127 — 


Kenntniſſe zu ſammeln, Geſchicklichkeiten nur erwerben, um, wie 
er ſich ausdrückte, mit Ehren durch die Welt zu kommen, als 
hätte er die erhabenen Kräfte ſeiner Seele nur deswegen von der 
Gottheit empfangen, damit er das ſchlauſte, künſtlichſte, gewal⸗ 
tigſte, aber auch das gefährlichite aller Thiere werde; ich ſah ihn, 
wie er ſich ohne Scheu von ſeinen Launen regieren, ohne Scham 
von ſeinen Leidenſchaften überwältigen ließ, als ware es eine 
Ehrenſache, ſich keinen Zwang anzulegen, ſondern feinen Nei— 
gungen, Trieben und Wünſchen den Zügel ſchießen zu laſſen, 
und dem von keinem vernünftigen Geiſte beherrſchten Thiere in 
allen Gemüthsäußerungen vollkommen ahnlich zu werden; ich 
ſah ihn, daß er eine Religion bekannte, nicht des Herzens, ſon⸗ 
dern der bürgerlichen Gewohnheit und Anſtändigkeit wegen; daß 
er zu Gott Gebete hinplapperte, die Kirchen beſuchte, und die 
heiligen Gebrauche derſelben übte, als wäre dies ein Zeremoniel, 
mit dem bei dem Regierer des Weltalls, dem Lenker der Schick— 
ſale, dem Richter der Todten Alles abgethan wäre; ich ſah ihn 
die Religion Jeſu zum Deckmantel feiner Verbrechen, zum Be— 
ruhigungsgrund für ſein Gewiſſen machen, indem er wahnſinnig 
genug fabelte, er könne ſich auf das genugthuende Verdienſt un⸗ 
ſers Herrn und Heilandes berufen, und der Tod Jeſu ſei ein 
Opfer für ſeine Sünde geweſen, ſo daß nun keine Strafe und 
Verdammniß mehr zu fürchten ſei. 

Wehe! wie tief kann der Menſch ſinken! Er iſt voll unaus⸗ 
löſchlicher Sehnſucht nach Glückſeligkeit, und doch nie glücklich, 
weil er mit ſehenden Augen in ſein unzweifelhaftes Verderben 
rennt, als ſchleppte ihn eine unſichbare Macht grauſam dahin. 
Wohl eine grauſame, unſichtbare Macht! Seine Leidenſchaften 
ſind es, die ſeine Seele verderben und ihr Glück, ihren Frieden. 

Wer iſt denn der Menſch in ganzer Hoheit, geſchaffen, ein 
Ebenbild Gottes zu ſein? Iſt es der Chriſt, welcher mit genauer 
Selbſtkenntniß ſich immerdar beobachtet, daß er nicht fehle, und 
jene Selbſtherrſchaft über alle ſeine Gemüthsbewegungen übt, 
welche ihn über den großen Haufen erhebt? 

Wohl iſt ehrwürdig der Weiſe, welcher vom Reiz ſinnlichen 
Genuſſes, vom Zauber der Leidenſchaften, von der Macht des 


1 


Ehrgeizes, der Eitelkeit, der Wolluſt, der Zornmüthigkeit unab⸗ 
hängig daſteht, ein Freier unter den Sklaven, ein König unter 
den Knechten! Ehrwürdig iſt er, denn keine äußere Gewalt beugt 
ihn, kein Glück bringt ihn außer Faſſung, kein Unglück ſchlägt 
ihn zu Boden — er ſteht in allen Stürmen unerſchüttert, nur 
er ſelbſt beugt Alles, weil er ſeine Neigungen und Gemüthsbe⸗ 
wegungen meiſtern kann, daß ſie nie Einfluß erhalten auf ſeine 
Entſchließungen. Bewundernswürdiger iſt er, als der, welcher 
mit Hilfe unterjochter Völker andere Völker unterjochen kann, 
nur nicht ſeine eigene Ehrſucht; bewundernswürdiger, als der 
größte unter den Künſtlern und Gelehrten, die Werke zuſammen⸗ 
bauen, welche man als Wunder der Welt anſtaunt, aber dennoch 
nicht einmal den ſteten Frieden und die Glückſeligkeit ihres eigenen 
Gemüths zu gründen vermögend find. 

Aber iſt Selbſtbeherrſchung die letzte und höchſte Stufe der 
Vollendung, die der Menſch zu erſteigen hat? 

Nein, Wäre ſie es, ſo würde Jeſus, der göttliche Welter⸗ 
leuchter, nichts Höheres gelehrt und gepredigt haben, als was 
vor ihm ſchon viele Weiſen des Alterthums gelehrt und gepredigt 
hatten. Ja, ſchon ehe Jeſus Chriſtus die Erdenwelt betrat, hat 
ten die tugendhafteſten und einſichtsvollſten Männer gelehrt, daß 
Selbſtkenntniß und Selbſtbeherrſchung die höchſte Würde des 
Menſchen vorbereiten. Noch mehr, ſie ſelbſt gaben in ihrem 
eigenen, herrlichen Lebenswandel das rührende Beiſpiel der 
Selbſtkenntniß und Selbſtbeherrſchung, und bewieſen, daß dieſe 
Tugenden nicht zu ſchwer wären, daß jeder Sterbliche ſie üben 
könnte. Sie thaten es! Noch heute ehrt die Welt die Namen ſo 
edler Männer. Sie thaten es! O ihr Chriſten, die ihr feig und 
ſklaviſch vor Erfüllung dieſer himmliſchen Pflichten bebet, ſie 
thaten es, und doch war ihnen noch kein Jeſus erſchienen — nur 
finftere Ahnung war ihnen Ewigkeit und Gericht, was uns durch 
göttliche Offenbarung ſchauerlich entzückende Gewißheit geworden. 
Sie thaten es — Chriſten! und die es thaten, waren nur Heiden! 

Aber Jeſus, der Hocherhabene, trat mit dem Glanze himm— 
liſcher Weisheit in die Welt, und forderte mehr. 

Auch er forderte Selbſtkenntniß, und daß ſich Jeder prüfe, 


— 129 — 


weil ohne Erkenntniß unſerer Sünden keine Vermeidung ders 
ſelben gedenkbar iſt. Auch er forderte Selbſtbeherrſchung, Selbſt⸗ 
verlaͤugnung, weil, wer nicht feinen Lüften und Begierden Zaum 
und Gebiß anlegen kann, von ihnen unterjocht und von der 
Nachfolge Jeſu ausgeſchloſſen wird. Doch dieſes Alles thaten 
auch die Heiden. Sie ſchonten ihres Feindes, ſie machten das 
Glück ihrer Freunde, ſie verabſcheuten die Ausſchweifungen des 
Schwelgers, des Ehrgeizigen, des Wollüſtlings, des Trunken⸗ 
bolds; ſie verachteten den Stolz und die Thorheit des Geizes, 
die Unerſättlichkeit der Habſucht und die Schändlichkeit des überall 
für ſich rechnenden Eigennutzes. Doch alle dieſe Tugenden waren 
noch keine Chriſtentugend. | 

Jeſus forderte vom Menſchen mehr. Er forderte die Aehn⸗ 
lichwerdung Gottes; er forderte eine Seelengröße, ſo weit der 
Sterbliche auf Erden ihrer fähig iſt. 
5 Nicht genug, ſprach er, iſt's, feinen Zorn zu mäßigen; nein, 
liebet eure Feinde; ſegnet, die euch fluchen; thut wohl denen, die 
euch haſſen; bittet für die, die euch beleidigen und verfolgen; auf 
daß ihr Kinder ſeid eures Vaters im Himmel. Denn er läſſet 
ſeine Sonne aufgehen über die Böſen und über die Guten, und 
laͤſſet regnen über Gerechte und Ungerechte. Denn fo ihr lieber, 
die euch lieben, was werdet ihr für Lohn haben? Thun nicht das⸗ 
ſelbe auch die Zöllner (Heiden)? Und ſo ihr auch nur zu euern 
Brüdern freundlich thut, was thut ihr Sonderliches? Thun nicht 
die Zöllner (Heiden) auch alſo? Darum ſollt ihr vollkommen 
ſein, gleichwie euer Vater im Himmel vollkommen iſt. (Matth. 
5, 44 — 48.) 150 | 

Dies iſt die Geiſteshoheit, welche der Himmliſche von uns 
fordert. Nicht genug, daß wir uns ſo vollkommen ſelbſt beherr⸗ 
ſchen, daß unſere Neigungen und Gefühle uns zu keinem unrech⸗ 
ten Schritt verleiten, ſollen wir ſogar Segen und Wohlſein 
um uns her verbreiten, fo weit wir reichen können. Nicht 
der iſt ſchon tugendhaft, welcher ſich ſo in ſeiner Gewalt hat, daß 
er nie eine Pflicht verletzt und vernachläſſigt; ſondern der iſt's, 
der ohne Rückſicht auf äußere Verhältniſſe, ohne Anſehen der 


— 130 — 


Perſonen Gutes thut, und die allgemeine Glückf ſeligkeit vermehrt, 
ja ſelbſt das Glück ſeiner Feinde. 

Dies iſt die chriſtliche Seelengröße, dies der Gipfel irdiſcher 
Vollendung! Der wahre Weiſe — und nur der heilige Nach- 
folger Jeſu iſt's — fühlt ſich erhaben über die Ränke, Umtriebe 
und Leidenſchaften des Lebens, und will nur beglücken, wo An⸗ 
dere aus Selbſtſucht Böſes thun. Er iſt erhaben über Beleidi⸗ 
gungen und Feindſchaften; er läßt ſich durch fie nicht hindern, 
denen wohl zu wollen und Nutzen zu ſtiften, die ihn haſſen. Seine 
Rache heißt vergeſſen und verzeihen. Er iſt erhaben über das 
kleinliche Streben der gemeinen Menſchen, mit welchem ſie ihr 
ganzes Leben daran wagen, in irgend einem Sinnenkitzel, in 
irgend einer Eitelkeit ihr höchſtes Glück zu ſuchen. Sein höchſtes 
Gut iſt das Eins ſein mit Gott. Er, ſich ſtets ſelbſt beherr⸗ 
ſchend, um rein von Fehlern ſein Herz zu bewahren, haſſet die⸗ 
jenigen nicht, die da fehlen, ſondern betrachtet ſie als das, was 
ſie wirklich ſind, als Kranke, deren Leichnam die Seele drückt und 
beherrſcht; als Irrende, deren Verſtand ein falſches Gut zum 
Ziel, oder ein falſches Mittel zum Zweck gewählt hat. Er haßt 
ſie nicht, aber bedauert ſie, und ſucht durch Beförderung einer 
weiſen Aufklärung die Uebel des Irrthums zu vermindern. Er 
iſt erhaben über die Leidenſchaft der Selbſtſucht und des Eigen- 
nutzes. Er will nicht der edelſte der Menſchen fein, um der hoch— 
geachtetſte von allen zu werden; wollte er dies, dann wäre er 
uicht mehr edel. Er will das Gute nicht thun um einer höhern 
Belohnung willen; wollte er dies, ſo waͤre ſeine Tugend nicht 
mehr Tugend, ſondern Schlauheit und kluger Eigennutz. Er 
liebt die Tugend, weil fie göttlich iſt. Er will vollkommen fein, 
weil ſein Vater im Himmel vollkommen iſt. Er will eins ſein 
mit Gott, weil ſein Geiſt aus Gott iſt, und ſich zu dem erhabenen 
Urſprung zurückſehnt. 

Dies iſt die aͤchte Erhabenheit des Gemüthes, die Jeſus von 
ſeinem Nachfolger fordert. Liebe und Wohlthun iſt ihr Weſen, 
und beſcheidene Demuth ihr Schleier. Sie trachtet nach dem 
Höchſten, darum iſt ihr, was vom Staube kommt und zum 
Staube zurückkehrt, das Niedrigſte. Das Ewige iſt ihr Heim— 


\ 


— 181 — 


weſen; daher erſcheint ihr das Erdenleben nur als Vorbereitungs 
ſtufe. Sie ehrt die menſchlichen Stiftungen und Ordnungen, als 
Mittel zur Beförderung der Glückſeligkeit; aber die Wahrheit, 
das Recht und das Gute höher, als menſchliche Stiftung: denn 
nur zu oft vergißt der ſinnliche Sterbliche über den Glanz jener 
ſelbſterfundenen Mittel den ehrwürdigen, fernen Zweck. Gott iſt 
ihr in dieſer Welt Alles, weil Gott in Allem iſt, und ſie ſelbſt 
in Gott. Sie liebt das Leben, weil es ein Daſein in Gott iſt, 
aber verachtet den Tod, weil er nur eine geringe Aenderung in 
der Art unſers Daſeins iſt. 

O erhabener Jeſus, dies iſt Deine Religion, Deine Offen⸗ 
barung, die Du in das Leben der Sterblichen brachteſt! Dieſe 
Seelengröße iſt die Frucht des Chriſtenthums. Aber was bin 
ich? Nein, ich war noch kein Chriſt! Was hatte ich? Nein, ich 
hatte noch kein Chriſtenthum, ſondern ein feiges Schwanken 
zwiſchen Sünde und Tugend, zwiſchen Staub und Gottheit. 
O Jeſus, Dein heiliges Wort fällt wie ein Lichtſtrahl in mein 
Gemüth. Heller erkenne ich den Sinn Deines himmliſchen Ge- 
dankens: Ihr ſollt vollkommen ſein, gleichwie euer Va⸗ 
ter im Himmel vollkommen iſt.“ 

Die Seelengröße des Chriſten beſteht nun nicht in der gänz- 
lichen Vernachläſſigung und Unterdrückung des Leibes, in der 
Ertödtung aller Begierden, in dem gänzlichen Abſterben für die 
irdiſchen Freuden des Lebens. Nein, dieſer Leib iſt das mir von 
Gott verliehene Werkzeug, wodurch ich auf die Welt um mich 
her wirken kann. Dieſes Werkzeug darf ich nicht verſchmaͤhen, 
nicht verwahrloſen; ich würde meinen Geiſt des wichtigſten von 
Gott verliehenen Mittels berauben, durch welches er feine Voll- 
endung bewirken ſoll. Aber für mehr als ein Werkzeug darf ich 
ihn nicht anſehen. Wenn ich für die Stärke, Feſtigkeit, Geſchick⸗ 
lichkeit und Geſundheit des Körpers geſorgt habe, dann habe ich 
Alles gethan. Aeußerer Schmuck und Schönheit des Werkzeuges 
find vorübergehende Nebendinge. Darein darf ich nicht allen 
Werth ſetzen, noch weniger ihretwillen der Kraft und Geſund⸗ 
heit des Leibes Eintrag thun. Aber der, welcher das Werkzeug 
regiert, iſt ſelbſt wichtiger, als das Werkzeug; und der Chriſt 


— 132 — 


iſt's, der den Leib regiert. Er opfert dieſen freudig auf, wenn 
es ſein muß, die höchſten Zwecke, allgemeine Glückſeligkeit, zu 
befördern. Ob Krankheit, ob Wunden, ob Schmerz, ob Tod — 
des Chriſten große Seele achtet ihrer nicht, wenn es darauf an⸗ 
kommt, die höhern Güter zu retten: Wahrheit, Recht, Glauben, 
Unſchuld, Menſchenglück. 

Die Seelengröße des Chriſten beſteht nicht in ſtolzer Ver⸗ 
ſchmähung aller Lebensfreuden; aber jene Freuden ſind ihm nicht 
mehr, als bloße Erquickung des Körpers, damit er durch Er⸗ 
holung neue Kräfte gewinne, nützlich zu arbeiten. Er verachtet 
es, nur beſtändig ſinnlichen Freuden nachzujagen, und ſich be⸗ 
ſtändig zu erholen, ohne gearbeitet zu haben. Keinen Tag voll⸗ 
endet er, ohne eine gute That vollbracht zu haben. Er gibt alle 
Freuden hin, wenn er damit fremdes Wohl vermehren kann. 
Ihm iſt es Wolluſt, zu entbehren und zu leiden, wenn er da⸗ 
durch Glückliche macht. 

Reichthum, Ehre, Anſehen ſind für ihn kein Gegenſtand der 
Verachtung, aber auch kein Gegenſtand feines vorzüglichen Be— 
mühens. Alle dieſe Herrlichkeiten, die der Menſch vergöttert, 
können weder das Glück des chriſtlichen Weiſen vermehren, wenn 
ſie kommen, noch vermindern, wenn ſie verſchwinden. Für ihn 
ſind ſie nur Hilfsmittel größerer Thätigkeit für Menſchenwohl. 
Er weiß ſehr wohl, wie unzuverläſſig das Anſehen, wie zwei⸗ 
deutig Ehrenbezeugungen ſind, und wie wenig alles Gold der 
Welt vermögend iſt, eine dauerhafte Gemüthsſeligkeit zu ſchaffen. 
Er iſt jede Stunde bereit, auf allen Ruhm Verzicht zu thun, 
wenn er dadurch den Frieden und das Glück der menſchliche Fa— 
milie vermehren kann. Er iſt jede Stunde bereit, allen Reichthum 
aufzuopfern, wenn er damit allgemeines Leiden mindern kann. 

Was vom Staube kommt, iſt im Staub; auch das Glaͤnzendſte 
iſt ihm keines Seufzers werth. Was liegt daran, ob wir, was 
wir endlich immer verlieren müſſen, ein paar Tage oder Jahre 
früher verlieren? Nur wenn wir es verlieren, ſei es fuͤr eine hei— 
lige Sache der Menſchheit. Eine Tonne Goldes tft nicht fo viel 
werth, als das Bewußtſein einer goͤttlich-großen That, und das 
Leben iſt leichter aufzuopfern, als die Unſchuld. 


— 11 


Die Seelengröße des Chriſten beſteht nicht darin, daß wir es 
verſchmaͤhen, unſere eigenen oder die Rechte unſerer Brüder zu 
vertheidigen, wenn ihnen Gefahr droht. Alle Rechte, welche wir 
oder Andere in der bürgerlichen Geſellſchaft beſitzen, ſind Be⸗ 
dingungen, unter denen wir Hilfsmittel zu nützlicher Wirkſam⸗ 
keit erwerben, gebrauchen und bewahren können. Wer aus Bosheit 
oder Irrthum dieſe Bedingungen zerſtört, muß durch Sanftmuth 
oder Ernſt wieder zu ſeinen Pflichten zurückgeführt werden. Wir 
nennen einen ſolchen unſern Feind; aber der Chriſt hat keinen 
Feind. Es iſt möglich, man kann den Weiſen verachten, haſſen, 
verfolgen oder beneiden; er aber, mitten in der Beſchaͤftigung, 
ſeine Rechte zu ſchützen, bleibt ſeines Gegners Freund. Er weicht 
ihm nicht zürnend aus, ſondern ehrt ihn, wie bisher, und ſteht 
ihm bei, wo er kann, thut ihm wohl, wo eine Gelegenheit winkt. 
Und, wenn endlich nur die harte Wahl offen bleibt, Unrecht thun 
oder Unrecht dulden — ſie iſt ihm nicht hart: er duldet! 

Darin offenbart ſich die Seelengröße des Chriſten am leb— 
hafteſten, daß er immerdar und aller Orten voller Liebe gegen 
die Menſchheit iſt, wie Gott; daß die Liebe nie erkaltet durch fremde 
Undankbarkeit; keinen Unterſchied macht im Wohlthun gegen 
Freunde oder Feinde, und noch mehr aus ſeinen Thaten, als aus 
feinen Reden erkannt wird. In jeder Stunde, bei jedem Gefchäft 
ſucht er der Beſte und Nützlichſte zu ſein, der er nach Maßgabe 
ſeiner Kraft in ſolchem Augenblicke ſein kann. Und dies Alles 
leiſtet er lieber im Verborgenen, als vor der Menſchen Augen. 
Aber auch die Blicke der Menſchen ſcheut er nicht, ſobald er glau⸗ 
ben kann, ſein Vorgang und Beiſpiel könne heilſam werden. 

Er will jederzeit unter den Verhältniſſen, in die ihn Gottes 
Führung bringt, das Beſte und Höchfte. Er will es nicht allein, 
nein, fein Wille iſt That zugleich. Aber dennoch verhüllt er be⸗ 
ſcheiden ſein Gutes, weil er es nicht um Menſchenlob thut, und 
nicht von den Schwachen gerühmt ſein mag, die leider ſchon das 
zu preiſen pflegen, was doch nur einfache Pflicht des Recht⸗ 
ſchaffenen iſt. Eine gute That, die nach Beifall geizt, iſt nur 
der Verachtung der Edeln werth. Gott kennt ſie nicht. Wahre 
Seelengröͤße hat eben darin ihre vollendete Hoheit, daß fie jedes 


— 134 — 


Opfer für Menſcherglück darbringt, ohne daß ein Sterblicher da⸗ 
von erfährt. Der wahre Chriſt hat Urſache zu glauben, daß 
Andere edel handeln; denn er kennt ſeine Schwäche, die er noch 
zu bekämpfen hat. Aber es iſt beſchämend, ſich für die Voll⸗ 
ziehung ſeiner Pflichten gelobt zu hören, weil eben dies Lob be⸗ 
weiſet, daß die es nicht geben dürfen, welche es ertheilen. Denn 
wer das lobt, was Schuldigkeit war, bekennt, daß er ſelbſt ſeine 
Schuldigkeit nicht mit Strenge leiſtet. Und wie mag uns ein 
Ruhm aus ſolcher Menſchen Munde gefallen? 

Und waͤre Schmach, Verfolgung, Kerker, Blutgerüſt die 
Folge unſers tugendhaften Wandels — die Tugend iſt Alles; 
Kerker und Blutgerüſt find nur Träume. Die Seele des Ge⸗ 
rechten iſt frei; was thun ihr die Feſſeln, welche den Leib drücken? 
Der Tod auf dem Blutgerüſte für eine heilige Sache, oder der 
Tod auf dem Schlachtfelde: ſind ſie etwas Anderes, als Tod auf 
dem Krankenlager? Macht das Sterbekiſſen den Unterſchied für 
einen Geiſt, der in Gott, für Gott, mit Gott lebt? Wie viele 
Edle ſtarben unter dem Fluch der Zeitgenoſſen und unter dem 
Beil des Henkers, deren Aſche von den Thränen einer dankbaren 
Nachwelt ſegensvoll geehrt ward! Nicht das ſoll uns bekümmern, 
was man von uns hält, ſondern das, was wir ſind. Nur un⸗ 
ſere That, nicht das Urtheil der Welt über dieſelbe, iſt unſere 
Angelegenheit. Jene allein iſt unſer, dieſes wird von Umftänden - 
herbeigeführt. Jene allein hat Einfluß auf unſere Würde, Voll⸗ 
endung und Seligkeit; dieſes kaum auf unſern hinterlaſſenen 
Staub. Bald deckt Vergeſſenheit die Mörder und bald den Er⸗ 
mordeten. Aber Gott lebt, Gott richtet! 

Du lebſt, Ewiger, Du richteſt, Allerheiligſter! — Was iſt 
mein Leichnam im Tode? Ein abgefallenes Gewand. Was iſt 
das -finnliche Leben, wenn es endet? Ein bunter Traum, deſſen 
Farben beim Erwachen erblaſſen. Ich bin Geiſt, nichts ſonſt 
bin ich und habe ich. Nur die Hoheit und Kraft, welche er ſich 
zueignet in ſeiner Wirkſamkeit auf Erden, die kann des Todes 
Hand nicht von ihm abſtreifen; denn dieſe Kraft iſt erſt dem Un 
vergänglichen, Unſterblichen inwohnend, iſt nicht Staub. 

Nach Seelengröße ringen — dies iſt des Gotterſchaffenen 


u Se 


höchſtes Ziel. Nein, es iſt nicht über Menſchenvermögen erhaben. 
Denn auch Jeſus war nicht bloß zum Scheine Menſch; er leiſtete 
das Höchſte, um darzuthun, dem ernſten Willen ſei auch das 
Vollkommenſte erreichbar. Und nach ihm wandelten, von feinem 
Wort und Beiſpiel begeiſtert, zahlloſe Andere. Sie opferten für 
Recht und Wahrheit, für Unſchuld und Tugend, für Vaterland 
und Menſchenglück muthvoll und entſchloſſen alle Kleinodien des 
Lebens hin — Vermögen, Freundſchaft, Liebe, Ehre, Gewalt, 
Freiheit, ja das Leben ſelbſt. Warum ſoll ich nicht können, was 
ſie? Warum es nicht konnen, wenn auch tauſend ſchwache, von 
ihrer Sinnlichkeit beſtochene und gelähmte Menſchen daran zwei— 
feln, oder es Schwärmerei heißen? Urtheil Gottes in meiner Bruſt, 
was gilt mir neben dir das Urtheil der tief in den Schlamm der 
Sinnlichkeit und des Eigennutzes verſunkenen Menſchen? Sind 
ſie für die Vollendung ihres Geiſtes nicht fähig, was Staub iſt, 
Staub zu nennen, und was vergänglich iſt, dem Ewigen 1 
opfern: warum ſollte ich es nicht fähig fein? 

Jeſus Chriſtus! Vollendeter! Göttlicher! Du Urbild deſſen, 
was im Weltall der Geiſter ſein ſoll und gilt; Du, aus dem 
mich Gott und Natur anſprechen; In, eins und daſſelbe mit 
Gott und Natur! Iſt's nicht Dein Beiſpiel, das mir vorleuchtet? 
Die Welt von Menſchen, die Dich umgab, begriff Dich nicht, 
Du heilige Kraft. Sie ſah auf Staub, auf Tand, äußere Macht 
und bürgerliche Verhaltniſſe; Du trateſt laͤchelnd über den Staub 
hin, und kannteſt nur die ewigen Verhältniſſe zwiſchen Dir und 
Deinem Vater. 

So will ich werden, Jeſus, wie Du. Soll ich Dein Nach⸗ 
folger nicht ſein, warum trug man mich als Kind zur Taufe, 
und weihte mich zu Deiner Nachfolge? Ich will Dein Leben leſen. 
Ich will Deine Lehren leſen. Ich will das Schwerſte thun, um 
Hoheit und Freiheit der Seele, um Gottähnlichkeit zu erringen! — 
Hart wird oft gegen meine ſinnlichen Begierden und Neigungen 
der Kampf ſein! O Gott, o Kraft, o beharrlichen Muth! Amen. 


16. 


Weltklugheit und Chriftenweisbeit. 
Matth. 10, 16. 


Ich flehe nicht um Geld und Gut, 
Ich flehe nicht um thränenloſe Tage, 
Um Weisheit nur, o Gott, und Muth, 
Daß ich als Chriſt des Lebens Schickſal trage! 


Ich will nichts, Quell der Weisheit, nichts 
Als Weisheit, wenn ich wirk' und leide, 
Als Weisheit nur in Harm und Freude, 
Als Licht von Dir, Du Quell des Lichts! 


Auch der klügſte Mann kann fehlen, und durch eben diejeni⸗ 
gen Mittel, welche Jedermann für die zweckmäßigſten zu ſeinem 
Glück hält, ſich das furchtbarſte Elend vorbereiten. 

Auch der frömmſte Chriſt kann fehlen, und gerade daun 
das größte Unglück anſtiften, wenn er am tugendhafteſten zu han⸗ 
deln glaubt, und es am beſten zu machen ſucht. 

So unglaublich dies auch zu ſein ſcheint, daß man mit bloßer 
Klugheit in den Abgrund des Verderbens ſtürzen, daß man mit 
allem Tugendeifer, mit dem gerechteſten und heiligſten Sinn viel 
Uebels anrichten könne: fo wahr iſt es doch. Die Erfahung gibt 
uns davon unzählige Beiſpiele. — Dieſe Beiſpiele ſollen mich 
warnen, ſollen mich aufmerkſamer auf meine eigene Art zu denken 
und zu handeln machen. Vielleicht bin auch ich noch einer von 
denen, die nicht den rechten Unterſchied zwiſchen dem, was klug, 
und zwiſchen dem, was weiſe iſt, machen. Vielleicht bin auch 
ich oft klug, ohne Weisheit; oft weiſe und fromm, aber ohne den 
göttlichen Willen mit erforderlicher Klugheit auszuüben. Viel⸗ 
leicht bin auch ich einer von denen, die Jeſu erhabenen Spruch 
nicht verſtehen: Seid klug, wie die Schlangen, und ohne Falſch, 
wie die Tauben! 

Der größte Theil der Sterblichen, wenig bekuͤmmert um gött⸗ 
liche Weisheit, jagt mehr dem Ruhm der Klugheit nach. Weni⸗ 
gen fällt bei ihren Unternehmungen ein, zu fragen: Erfülle ich 
damit auch Gottes Willen? Iſt das, was ich thun will, auch der 


4 


— 11 


Nutzen meiner Mitmenſchen? Habe ich damit auch das Wohl 
meines Nächſten eben ſo ſehr im Auge, als meinen eigenen Vor⸗ 
theil? Handle ich bloß aus Neid, aus Habſucht, aus unreiner 
Begierde, aus geheimem Haß gegen dieſen oder jenen, aus Stolz, 
aus Herrſchſucht? — Verſäume ich nicht vielleicht größere Pflich- 
ten, wenn ich dies oder jenes thue? — Wenige fragen ſo. Wohl 
aber denken die Meiſten darauf, durch welche Mittel ſie zu ihrer 
Abſicht am geſchwindeſten gelangen mögen; auf welchen Wegen 
ſie ihr erwünſchtes Ziel am ſicherſten erreichen. Ob unter dieſen 
Hilfsmitteln denn auch eine Lüge, ein Betrug, eine boshafte 
Hinterliſt, eine Unredlichkeit mit unterlaufe, dies iſt ziemlich gleich- 
gültig; dies verzeihen ſie ſich gern. Es iſt ihnen ſogar ſchmeichel⸗ 
haft, wenn man von ihnen ſagt: Er hat es klug angefangen, man 
kann zwar nicht alles billigen, was er gebrauchte, um ſeinen 
Plan durchzuſetzen: aber er hat ihn doch mit Klugheit durchge— 
ſetzt; er hat ſein Ziel erreicht; gleichviel 1 es ihm nun, wie und 
auf was für Art. 

Ach nein, es iſt nicht gleichviel! Nein, die dich loben, haben 
auch dein Verdammungsurtheil ausgeſprochen. Sie ehren deinen 
Verſtand, deine Vorſicht, deine Geſchicklichkeit in Behandlung 
deiner Geſchäfte, aber fie verabſcheuen deine Gewiſſenloſigkeit, 


die Unredlichkeit mancher deiner Mittel. Du haſt dein Ziel ge⸗ 


wonnen, aber das Zutrauen, die offene Liebe deiner Mitbürger 
für immer verloren. Wer einmal betrog, dem traut man nie 
wieder! Du hörſt es nicht, wie man hinter deinem Lobe auch die 
Worte hinzuſetzt: Vor dem muß man ſich in Acht nehmen! — 
Du haſt mehr verloren, als gewonnen; du haſt dir vielleicht ein 
todtes Gut errungen, aber edle, lebendige Herzen von dir ge— 
ſtoßen. Man achtet deinen Verſtand, aber verachtet dein Herz. 
Man bewundert mit Widerwillen und Ckel deine Geſchicklichkeit, 
aber liebt in dir nicht mehr den guten Menſchen. 

Sprich nicht: es iſt mir gleichgültig, was man von mir denkt. 
Es iſt Thorheit, ſich nach den Urtheilen der Menſchen zu richten. 
Hätte ich's nicht gethan, fo hätte es ſtatt meiner ein Anderer ge- 
than. Gleichviel Alles, wenn ich nur meine Abſicht erreiche. 

Nein, es iſt nicht gleichviel! Du haſt deine Abſichten erreicht, 


1 


aber die Achtung für dich ſelbſt Haft du verloren. Du waͤhlteſt 
in deiner Klugheit unbillige Mittel, die dich freilich zum Zweck 
führten; aber du haſt Gott verloren und das Vertrauen zu den 
Menſchen. Du fürchteſt nun eben ſo von ihnen hintergangen zu 
werden, wie du Manchen von ihnen hintergingſt. Du biſt aus 
dem Paradieſe ſchöner Unbefangenheit und Unſchuld heraus⸗ 
getreten in eine unſichere Wildniß, du haſt keine Stütze mehr, 
als dich und deine Klugheit. b 
Denke nicht: Aber dieſe iſt mir Stütze genug; ich werde mich 
ſchon in dem, was ich gethan, was ich erreicht habe, zu erhalten 
wiſſen! — O du, der ſich mit ſeiner Klugheit brüſtet, wie ſchnell 
verläßt dich jetzt ſchon deine Klugheit, wie ſchnell die Menge der 
Erfahrungen, auf welche du ſtolz biſt! — Welcher Menſch kann 
ſich genug auf eigene Kraft verlaſſen? — Ein Zufall kann Alles 
zerreißen, was dein Witz verband; ein ſchreckliches Ohngefähr 
kann Alles zertrümmern, was du erbaut haſt. Nein, kein Ohn⸗ 
gefähr, Gottes Welteinrichtung iſt's, der du, ſchwaches Weſen, 
unterworfen bleibſt. Gottes Hand kann deinen Stolz vernichten. 
Wie dann, wenn du nun mehr verloren haſt, als dir deine Kunſt 
und Liſt gewann? Wenn du mit unerlaubten Mitteln dir Ver⸗ 
mögen zuſammenſcharrteſt, und dann unverhofft zum Bettler, 
zum flüchtigen Schuldner wurdeſt, und ſtatt des Mitleidens dich 
die Schadenfreude, dich die gerechte Verachtung ins Elend be⸗ 
gleitet? Oder wenn du für Ruhm, für Ehre, für Anſehen dein 
Gewiſſen verunreinigeſt, und dann eine gewaltſame Umänderung 
der Dinge dich aus der Höhe herabſtürzt, und Jeder dir nach— 
ruft: er hat es verdient! — und Jeder, der dich nicht mehr zu 
fürchten hat, dir nun ſtatt des Lobes, für das du Alles opferteſt, 
Schmach und Spott nachruft, über das Grab hinaus dir nachruft? 
Was war deine Klugheit am Ende? War fie nicht Thorheit? 
Wie verächtlich iſt dein Verſtand, der nur auf die nächſten Wochen 
hinaus rechnet, aber bei allen Unternehmungen vergißt, in jedem 
Falle, auch im unglücklichſten feine Anordnungen für die ganze 
Lebenszeit ſicher zu ſtellen! — Wie wenig verdient der das Lob 
eines umſichtigen Mannes, der für den Genuß des Augenblicks 
das Leben, für das Vergaͤngliche und Zufällige das Ewigwerthe 


„ A 


aufs Spiel jegt! — der, um glücklich zu werden, erſt die Hoch- 
achtung gegen ſich ſelbſt, und dann das Zutrauen der beſſern 
Menſchen, dann die Huld ſeines Gottes, endlich die frohe Aus- 
ſicht in die finſtern Welten jenſeits der Sterbeſtunde verlieren 
muß: — Hier iſt nicht Klugheit, ſondern Wahnſinn; hier iſt 
nicht Vorſichtigkeit, ſondern Leichtſinn! — Denn dieſer Klugheit, 
dieſer Vorſicht fehlte die wahre Grundlage — ſie wird Weisheit 
genannt! 

Wäre unſer Erdball, gleich einer beſſern Welt, nur mit hei⸗ 
ligen Weſen, nur mit Engeln bevölkert: ſo würde Weisheit zu 
gleicher Zeit die höchſte Klugheit fein. Jeder würde die Leiden— 
ſchaft fliehen, Jeder der Sünde fluchen, Jeder ſich unverſtellt 
zeigen dürfen, ohne zu fürchten, von Böſewichtern mißbraucht 
zu werden. 

Aber ſo iſt es nicht. Der Gerechte, der Chriſt ſteht hienieden 
unter Menſchen, die, ohne Menſchenliebe, nur ihrer unerſätt⸗ 
lichen Habſucht, ihrem Golddurſt, ihrem Ehrgeiz ein Genüge 
thun wollen; unter Menſchen, die ſich oft darin groß dünken, 
wenn fie, ſchlauer als ihr redlicher Bruder, ihn zu ſeinem Scha- 
den, zu ihrem Vortheil überliſten können; unter Menſchen, die 
Ihresgleichen nur wie Nebendinge, nur wie Werkzeuge und Ma⸗ 
ſchinen betrachten, welche man zu ſeinem Nutzen gebrauchen müſſe; 
unter Menſchen, welche, wenn ſie auch nicht offenbar laſterhaft 
ſind, doch von unreinen Begierden oft zu unreinen Handlungen 
verführt werden; unter Menſchen, die, wenn ſie auch nicht ab⸗ 
ſichtlich ſchaden wollen, doch aus allzugroßer Schwaͤche ſchaden 
können. — Darum ſprach der göttliche Meiſter, Jeſus Chriſtus, 
der Weltkenner, zu ſeinen Jüngern, da er ſie auf ihre Wande⸗ 
rungen im Leben vorbereitete: Siehe, ich ſende euch als die Läm⸗ 
mer mitten unter die Wölfe. (Luk. 10, 3.) 

In einer ſolchen Welt, unter ſolchen Menſchen, wie ſie nun 
ſind, iſt es nicht genug, den Willen Gottes zu wiſſen; es iſt nicht 
genug, die Geſetze Gottes zu vollſtrecken, um tugendhaft zu ſein: 
man muß mit Vorſicht handeln, man muß mit Klugheit tugend⸗ 
haft ſein, man muß wiſſen die Tugendgeſetze richtig und ihrem 
Zwecke gemaͤß anzuwenden. Und wer dies nicht weiß, oder aus 


— 140 — 


übertriebenem Eifer nicht will, kann durch Unbehutſamkeit ſich 
und Andere zu Grunde richten, kann mit ſeiner vermeinten Tu⸗ 
gend das Werkzeug verachtungswürdiger Böſewichte werden und 
das Reich der Sünde erweitern, wo er das Reich Gottes zu 
vergrößern gedachte. 

Wahr iſt's, du ſollſt dem Armen beiſtehen und dem Dürf⸗ 
tigen dein Almoſen reichen; aber mit einer ohne Klugheit aus⸗ 
geübten Barmherzigkeit wirſt du den zudringlichen, in Müßig⸗ 
gang lebenden Bettler füttern, und ihn in den Laſtein feiner Träg⸗ 
heit beſtärken. 

Wahr iſt's, du ſollſt die Wahrheit reden; aber nicht ohne 
Vorſicht. Es gibt Wahrheiten, deren Entdeckung das Glück recht⸗ 
ſchaffener Menſchen in Gefahr ſetzen könnte. Es gibt Heuchler, 
welche dir mit der Miene des Wohlwollens Geheimniſſe ablau⸗ 
ſchen, durch die ſie nachher dich und Andere ins Verderben bringen 
möchten. N 

Wahr iſt's, du ſollſt Niemanden beleidigen, Niemanden er⸗ 
zürnen, gegen Niemanden hadern. Aber Menſchen werden dich 
um dein Eigenthum, um deine Ehre, um deine Rechte zu betrü⸗ 
gen, andere werden dich und die Deinigen mit offener Gewalt zu 
berauben ſuchen; vergebens ſtellſt du ihnen deine Menſchenfreund⸗ 
lichkeit, deine Unſchuld entgegen. Sie verſpotten deine Tugend; 
ſie berauben dich und die Deinigen, wenn du ihrer Gewalt nicht 
Gewalt entgegenſtellſt; wenn du nicht den Schutz der Geſetze 
gegen ſie anrufſt; wenn du nicht vereint mit deinen Mitbürgern 
in den Krieg hinauseilſt, oder deine Söhne ſendeſt, die Rechte, 
das Eigenthum, die Ehre und Unabhaͤngigkeit deines Vaterlandes 
zu vertheidigen. 

Es iſt wahr, wir ſollen nicht irdiſchen Wohlſtand, gemädh- 
liches Leben dieſer Welt als das Einzige und Höchfte anſehen, 
wonach wir zu ringen haben, ſondern die Veredlung unſers Her— 
zens immerdar zur Hauptſache machen; der Welt, das heißt, den 
gemeinen thieriſchen Lüften, abſterben, und unſer Gemüth Gott 
weihen, das heißt, göttlicher, heiliger machen. Allein dem Um— 
gange mit Menſchen entſagen, ſich in Einſamkeit verſchließen, 
nur beten, und der bürgerlichen Geſellſchaft, auf deren Koſten 


— 141 — 


man lebt, nichts nützen, iſt eine Frömmigkeit, die Gott nicht ge⸗ 
fallen kann, der den Menſchen unter den Menſchen ſchuf, daß 
einer dem andern brüderlich diene, und Jeder nach allen Kräften, 
die Wohlfahrt Aller vermehre. 

Wahr iſt es, wir ſollen Vertrauen auf Gottes Führungen 
haben; aber dies Vertrauen darf nicht zur Trägheit verleiten, 
nicht zur Gleichgültigkeit gegen den Gang der Dinge. Wir müſſen 
durch unvorſichtiges Betragen nicht ſelbſt die Stifter großen Uebels 
für uns und Andere werden, und dann uns mit dem falſchen 
Glauben beruhigen, Gott habe es ſo gewollt. Wir müſſen uns 
und Andere nicht ſelbſt durch Unklugheit ins Unglück ſtürzen, 
und dann dabei auf Gottes Beiſtand hoffen. 

So iſt denn alle irdiſche Klugheit ohne chriſtliche Weisheit 
nur Unklugheit, welche zuletzt Verderben erzeugt. So iſt Tugend, 
ohne Klugheit und Ueberlegung geübt, zuletzt eine Untugend, des 
ſtrengſten Tadels werth. Wir ſollen weiſe ſein mit Klug— 
heit, und klug ſein mit Weisheit. 

Klugheit aber iſt jene Geſchicklichkeit, die wir durch Erfah- 
rung erwerben, vermöge welcher wir bei allen unſern Handlun- 
gen immer die uns möglichſt beſten Mittel zur Erreichung unſerer 
Abſichten wählen. Die Klugheit macht ſich mit allen Umftänden 
bekannt, unter welchen ſie handeln ſoll. Die Klugheit ſinnet nur 
auf ihren Vortheil, und ſucht ſich dahin der ſicherſten Wege zu 
bemeiſtern. Die Klugheit geht bei Allem überlegt, behutſam, 
vorſichtig und bedacht zu Werke. 

Weisheit hingegen iſt das Streben, nur dasjenige zu thun, 
was recht und gut iſt, was Jeſu Lehre, was der Wille des Aller⸗ 
heiligſten iſt. Die Weisheit will keinen Vortheil, nur Tugend; 
ſie ſinnet nicht bloß auf ihren eigenen Nutzen, ſondern auf das, 
was edel und wohlthätig iſt, es nütze dann, wem es mag. Sie 
Sie ſehnt ſich nach der Heiligkeit ihres Gemüthes. Bei allen ihren 
Handlungen athmet ſie nur Liebe zu Gott, nur Liebe für das 
Wohl der Menſchen. 

Die Klugheit wählt ſich irgend einen Vorſag, den ſie voll⸗ 
ſtrecken will, um ſich in neuen Vortheil zu ſetzen. Die Weisheit 
aber ſpricht: Iſt dein Zweck auch erlaubt? Iſt er ſo, daß er Gott 


— 142 — 


gefällt? Haſt du dabei nur dich, haſt du nicht auch das Wohl 
deiner Brüder im Auge. 

Die Klugheit waͤhlt die ſicherſten und ſchicklichſten Mittel, um 
ihr Ziel zu erreichen. Aber die Weisheit ſpricht: Wähle keine 
ſchändlichen Mittel, deren du dich zu ſchämen hätteſt! Wähle 
kein Mittel, das du tadeln würdeſt, wenn Du es bei Andern 
wahrnähmeſt! Drücke die Hausarmen nicht mit ſchmählichem 
Wucher, damit du Bettlern reiche Almoſen geben könneſt; lüge, 
heuchle und ſchmeichle nicht, um dir die Gewogenheit Jemandes 
zu erwerben; verleumde nicht einen deiner Mitbürger, um dir in 
der Meinung der übrigen ein Anſehen zu verſchaffen. 

Dies iſt alſo der wichtige Unterſchied zwiſchen der Klug⸗ 
heit und Weisheit. Jene gründet ſich auf den Verſtand, dieſe 
auf die Wahrheiten der Vernunft. Jene ändert ihre Handlungs- 
weiſe nach den Umſtänden; dieſe bleibt ſich zu allen Zeiten und 
allen Orten gleich, weil ſie nur das will, was recht iſt. — Jene 

ſchöpft ihre Kraft aus vielen Erfahrungen im Leben, dieſe aus 
den Ueberzeugungen der Vernunft, aus der Erkenntniß des gött⸗ 
lichen Willens, wie ihn Jeſus uns geoffenbaret hat. Jene bringt 
kurze, vorübergehende Vortheile; dieſe aber gewährt uns blei⸗ 
bendes Glück, nämlich innere Zufriedenheit, Seelenruhe, Achtung 
für uns ſelbſt, freudigen Hinblick auf Gott und Ewigkeit. Jene 
iſt für die Erde, dieſe iſt für den Himmel ſorgend. 

Klugheit und Weisheit — welcher von beiden alſo ſoll 
der Sterbliche den Vorzug geben? Sind ſie nicht beide Gottes⸗ 
gaben, dem Menſchen zu ſeinem Wohl verliehen? Er ſoll die eine 
nicht ohne die andere üben; er ſoll ſie nie trennen. Seid klug, 
ſagte Jeſus zu den Seinigen: ſeid klug wie die Schlangen, 
aber ohne Falſch, wie die Tauben! 

Jetzt erſt wird mir die Tiefe und Wahrheit des Sinnes klar, 
der in dieſen Worten meines göttlichen Meiſters ausgeſprochen iſt. 
O wie oft war ich nur nichts im Leben, als klug! Wie viel tau⸗ 
ſend Dinge that ich, wobei ich nur an meinen augenblicklichen 
Vortheil dachte, ohne daran zu denken, ob das, was ich wollte, 
und wie ich es that, auch gut, auch edelmüthig, auch keinem an— 
dern Menſchen ſchadlich ſei! — Daher iſt es auch gekommen, 


— 143 — 


daß ich von fo Vielem, was ich wahrend meines Lebens voll- 
brachte, auch keinen wahren bleibenden Nutzen hatte; daß mir 
Vieles Sorge brachte und Manches ſogar Reue hinterließ. Ich 
ſehe es ein, daß Klugheit ohne Chriſtenweisheit doch nur Unklug⸗ 


heit ſei. 


Hätte ich bei jeder meiner wichtigern und unwichtigern Hand⸗ 
lungen immer auch daran gedacht, ob ſie ſchuldlos, ob ſie gerecht, 
ob ſie für andere Menſchen ebenfalls ſegensvoll wäre, — o, ich 
hätte bei meiner Klugheit keine böſe Handlung vollbracht, nie 


eine That, deren ich mich jetzt heimlich ſchaͤmen muß, ſo oft ich 


mich ihrer erinnere! O ich könnte heute nur an ein Leben voll 
ſchöner, edelmüthiger Verrichtungen denken! — Ich wäre heute 


der Wohlthäter aller der Meinigen, Wohlthäter unzähliger Mit- 


bürger und Fremden, Wohlthäter vielleicht meines ganzen Vater⸗ 
landes! Ich wäre heute ſchon ein beſſerer, edlerer, größerer Menſch, 
als ich leider nicht bin! — Ich wäre heute ſchon meinem heiligen 
Urbild Jeſu ähnlicher, wäre meinem Gott naͤher! 

Und ich bin es nicht. Ich handelte nur klug, nur für meinen 


flüchtigen Nutzen; aber die wahre Weisheit, das zarte Gefühl des 


Rechten, des Edelmüthigen, war fern von mir. 
Nun denn, vermähle du dich, heilige Chriſtenweisheit, Weis- 


heit der Religion, mit der irdiſchen Klugheit, wie der unſterb⸗ 


liche Geiſt vermählt iſt mit dem irdiſchen Leibe! — Denke, o 


meine Seele, bei Allem, was du unternimmſt: Iſt das auch gut 


und nach Gottes Willen, was du thun willſt? Könnteſt du nicht 
etwas Beſſeres thun ſtatt deſſen? Oder könnteſt du es nicht auf 
eine beſſere Art thun, ſo daß kein Unſchuldiger dabei litte, ſon⸗ 
dern es vielen Menſchen zum Vortheil gereichte? 

Dann wahle zu deinen guten Abſichten mit Klugheit auch die 
beſten Mittel. Bediene dich keiner unanſtändigen, keiner enteh⸗ 
renden Mittel, um deine Wünſche erfüllen zu können. Durch 
ſchändliche Wege ein gutes Ziel erreichen zu wollen, heißt das 
nicht mit Hilfe der Hölle in den Himmel eingehen wollen? Irre 


dich nicht, Gott läßt ſich nicht ſpotten. 


Handle lieber gar nicht, wenn du nicht mit Weisheit han⸗ 
deln kannſt. Laß lieber deine heißeſten Wünſche fahren, wenn 


— 14 — 


du einſiehſt, fie ſeien Andern nachtheiliger, als ihre Erfüllung 
dir nützlich. Laß dein Urtheil nicht durch Leidenſchaft, durch die 
Heftigkeit deiner Begierden beſtechen. Wähle einen ruhigen Augen⸗ 
blick der Ueberlegung, und mit kalter Beſonnenheit entſcheide 
über das Rechtliche und Edle oder Unedle deines Beginnens. 
Und haſt du entſchieden, dann handle mit unerſchütterlicher Seelen⸗ 
ſtärke deiner beſſern Ueberzeugung getreu. Haſt du ſchon etwas 
angefangen, worüber dein Gewiſſen dir ſelbſt heimlich einen Vor⸗ 
wurf macht — laß deine unlautern Abſichten, laß deine übelge- 
wählten Mittel fahren. Opfere lieber deinen ſchlechten Wunſch 
auf, als die Hochachtung für dich ſelbſt! Denke, wie du deine 
Wünſche auf eine andere: deiner würdigere Art befriedigen könneſt! 

Und wenn die großen Augenblicke der Prüfung kommen; 
wenn dein kleiner Vortheil neben dem größern Vortheil des Mit⸗ 
bürgers oder der Menſchheit vor dir auf der Wagſchale liegt; wenn 
dein Nutzen der Schaden Anderer werden ſollte — dann erſcheine 
in herrlicher Seelengröße! Hinweg dann mit kleinlicher, irdiſcher 
Klugheit, die nur ihren Vortheil berechnen will, und gegen die 
Chriſtusweisheit ſtreitet! Dann gehorche Gott mehr als den Men- 
ſchen; dann gehorche Gott mehr als deinen ſinnlichen Begierden! — 
Vielleicht könnte deine Rache nun einen Triumph feiern; nein, 
triumphire du ſelbſt über deine Leidenſchaft, wie ein verklärter 
Geiſt! Vielleicht könnteſt du dich bereichern: aber es wäre unge 
rechtes Gut — nein, in den Staub mit dieſem Staube, und 
ziehe dafür den ganzen Himmel in deine Seele. Verachte den 
Namen des Klugen, und erwirb dir den Namen des Weiſen, des 
Gerechten, des Edelmüthigen! Oder fürchteſt du, man werde deine 
That verkennen? die Welt werde dich einen Thoren heißen, ſtatt 
dich zu bewundern? — O laß die Welt! Wer wird ſeiner Seele 
Reinheit verkaufen wollen um die Bewunderung der kurzſichtigen 
Welt, um das Urtheil von Menſchen, das ſo ſelten gegründet 
und gewöhnlich ſo wankelmüthig iſt? — Dich ſieht der Himmel, 
dich beurtheilt Gott der Allerhöͤchſte! 


3 
17. 
Der Werth des Lebens für den Meuſchen. 


Phil. 2, 13. 14. 


Es flieht der Menſch von Traum zu Traum, 
Mit Hoffen und mit Liebe, 
Durch dieſes Daſeins engen Raum, 
Als ob ein Geiſt ihn triebe. 
Er ſieht aus ſich hinaus, und fordert Seligkeit, 
Und was er ſich ergreift, iſt Eitelkeit der Zeit! 


Sei Weltgebieter, 
Umſtrahlt von alles Glückes Sonnenlicht, 
Sei Herr der ſchönſten Erdengüter: 
Doch Seligkeit, die haſt du nicht! 


Denn Seligkeit wohnt nur im heiligen Gemüthe, 
Sie iſt nie Frucht des Goldes oder Ruhms; 
Sie iſt nur Blüthe 
Des Geiſterthums. 


Drum nicht im Weltgetümmel, 
Hier zwiſchen Trug und Schein: 
Dein Wandel ſoll im Himmel 
Mit Jeſu fein! 


Flüchtige Tage! Flüchtige Jahre! Wir erwarten mit Ungeduld 
die Erſcheinung des blumenreichen Frühlings, und nach weniger 
Zeit ſeufzen wir: er iſt ſchon geweſen! Was wir Monden, Jahre, 
Ewigkeiten nennen, ehe es kommt, nennen wir Augenblicke, 
wenn es vorüber iſt. Das Kind begehrt nach der Jünglings⸗ 
ſtunde, der Jüngling nach dem reifern männlichen Alter. Zu 
ſchnell kommt die Stunde, zu ſchnell das Alter. Sie blicken mit 
wehmüthiger Sehnſucht in das Verſchwundene, wie in einen 
ſchönen Traum, zurück; ihr Haar iſt eisgrau geworden. So war 
es vor tauſend und abermal tauſend Jahren unter den Menſchen; 
alle Geſchlechter der Vorzeit ſind längſt verſchwunden; ihre Aſche 
iſt längſt verweht. Aber wir, mit unſern Begierden, Erwartun⸗ 
gen und Klagen, find noch, wie fie geweſen find. Und wie wir 
heute ſind, ſo werden unſere Nachkommen nach tauſend und aber⸗ 
mal tauſend Jahren fein, wenn wir und unſere Familien längſt 
verſchwunden find, und unſere Aſche ſchon längſt von allen Win⸗ 
den verweht iſt. 
III. 7 


— 146 — 


Dies Drängen und Treiben der Sterblichen nimmt kein Ende, 
und doch nimmt jeder Menſch ſein Ende ſo früh. Jedes Hundert 
Jahre ſieht drei neue Menſchengeſchlechter kommen und gehen. 
Aber alle drängen und treiben, als hätte das Leben kein Ende. 
Sie ſcharren Geld und Gut zuſammen, als hätten ſie für ein 
mehrhundertjähriges Auskommen zu forgen; fie ſtreiten, fie krie⸗ 
gen und unterhanveln, als müßten fie ewig herrſchen; fie werben 
und ringen um Ehre und Würden, als könnten ſie auf Erden 
das Unendliche haben; ſie kaufen und ſorgen, hadern und bauen, 
als würden ſie ihre Häuſer und Güter nie verlaſſen. Und darüber 
gehen ſie zum Grabe und hinterlaſſen Andern die Frucht ihrer 
Mühen; wie ſie ſich über Erbſchaften von ihren verſtorbenen Ver⸗ 
wandten gefreut haben, ſo erfreuen ſich nun Andere über den 
Gewinn ihrer Hinterlaſſenſchaft. i 

Betrachtet man das Spielen und Tändeln, das Wirken und 
Schaffen der Menſchen, man ſollte glauben, es wäre kein Tod 
in der Welt. Und ſehen ſie Kinder, Jungfrauen, Jünglinge, 
Männer und Greiſe aus dem Leben ſcheiden, ſo iſt es, als wenn 
nur dieſe ſterblich geweſen, alle Ueberlebenden aber Unſterbliche 
wären. Sie gehen weinend oder lächelnd von den Gräbern der 
Freunde oder Bekannten zurück, und vergeſſen der Todten; ſo 
wie die Krieger im Schlachtfelde links und rechts in den Reihen 
des Heeres ihre Gefährten gleichgültig fallen ſehen, und Sieg 
jauchzen, als wäre der Sieg von ihnen allein erfochten. 

Man ſpricht vom Frieden, vom Krieg, vom Theilen der Länder 
und Völker, von eigenen Entwürfen, von gelungenen und miß⸗ 
lungenen Arbeiten, von Feſten und Luſtbarkeiten, von Feind⸗ 
ſchaften, Heirathen, Reiſen, — von Allem. — Wer hört eben 
fo in Geſellſchaften, oder unter Zweien und Dreien von der Ewig— 
keit Sprechen? Glauben ſollte man faſt, der Gedanke an die Ewig— 
keit ſei ein weggeworfenes Maͤhrchen, welches Keiner mehr möge 
erzählen hören, oder er ſei gar nicht in dem Sterblichen vorhan— 
den. Und doch dies alles iſt nur äußerer Schein. Nein, die 
Menſchen ſchweigen nur von dem, was vor ihnen daſteht: aber 
ernſt und finſter iſt ihr innerer Blick faſt ununterbrochen dahin 
gerichtet. Sie ſchweigen und glauben; ſie lächeln vielleicht bei 


— 147 — 


dem Worte zweifelhaft, aber glauben und zittern. Die Jungfrau 
ſchmückt ſich zum Tanz; aber auch vor dem Spiegel weht der 
Gedanke an das Grab durch ihre Seele. Der gewerbfleißige Mann 
überrechnet ſeinen Gewinn; aber unter dem Klange des Geldes 
erhebt ſich der Gedanke an die Todesſtunde. Der Fürſt hüllt ſich 
in ſeine Pracht und nimmt den gebietenden Scepter; aber auch 
auf dem Thron, mitten im Gefühl ſeiner Hoheit, durchzuckt ihn 
unwillkürlich der Gedanke an die Ewigkeit. — Was Alle ver⸗ 
ſchweigen, daran denken Alle. Der Schein iſt von außen; die 
Wahrheit im Herzen verborgen und heimlich. 

Und fo knüpft Jeglicher fein äußeres Leben ſtill an fein 
inneres, und ſagt Niemanden davon. Jeder hat den Glauben 
an Gott und Ewigkeit, aber wie er ihn hat und bewahrt, das iſt 
ſein eigenes, tiefes Geheimniß. Da findet nur zwiſchen ihm und 
der Gottheit Mittheilung und Offenbarung und Zuverficht ftatt. 
Da fürchtet Jeder, würde er ſein Allergeheimſtes dem Andern 
offenbaren, er könnte es entweihen; und jeder, auch der zarteſte 
Einwurf würde ihn verwunden, ohne daß er ihn zu widerlegen 
Neigung hätte. Denn das, was wir in unſerm Innerſten glauben 
und in unſerm Innerſten ſind, das ſind wir wirklich ſelbſt; 
daran mögen wir kein fremdes Auge und keinen fremden Zweifel 


rühren laſſen. Alles, was wir nach außen hin gegen die Welt 


ſind, iſt nur Klugheit und Schein. Das weiß Einer vom Andern, 
und Jeder ehrt des Andern Geheimniß und daneben noch ſeinen 
Schein, weil er das Gleiche für ſich von allen Uebrigen fordert. 
Es iſt gar nicht nöthig, dem Menſchen zu ſagen, er lebe ſchon 
hienieden ein zweifaches Leben. Er lebt es ja wirklich, und weiß 
es von ſich. 
Nur die Verbindung dieſer zweierlei Leben iſt bei Allen ver⸗ 
ſchieden, nach den Graden ihrer geiſtigen Ausbildung. Dem 
Einen hat das irdiſche, ſinnliche Daſein mehr Werth, als ſein 
Inneres und Ewiges, dem Andern ſtehen beide im Range gleich; 
der Dritte fühlt klar, daß der Werth des Erdenlebens tief unter 
dem des ewigen ſei. | 

Der rohe Wilde, welcher noch mit unentfalteten Kräften der 
Vernunft der Stillung ſeiner Triebe und körperlichen Bedürfniſſe 


= 1 


nachjagt; das Kind, welches noch unerfahren mit dem Augen⸗ 
blick der Gegenwart tändelt, und mit den Blumen über Gräbern 
ſpielt, ohne zu ahnen, daß es einſt ſelbſt unter der Erde ſchlafen 
müſſe; der verbildete, durch falſche Entwickelung ſeiner Verſtandes⸗ 
kräfte und durch Gewalt ſeiner Leidenſchaften wieder verthierte 
Mann, der ſich in feiner Ueberfeinerung bereden möchte, Alles 
ſei Staub, Alles Zufall, Alles für den Menſchen mit ſeinem 
letzten Athemzuge zu Ende — — ſämmtlich ſtehen dieſe auf 
einerlei und zwar auf der niedrigſten Geiſtesſtufe. Mit dem Irdi⸗ 
ſchen noch auf das engſte und innigſte verwachſen, wie das Thier, 
ahnen ſie keine Erhöhung des Geiſtes über daſſelbe, kein er⸗ 
habeneres Leben. Die Welt, wie ſie ſie jetzt und hier haben, iſt 
ihnen noch Eins und Alles. Außer dieſem Leben unterm Himmel 
hat nichts für fie Werth. 

Bei weitem aber der größte Theil der Erdenbewohner hat 
feine innere Religioſität, die mehr oder weniger derjenigen nahe 
kommt, die er mit den Lippen bekennt. Er weiß, daß er auch nach 
dem Tode des Leibes nicht aufhören werde, da zu ſein. Er weiß, 
daß er auch für ein beſſeres Loos jenſeits des Grabes zu ſorgen habe. 

Doch ſeine Vorſtellungen vom Werthe dieſes und jenes 
Lebens ſind noch verworren und unvollkommen. Allzuenge mit 
ſeinen Begierden an das angeſchloſſen, was ſeinen Sinnen und 
Neigungen wohlthut, legt er der Erde ſo vielen Werth bei, als 
dem Himmel. Er möchte hier Alles genießen, Alles haben, und 
weiht dieſem den größten Theil ſeines Sorgens und Thuns; in 
den Nebenſtunden bedenkt er auch wohl das Ewige, und ſchmeichelt 
ſich, durch Herſagen langer Gebete, durch Mittheilen von Almoſen, 
die ihm zu geben Mühe machen, durch den Beſuch der Kirchen, 
durch den Gebrauch der Sakramente, die Gottheit hinlänglich zu 
befriedigen, und ſie zu bewegen, feiner Seele dereinſt nach dieſem 
Leben ein anderes und beſſeres Loos zu gewähren. — Für ihn 
iſt zwiſchen dem Dort und Hier kein großer, allgemeiner Zu⸗ 
ſammenhang. Er will hier gern ſeinen thieriſchen Neigungen ein 
Genüge thun, und doch dort plötzlich ein höherer Geiſt ſein; er 
erlaubt ſich hier die Werke des Stolzes, des Betrugs, der Wolluſt, 
des Neides, und hofft durch das Verdienſt Jeſu Chriſti oder durch 


win. A 


die Fürbitte der Heiligen Vergebung aller Sünden, und dort 
die höchſte Vollkommenheit. Er gehört überhaupt der Gegenwart 
anz; dieſe Welt iſt ihm Hauptſache, jo lange fie ihm gehört, ge⸗ 
hört er ihr. Seinem beſchränkten Blick ſteht die Ewigkeit zu tief 
im Hintergrunde. Er fühlt ſeine eigene Würde, als Geiſt, noch 
zu wenig; darum iſt ihm das Irdiſche, mn was nicht des Geiſtes 
iſt, noch ſo vielwichtig. 

Je mehr der Menſch ſelbſt werth iſt, je weniger iſt ihm das 
flüchtige Leben mit allen Vergänglichkeiten werth; je mehr geht 
ihm Ewigkeit, Tugend und Gottheit über Alles. Wer einmal ſo 
weit gekommen iſt, daß er mit Wenigem zufrieden ſein kann: was 
fragt der nach Tonnen Goldes? Wer ſo weit gekommen iſt, zu 
erfahren und einzuſehen, wie blindlings die Menſchen nach dem 
Schein urtheilen, und wie wenig ſie das wahre Verdienſt zu er⸗ 
kennen und zu ehren, oder gegen Wohlthaten dankbar zu ſein 
geneigt ſind was fragt der noch ängſtlich nach dem Urtheil des 
großen Haufens, nach Anſehen und Berühmtheit? Wer einmal 
den bittern Schmerz eines gebrochenen Herzens beim Verluſt 
ſeines ganzen Vermögens, oder bei der Schändung ſeines guten 
Namens durch menſchliche Bosheit, oder beim Sarge eines über 
Alles theuern Geliebten, einer Freundin, eines Vaters, einer 
Mutter, eines Kindes, gefühlt hat: wird der noch mit zuverſicht⸗ 
licher Leidenſchaft an irgend einem Gute dieſes Lebens hängen, 
da er voraus weiß und ſich ſagen muß: Wer ſein ganzes Herz an 
dieſes Vergängliche hängt, ſchafft ſich wohl ſelbſt die grauſamſten 
Schmerzen! 

So, indem der Weiſe die Nichtigkeit des Irdiſchen erkenut, 
und um ſeiner eigenen Ruhe willen ſich der leidenſchaftlichen 
Vorliebe für irgend einen Theil deſſelben erwehrt, indem er ſehr 
gut einſieht, daß er in der Erfüllung äußerer Wünſche ſein inneres, 
unzerſtörbares Glück unmöglich gründen kann, — daß dieſe un⸗ 
mittelbare Ruhe und Zufriedenheit des Gemüths vom Trieb nach 
Wohlleben, Ruhm, Liebe, Reichthum nur vernichtet, keineswegs 
vermehrt wird, — daß nur Bewußtſein vollbrachter großer 
Pflichten, Unabhängigkeit vom Einfluſſe der Leidenſchaften und 
gemeiner Vorurtheile, Einsſein mit Gott, Wandel durch dieſes 


= We 


bunte Leben im hohen und doch beſcheidenen Geiſte Jeſu eine 
dauerhafte Seligkeit des Herzens bewirkt: — wird er göttlicher, 
und das Leben ſinkt für ihn im Preiſe. Mag er auch zuweilen 
noch lebhafter ſein Herz für dies oder jenes auf Erden ſchlagen 
fühlen: er kann doch das herrliche Wort des weiſen und erfahrungs⸗ 
reichen, und über alle Schickſale hocherhabenen Jüngers Jeſu 
mitſprechen: Meine Brüder, ich ſchätze mich ſelbſt noch nicht, daß 
ich es ſchon ergriffen hätte. Eins aber ſage ich: Ich vergeſſe, 
was dahinten iſt, und ſtrecke mich zu dem, was da— 
vornen iſt, und jage nach dem vorgeſteckten Ziel, nach 
dem Kleinod, welches vorhält die himmliſche anne 
Gottes in Chriſto Jeſu. (Phil. 3, 13, 14.) 

Wer unter uns, ſo vollkommen er auch wirklich ſchon wäre, 
könnte von ſich ſelber ſagen: Ich habe mein Ziel ſchon er— 
griffen! Ich habe vollendet! Mein Herz wird durch keine vor⸗ 
herrſchende Liebe zu irgend etwas Irdiſchem mehr gefeſſelt! — 
O wer dies ſagen könnte, müßte er nicht mehr als Menſch ſein? 
Daher ſoll man ſich hier vor Uebertreibung in denjenigen Vor⸗ 
ſtellungen hüten, welche man ſich von Weltverläugnungen macht. 
Wir wandeln noch in unſerm ſterblichen Leibe; dieſer Leib hat 
noch feine Beoürfniffe, die nach dem Willen des Schöpfers be- 
friedigt werden müſſen, wenn wir nicht ſelbſtmörderiſch verfahren 
wollen; bis zum letzten Augenblick des Lebens fordert nach ewigen 
Geſetzen der Natur das ſinnliche Leben ſeine Genugthuung. 
Unſere aus Fleiſch und Blut hervorgehenden Triebe und Nei⸗ 
gungen, inſofern ſie zur Lebenserhaltung und Bewahrung der 
körperlichen Geſundheit abzielen, find keineswegs fündlich, ſondern 
rein und gut. Aber ſehr leicht machen wir wieder durch Ueber- 
reizung oder allzuhäufige Befriedigung eine dieſer Neigungen zu 
herrſchend; daraus entſpringt wieder Leidenſchaft des Gemüths, 
und damit wieder ein unmaͤßiges Hangen an irgend einem ver= 
gänglichen Gegenſtand. 

Der Menſch iſt folglich, ſo lange er lebt, in einem beſtündigen 
Hinneigen zum Sinnlichen und Wiederzurückſtoßen deſſelben. Er 
zerbricht, was ihn zu ſtark feſſelt, und knüpft ſich neue Bande. 
Er wird nie ganz frei, und doch iſt ſein immerwährendes Streben, 


— 151 — 


frei vom Einfluſſe des Sinnlichen zu werden. Auch in der letzten 
ſeiner Stunden wird er noch mit Paulus ſagen: Nicht daß ich 
es ſchon ergriffen habe, oder ſchon vollkommen ſei. 
Aber eins ſage ich: Ich vergeſſe, was dahinten iſt, und ſtrecke 
mich zu dem, was davornen iſt. Ich ehre die Einrichtungen und 
Bedürfniſſe des Lebens von außen, aber mein höheres Leben, das 
Wandeln in Gott, das tugendhafte Wirken und Wollen, richtet 
ſich über alles Vergängliche auf. Ich beherrſche meine Neigungen, 
meine Liebe, meinen Widerwillen, und laſſe mich nicht von ihnen 
beherrſchen. Ich thue, was recht, was Jedem nützlich, was edel 
iſt, ſo ſehr ſich auch vielleicht demſelben meine andern Begierden 
widerſetzen. Nicht menſchlicher Beifall, nicht das Lob der Mit- 
bürger, nicht der Tadel des großen Haufens, nicht Ehrbegier, 
auch nicht Erwartung von anderm Gewinn, beſtimmen mich, das 
zu thun, was nach meiner innerſten Ueberzeugung recht und 
göttlich und eines Jeſuſchülers würdig iſt. Die Welt kann meinen 
Geiſt weder belohnen noch beſtrafen. Er findet ſeinen Lohn in 
der Aehnlichkeit mit Gott, und ſeine furchtbarſte Strafe in der 
Entfernung von Gott. Darum laſſe ich alle Genüſſe dieſes Lebens 
mich weder zum Böfen, noch zum Guten locken; ſie ſollen alle 
dem Körper, nicht dem Geiſte dienen. Ich vergeſſe, was da— 
hinten iſt, und jage nach dem vorgeſteckten Ziel, nach 
dem Kleinod, welches vorhält die himmliſche Berufung 
Gottes in Chriſto Jeſu. Dieſe Welt, mit Allem, was ſie 
Liebens- und Wünſchenswürdiges für mich haben könnte, iſt 
doch nicht das Endziel meines Daſeins. Ich bin durch Gott zu 
etwas Himmliſchem berufen; zum Geiſterleben, zu einer Voll— 
endung, von deren Größe und Herrlichkeit ich als Menſch hienie— 
den nicht einmal einen Begriff faſſen kann, während die dunkle 
Ahnung davon doch in meinem Geiſte iſt. Dies Ewigſein, dies 
Göͤttlichſein, dies Gottähnlichwerden, dies Hellerkennen Gottes, 
meiner ſelbſt und des Weltalls, dies Heiligſein im unendlichen 
Heiligthum, — dies iſt das Kleinod, dem ich nachjage, dies das 
Kleinod, welches mir meine Beſtimmung, der himmliſche Ruf 
Gottes, vorhält. Meine Beſtimmung und die mir von Gott ge⸗ 
ſchehene Berufung erkannte ich aber in Jeſu Chriſto und durch 


-— Mn 


Jeſum Chriſtum. Denn er iſt es, der Licht in die große Finſter⸗ 
niß des Lebens brachte; und darum wird er mit Recht das Licht 
des Lebens genannt. Er iſt es, der mich durch ſein geoffenbartes 
Wort aus der ungeheuern Verirrung, von der Tiefe des Wahnes 
empor zu Gott, zum Vater des Weltalls und der Seligkeit führt. 
Ich werde Gott haben, werde in ihm meine Seligkeit finden, wenn 
ich Jeſu Anweiſungen folge; denn er, das heißt, ſeine Tugend, 
iſt der Weg zum wahren Leben. Jeſu Tugend aber iſt, den 
Willen des Vaters zu thun. Der Wille des himmliſchen Vaters 
aber iſt, daß wir ihn lieben über Alles, und jeden unſerer Mit⸗ 
menſchen, mit dem wir auf irgend eine Weiſe in Verhältniß 
kommen, ſo glücklich zu machen ſuchen, als uns ſelbſt. 

Der wahrhafte Jünger des göttlichen Lehrers legt alſo nur 
einen ſehr mäßigen Werth auf das gegenwärtige Daſein. Er ver⸗ 
ſchwendet feine Stunden nicht am Putztiſch für die Schönheit 
und beſtändige Ausſchmückung eines Leichnams, deſſen Be⸗ 
ſtimmung iſt, Moder zu werden; er ſieht die Achtung guter 
Menſchen gern, ohne ſich durch Achtung oder Tadel von den 
Leuten in der Uebung feiner Pflichten wankend machen zu laſſen. 
Was er will und thut, thut er nicht wegen des Urtheils der Leute, 
ſondern aus Liebe zu Jeſu, das heißt, aus Liebe zur Heiligkeit. 
Er freut ſich der Freundſchaft, freut ſich zärtlicher Gefühle einer 
wechſelſeitigen Liebe und Gegenliebe, aber er bleibt demunge⸗ 
achtet ſeiner Empfindungen Meiſter. Liebe iſt unſterblich, und 
die Weſen bleiben einander im unendlichen All — aber der 
Menſch iſt ſterblich. Darum baut der Jünger des Herrn, der 
Weiſe, nicht die ganze Glückſeligkeit ſeines Gemüthes auf das 
gebrechliche Leben eines Menſchen. Gattin, liebe den Gatten; 
Jüngling, die Auserkorne deines Herzens; Vater und Mutter, 
liebe dein Kind! — Aber denke dir oft, daß der Tod nothwendig 
einmal Einen vom Andern reißen wird: und wie ſteht es dann 
mit der Ruhe deines Gemüths, mit deiner Glückſeligkeit? Schau- 
dert es dir, und fürchteſt du mit dem Verluſt des Lieblings alle 
deine Ruhe und Seligkeit einzubüßen, dann — ſo fromm und 
gut du übrigens auch fein mögeft — hängft du zu ſehr an der 
Welt, gibſt du ihr einen unmaͤßigen Werth; dann liebſt du leiden— 


— 153 — 


ſchaftlich; und darum biſt du nicht frei, nicht glücklich, und wirſt 
es nicht werden, bis du auch hier, ſtark durch Tugend, und er⸗ 
haben durch die Hoffnung eines ewigen Seins, vom Irdiſchen 
dich ſo weit losgewunden haſt, daß du das Liebſte auf Erden ver⸗ 
lieren kannſt, ohne darum dein ganzes inneres Glück und jene 
Himmelsruhe einzubüßen, welche das Bewußtſein der Tugend 
gewährt. Je weniger Werth dies Erdenleben für dich hat, mit 
Allem, was es dir geben kann, um fo höher iſt dein eigener 
Werth. Erſt dann wirſt du mit dem heldenmüthig frommen 
Apoſtel jagen: Wir ſind getroſt alle Zeit, und wiſſen, daß, die⸗ 
weil wir im Leibe wohnen, ſo wallen wir dem Herrn. Wir ſind 
aber getroſt, und haben vielmehr Luſt, außer dem Leibe zu wallen 
und daheim zu ſein bei dem Herrn. Darum fleißigen wir uns 
auch, wir ſeien daheim oder wallen, daß wir ihm wohlgefallen. 
(2. Kor. 5, 6. 8. 9.) 

Was bin ich werth? — Ich erkenne auch den Werth, welchen 
ich auf das Leben oder einige Gegenſtände deſſelben ſetze. Je 
größern Werth dies Leben, dies flüchtige, nichtige, für den Sterb- 
lichen hat, je geringern hat er noch in ſich ſelber. Er iſt mit dem 
Bergänglichen noch enger verwandt, als mit dem Unvergänglichen, 
mit dem, was vom Staub kommt und zum Staub zurückkehrt, 
enger, als mit Gott und allem Göttlichen. 

Wohin hat mich dieſe Betrachtung geführt? — Da ſtehe ich, 
mir ſelbſt befremdet, und blicke auf die Welt, auf mich, und, 
o Gott, empor zu Dir! — — Und indem ich auf alles das 
hinſehe, was mich auf dieſer Welt beſonders an ſich zieht; auf 
Alles, was, wenn ich ihm nahe bin, mein Herz freudiger be— 
wegen, oder was mich in namenloſen Schmerz ſtürzen würde, 
wenn ich es verlieren ſollte — — ſo habe ich meinen eigenen 
Werth gewogen. Noch bin ich meiner innern Vollendung fern, 

ach! ich liebe, ich fürchte noch in dieſem Leben und von ihm zu 
vieles, das weder dieſe leidenſchaftliche Liebe, noch Furcht ver- 
dient. Noch hange ich zu ſehr an Manchem, mehr als meiner 
Ruhe, meiner innern Seligkeit und ſelbſt meiner Tugend zu⸗ 
träglich iſt. Nicht daß ich allen ſchönen Freuden, die Deine 
Ll.iebe mir auf Erden darbietet, entſagen follte: aber daß dies Ver⸗ 


— 154 — 


gängliche nicht völlig beherrſche das Unſterbliche in mir, das iſt 
Dein Gebot; das zu erſtreben, mein Ziel! 

Herr, lehre mich eingedenk ſein, wie flüchtig meine Tage, wie 
unſicher alle Annehmlichkeiten in dieſer Welt ſind, auf daß ich 
ſie, ohne von Dir abzufallen, mit weiſer Mäßigung genießen und 
mit erhabenem Troſte verlieren könne. Dies iſt die ächte Welt⸗ 
verläugnung, zu welcher mich Dein Sohn Jeſus Meſſias mahnt. 

Herr, lehre mich eingedenk ſein, daß dies Wohnen auf Erden 
nur ein kleiner Punkt meines unendlichen Seins iſt; daß mein 
Wandel im Himmel ſein ſoll. Was meinen Geiſt jenſeits der 
Todesſtunde erwartet, ich kann es nicht wiſſen; und könnte ich 
es ſchon jetzt wiſſen, ich würde es nicht verſtehen. Wie mag das 
unmündige Kind, welches an ſeinen Spielwerkzeugen mit Be⸗ 
gierde hängt, die edeln Freuden des reifern Alters begreifen? 
So wandeln auch wir hienieden im Glauben und nicht im 
Schauen. 

Herr, lehre mich meines eigenen Werthes eingedenk ſein, 
daß in meinen Augen der Werth dieſes Lebens ſinke. Gib mir 
Kraft, Dein Geiſt ſei mit mir; nur ſo erringe ich die Freiheit 
vom Zauber des Vergänglichen, und von der Gewalt der Leiden 
ſchaften. Du, Herr, biſt der Geiſt. Wo aber der Geiſt des Bonn 
iſt, da iſt Freiheit. Amen. 


A 
18. 
Die Verirrungen guter Menſchen in 
Beurtheilung des Lebens. 


Joh. 16, 1. 4. 


Fordre nicht, um deinen Wunſch zu ſtillen, 
Eine beſſ're Welt; 
Sie iſt beſſer, denn wofür dein Eigenwillen 
Sie oft hält. 


Du denkſt edel — biſt du ſonder Mängel? 
Schlägt dein Herz ſtets rein? 
Fordre denn auch nicht, daß Andre hier ſchon Engel 
Der Vollendung ſei'n. 


Jeder wandre ſtill in dem Geleiſe 
Eigener Natur. 
Suche ſtill und duldend nur in ſeinem Kreiſe 
Gottes Spur! 


In dem Gemüth aller Sterblichen iſt ein Bild deſſen, was gut, 
vollkommen und heilig iſt. Dieſes Urbild der Vollendung wird 
der Maßſtab, nach welchem wir die Höhe oder Niedrigkeit unſerer 
eigenen Handlungen richten. Wir erkennen durch Vergleichung 
unſers Lebens und wirklichen Seins mit dem, was wir 
ſein ſollten, wie weit wir noch vom hohen Ziel der Vollkommen⸗ 
heit entfernt ſtehen. Daraus entſteht in allen vortrefflichen Ge- 
müthern das heiße Streben, immer das Beſte zu begehren, und 
nach dem Vollendetſten in feiner Art zu ringen. Daher entſteht, 
daß jeder Menſch ſich für die Thätigkeit ſeiner Kräfte, ſelbſt für 
fein bürgerliches und häusliches Leben, immer ein noch höheres 
Ziel erwählt. Ohne jenes in uns wohnende Urbild des Voll- 
kommenen würden wir beinahe ohne alle Wünſche nach einem 
beſſern Zuſtande ſein. 

Gott ſelbſt gab uns daſſelbe. Es ſollte unſere Leuchte ſein in 
der Finſterniß. Er gab es, daß Jeder wiſſe, wohin er ſolle, was 
er leiſten müſſe. Er gab es Jedem zur richtigen Beurtheilung 
ſeiner eigenen innern Welt, nicht, um darnach die äußere 
Welt zu richten. Denn die Mannigfaltigkeit von den Erſcheinun⸗ 
gen in dieſer letztern kann uns oft verwirren. Was ich ſelbſt bin, 


— 


und wie ich ſelbſt ſein ſoll, das weiß ich bei einiger Selbſt⸗ 
beobachtung ſehr leicht. Aber was andere Menſchen wirklich ſind, 
und wie die Welt wohl ſein ſollte, dies iſt nicht ſo leicht zu ent⸗ 
ſcheiden. Dazu gehört eine ausgebreitete Erfahrung des Lebens 
und ſeiner Verhältniſſe; eine Weltkenntniß, die nur in einer 
längern Reihe von Jahren erworben werden kann; ein geübter 
Blick, der nach mancher wahrgenommenen Taͤuſchug den Schein 
endlich vom Weſentlichen zu unterſcheiden fähig iſt. Junge, un⸗ 
beſcheidene Leute, welche ſich Urtheile über die Welt, bei aller 
ihrer Unkunde des menſchlichen Herzens, erlauben, pflegen daher 
übereilt und vorſchnell abzuſprechen. Erfahrnere, einſichtsvollere 
Perſonen urtheilen mit größerer Umſicht, und eben darum be⸗ 
dächtiger. 

Die Anwendung der Urbilder des Vollkommenen und Guten 
auf das wirkliche Leben iſt manchem Mißbrauch unterworfen. 
Dieſer Mißbrauch kann beſonders auf doppelte Art geſchehen, 
entweder indem man ſeine eigenen Vorſtellungen von menſchlicher 
Seelengüte und Vollkommenheit, oder menſchlicher Verworfen⸗ 
heit mit der Wirklichkeit verwechſelt; oder indem man ohne 
Berückſichtigung der verſchiedenen Anlagen und Denkarten der 
Sterblichen, ohne ihre mannigfaltigen Verhältniſſe, Gemüths⸗ 
ſtimmungen und Anſichten in Anſchlag zu bringen, ſich vorſetzt, 
vermittelſt ihrer ein uns vorſchwebendes Bild der Vollkommen⸗ 
heit in dem wirklichen Leben zur That zu machen, und auszu⸗ 
führen. 3 

Dieſer Mißbrauch von den in uns wohnenden Urbildern des 
Vollkommenen iſt ein Fehler, der gewöhnlich bei den evelgefinn- 
teſten, gutmüthigſten, oft bei den geiſtvollſten Perſonen am 
häufigſten wahrgenommen wird, die mit der Erkenntniß deſſen, 
was ſein ſollte, eine lebendige Einbildungskraft, einen ſtarken 
Willen vereinigen. Solche Gemüthseigenſchaften find beſonders 
der Jugend eigen. Daher iſt auch nichts gemeiner, als daß junge 
Leute ſich beftändig ſelbſt täufchen in ihren Urtheilen über die 
Welt; keine ruhige Mittelſtraße zu halten wiſſen; immer von 
einem Außenende zum entgegengeſetzten übertaumeln; den, der 
ihnen gefällt, für einen Engel, den, der ihnen mißfällt, für einen 


— 157. — 6 


Teufel halten; in Allem ſogleich das Herrlichſte oder das Ge⸗ 
meinſte finden, die geſammte Menſchheit verbeſſern oder beglücken 
möchten; von allen Leuten fordern, daß ſie mit gleichem Feuer⸗ 
eifer ſich ihrer Sache annehmen, und zuletzt Alles verdammen, 
was nicht mit ihnen übereinſtimmend wünſcht und wirkt. Sie 
leben nur unter ihren erhabenen Vorſtellungen, unter ihren Ur⸗ 
bildern des Schönen und Guten; unbekannt mit der Wirklichkeit, 
verachten fie Alles, was ihnen nicht entſpricht, oder fie vergöttern 
mit ſchwärmeriſcher Liebe, was denſelben ähnlich zu ſein ſcheint. 
Solche fehlerhafte Stimmung bleibt aber oft bis ins ſpätere Alter 
herrſchend, wenn beſonders bei Perſonen die Einbildungskraft 
ein unmäßiges Uebergewicht gegen den prüfenden Verſtand ge⸗ 
wonnen hat, wo ſte dann zwar immer im Geiſte ihr Ziel ſehen, 
aber unfähig bleiben, die dazu tauglichſten Mittel und Wege in 
der wirklichen Welt zu würdigen. 

Schwebte jemals irgend Jemandem das Urbild des Voll⸗ 
kommenſten vor; hat jemals Einer den kühnſten Entwurf zur 
Beförderung des allgemeinen Wohls gefaßt, und zur Verbeſſe⸗ 
rung der Welt den ungeheuern Plan mit tiefſter Liebe gefühlt, 
mit dem ſtärkſten Willen ausgeführt: ſo war es Chriſtus Jeſus. 
Wer kam ihm je gleich? Aber bei feinem göttlich großen Ziel, 
und ſeinem göttlich großen Eifer, der ihn noch in der Sterbe⸗ 
ſtunde am Kreuze nicht verließ, nahm er immerdar die Welt, wie 
ſie wirklich war, um ſie in das zu verwandeln, was ſie nach 
ſeiner hohen Vorſtellung ſein ſollte; er erwartete nie mehr von 
den Leuten, als ſie ſein konnten. f 

Er begann ſein hohes Unternehmen erſt in demjenigen Alter, 
welches auf der Grenzſcheide zwiſchen Jugend und Mannheit die 
warme Begeiſterung und Innigkeit von jener, mit Erfahrung, 
Bedachtſamkeit und ausdauernder Kraft von dieſer verbindet. Er 
ſtellte ſich die Menſchen nicht vortrefflicher, nicht ſchlechter vor, 
als ſie waren. Er empfahl zur Sanftmuth der Tauben die Klug⸗ 
heit der Schlangen, zur Unſchuld des Gemüths die Vorſichtigkeit 
gegen Andere. Er zeigte ſeinen Jüngern, was ſie von den Men⸗ 
ſchen zu erwarten hätten; denn auch fie erwarteten vielleicht noch 
zuviel, und hielten dafür, Jeder denke wie ſie, und ſei für das 


— 158 — 


Heiligſte entflammt wie ſie, Darum ſprach er: Solches habe ich 
zu euch geredet, daß ihr euch nicht ärgert. Es kommt die Zeit, 
daß, wer euch tödtet, meinen wird, er thue Gott einen Dienſt 
daran. Aber ſolches habe ich zu euch geredet, auf daß, wenn die 
Zeit kommen wird, ihr daran gedenket, daß ich es euch geſagt 
habe. (Joh. 16, 2. 4.) So warnte Jeſus, der tiefe Menſchen⸗ 
kenner, ſeine allzugutmüthigen, allzueifrigen, von der Güte ihrer 
Sache allzuvollen Jünger. Was die Welt ſein ſollte, um 
vollkommener und glückſeliger zu ſein, davon gab er ihnen 
ein hohes Urbild, dem Jeder nachzuſtreben hätte. Was aber die 
Welt wäre, davon theilte er ihnen ſeine Erfahrungen mit, und 
dazu munterte er ſie auf, Erfahrungen zu machen, auf daß ſie 
ſich mit ihren Wünſchen immerdar inner den Grenzen der Wirf- 
lichkeit hielten. 

Die Warnung an ſeine Jünger, nicht das Unerreichbare zu 
hoffen, nicht ihre Vorſtellungen von der Welt mit der Wirklich— 
keit zu verwechſeln, und fo in Gefühlen und täuſchenden Trau— 
men zu leben, die dem, was außer ihnen ſei, nicht entſprechen, 
iſt zugleich Warnung für mich und Jeden, der in einen ähnlichen 
Fehler ſeiner Vorſtellungsart verfallen könnte. Die Warnung 
iſt in unſern Tagen um ſo wichtiger, da die Jugend eines Theils 
ſorgfaͤltiger als jemals erzogen, nur mit Beiſpielen des Edelſten 
aller Zeiten umringt, und nur für Alles, was groß und gut iſt, 
begeiſtert wird, wo ſie dann leicht beim Eintritt in die Welt, mit 
Schwärmerei an den hohen Vorbildern hangend, die überſpann⸗ 
teſten Forderungen im Leben macht, und nur erſt mit bittern Er⸗ 
fahrungen zur Erkenntniß ihrer Selbſttäuſchung gelangt; an— 
dern Theils aber zu nachlaͤſſig erzogen wird, mehr lieſet als 
lebt, die Welt nur aus Büchern, das menſchliche Herz nur aus 
Romanen und Schauſpielen kennen lernt, deren Verfaſſer, oft 
ſelbſt noch jung und ohne Erfahrung, ihre Einbildungen von der 
Welt, und Schattenſpiele ihrer Phantaſie für Abſchattungen der 
Wirklichkeit geben. | 

Das Streben, die Urbilder des Vollkommenen 
außer uns in dem wirklichen Leben zu finden, und das, 
was in uns iſt, auf die Außenwelt zu übertragen, iſt 


— 159 — 


ein Fehler. Und als ſolcher wird er die Quelle mannigfaltiger 
Uebel für uns und Andere. 

Es verleitet und die falſche Einbildung, welche wir uns von 
den Menſchen machen, zu einer falſchen Behandlung derſelben. 
Wer Alle entweder für vollkommene Weſen oder für Teufel haͤlt, 
wird in ſeiner Verehrung, wie in ſeinem Widerwillen, zu den 
nachtheiligſten Ausſchweifungen gerathen; er wird ſich dem Einen 
zu unbedingt hingeben und vertrauen; keine Schwachheit an ihm 
vermuthen, Alles göttlich an ihm finden, und oft nur durch 
einige glänzende Eigenſchaften geblendet ſein, ihn für den Beſitzer 
aller Vollkommenheiten zu halten. Er wird den Andern, viel— 
leicht nur, weil er kalter, bedachtiger anſpruchloſer iſt, ohne wei⸗ 
teres Prüfen verdammen, verachten, meiden, und ſelbſt gegen 
ſeine unlaͤugbaren Verdienſte ein Vorurtheil nähren. Er wird 
ſich ſo unaufhörlich betrügen, nicht mit den wirklichen Menſchen, 
ſondern mit ſeinen Einbildungen von ihnen, umgehen; Keinen 
verſtehen und von Keinem verſtanden werden. — Es fehlt leider 
an dergleichen Schwärmern nicht, von denen man zu ſagen pflegt, 
daß fie nirgends ganz hinpaſſen; die man zwar lieben, aber zu= 
gleich bemitleiden muß. Sehr oft machen fie durch ihre phan⸗ 
taſtiſchen Vorſtellungen das Unglück derer, die nach denſelben 
unrichtig handeln. Noch öfter machen ſie ſich ſelbſt elend, ent⸗ 
weder wenn ſie Betrügern in die Hande fallen, die ihre Thorheit 
benutzen, oder wenn ſie, beſtändig betrogen in ihren Erwartun⸗ 
gen, endlich überall Betrug und Verrath fürchten, Keinem mehr 
vertrauen wollen, Ekel an der wirklichen Welt empfinden, die fie 
nie kannten, und eben dann am meiſten verkennen, wenn ihre 
ehemalige Begeiſterung und Liebe für die Menſchheit ſich in bittere 
Menſchenverachtung oder gar in Menſchenhaß umkehrt. Es ver- 
achtet Niemand die Menſchen mehr, als der ſie vorher allzugut- 
müthig und heiß geliebt hatte. Aber ſowohl ſein Haß, wie ſeine 
Liebe, find keine Zeugen vom Werth oder Unwerth der Menjch- 
heit, ſondern von der Fehlerhaftigkeit ſeiner Vorſtellungsart von 
der wirklichen Welt. | 

Perſonen von feuriger Einbildungskraft und lebhaften. Stun 
für das Gute, die ſich gewöhnt haben, mehr in ſich und mit 


— 10 


ihren Urbildern von Vollkommenheit, als in der wirklichen Welt 
und mit den Menſchen, wie ſie ſind, zu leben, verlieren ſich leicht 
in dieſe Fehler, ohne Prüfung der Zeiten, der Umſtände, der 
Menſchen, das, was ſie für das Höchſte und Beſte halten, im 
alltäglichen Leben auszuführen. Sie ſind immer voll großer und 
ſchöner Entwürfe, an deren Gelingen ſie ihre eigene Begeiſterung 
nie zweifeln läßt. Die Güte ihrer Abſichten ſcheint ihnen auch 
das Glück derſelben zu verbürgen. Ihrem innigen, ihr ganzes 
Weſen erfüllenden Wunſch ſcheint nichts unmöglich, und das 
Schwerſte ausführbar. Sie ſtiften wohlthätige Anſtalten, und 
träumen ſich von denſelben nur unvergängliche oder doch lange 
Dauer, ohne zu erwägen, wie mancherlei Unfälle dazwiſchen 
treten können, die deren Werth mindern, deren Zweck vereiteln. 
Sie ſtiften Geſellſchaften zu vortrefflichen Zwecken, aber trauen 
den Gliedern die gleiche Begeiſterung zu, in welcher ſie ſelber 
athmen, und muthen ihnen mehr Thätigkeit zu, als dieſelben bei 
ihren anderweitigen Pflichten und Verhältniſſen anwenden dürfen 
und können. Ihre Unbekanntſchaft mit den verſchiedenen Nei⸗ 
gungen, Intereſſen, Leidenſchaften und beſondern Zielen aller 
einzelnen Perſonen, Familien und Staaten, wird immer ſelbſt 
das erſte und wichtigſte Zerſtörungsmittel ihrer gutgemeinten An⸗ 
ſchläge. Sie möchten Alles verbeſſern, Alles auf den Gipfel der 
Vollkommenheit erheben, davon ſie vor ſich das Urbild ſchweben 
ſehen: die Erziehung der Menſchheit, die Einrichtung der Staa⸗ 
ten, die Sitten der Völker, die Eintracht der Kirche — und ver⸗ 
ſäumen über das Allerbeſte, was ſie fordern, das Nützliche und 
Gute, was ſchon vorhanden iſt. 

Ungerechnet, daß dem menſchlichen Geſchlecht durch die Füh- 
nen Verbeſſerungsverſuche ſolcher wohldenkenden, aber mit der 
Wirklichkeit allzuunbekannten Eiferer vielerlei Elend erwachſen 
iſt, muß ſchon die vergebliche Verſchwendung von Zeit und Kräf⸗ 
ten zur Ausführung an ſich unausführbarer Entwürfe mit Recht 
getadelt werden. Die nothwendige Unzufriedenheit, welche in 
uns gegen die Welt entſtehen muß, die für unſere hohen und 
kühnen Gedanken keine Empfänglichkeit zu haben ſcheint, ſelbſt 
der allmälig ſich aus dem beſtändigen Mißlingen unſerer men⸗ 


— 164 — 


ſchenfreundlichſten Anfichten entwickelnde Menſchenhaß, muß uns 
endlich lehren, daß der Fehler nicht ſowohl an der Welt und den 
Menſchen, als an uns ſelbſt liege. Viele bilden ſich gern ein — 
denn es kitzelt ihre Eigenliebe — ſie ſeien von der Welt nicht ver⸗ 
ſtanden, ſie ſeien verkannt von ihr; aber im Grunde verkennen 
ſie die Welt, und verſtehen das Leben nicht. 

Chriſtus, der Sohn Gottes, warnte vor dieſem Fehler. Aber 
es iſt ſehr ſchwer, das wirkliche Daſein eines ſolchen Fehlers in 
uns ſelbſt wahrzunehmen. Denn wie kann ich immer wiſſen, ob 
ich bei meinen Wünſchen, irgend eine gute Sache auszuführen, 
Welt⸗ und Lebenskenntniß genug dazu habe? Wie kann ich wiſſen, 
ob meine Vorſtellungen von den Menſchen übertrieben ſind? 

Hüte dich vor allen Dingen, an die Zuverläffigfeit deiner Ur⸗ 


theile über Perſonen und Sachen zu glauben, wenn du weißt, 


daß du mit einer oft allzulebhaften Einbildungskraft 
begabt biſt. Traue dir ſelber nicht. Höre das Urtheil älterer, 
erfahrnerer, umſichtigerer Perſonen. Noch mehr, bemühe dich, 
die Lebhaftigkeit deiner Einbildungskraft zu mäßigen, und zwar 
dadurch, daß du ſie weniger, dafür aber mehr den ruhig berech⸗ 
nenden Verſtand bejchäftigeft. Die Einbildungskraft, eine fo- 
herrliche Gabe Gottes ſie iſt, wird für das Gemüth nachtheilig, 
wenn ſie ſich an die Stelle des Verſtandes ſchwingt. Sie iſt nur 
ein untergeordnetes Vermögen der Seele. Der Geiſt, ruhig prüs 
fend, ſoll allein herrſchen. Die meiſten Verirrungen der Jugend, 
ſo wie aller guten Menſchen in Beurtheilung der Welt, entſprin⸗ 
gen aus dem Uebergewicht, welches fie der Einbildungskraft ge⸗ 
gen die Erfahrung einräumen. Dadurch verſetzen fie ſich in eine 
ſelbſt gedichtete Welt, welche nirgends, als in ihnen iſt, und ver⸗ 
wechſeln ihre Träume und Vorſtellungen mit der wirklichen Welt, 
die ſie ſich viel zu wenig Mühe gaben kennen zu lernen. 
Verſaͤume keine Gelegenheit, mit und unter den Men⸗ 
ſchen ein thätiges Leben zu führen, nicht bloß ein ftil- 
les, betrachtendes in deinem Zimmer. Nur dadurch wirſt 
du zur Erkenntniß der mannigfaltigſten Gemüthsarten gelangen, 
und den wahren Grund vieler Handlungen erfahren, den du jetzt 
nur durch Schlüſſe folgerſt, und aus Vorausſetzungen herleiteſt, 


— 162 — 


die du dir machteſt, aber nicht in der Natur derer fandeſt, die mit 
dir umgehen. Da wirſt du einſehen lernen, daß Jemand der vor⸗ 
trefflichſte Menſch ſein, und doch in ſeinen Anſichten von dir ab⸗ 
weichen kann; daß das Glänzende nicht immer das Beſte, und 
das Schlichte, Unſcheinbare nicht immer das Verwerflichſte ift. 

Meide jedes Urtheil, meide jeden Entſchluß, ſobald 
du dich dabei von allzulebhaften Empfindungen des 
Wohlwollens oder Mißfallens ergriffen fühlſt. Alle 
Aufwallungen, alle zu tiefen Rührungen verdunkeln die Klarheit 
des Urtheils; bringen die Einbildungskraft in Flammen; ver⸗ 
miſchen Traum und Wahrheit, machen uns einem Bercauſchten 
gleich, oder einem Fieberhaften, der Dinge außer ſich zu ſehen 
wähnt, die nur allein in ſeiner Einbildung wohnen. Je mehr 
du zu heftigen Empfindungen geneigt biſt, je feſter ſei verſichert, 
daß du in Uebertreibungen verfällit, worin du den Gegenſtand, 
der dich beſchaftigt, zu ſchön oder zu häßlich erblickſt, Alles für 
zu leicht ausführbar oder für zu gefährlich hältſt; daß du An⸗ 
dern im Lobe oder Tadel meiſtens, dir ſelbſt aber jedesmal, 
Unrecht thuſt. Es iſt um ein gefühlvolles Herz ein köſtliches 
Ding, ſo lange es dem zur Alleinherrſchaft beſtimmten Geiſte 
gehorcht; aber es iſt die Quelle der größten Leiden, wenn es ge⸗ 
bietet, ſtatt zu gehorchen, Empfindungen für untrügliche Urtheile 
gibt, und blindlings liebt und verdammt, weil es ihm nicht an⸗ 
ders gemüthlich iſt. 

Halte überhaupt auch den beſten Menſchen in deiner Bekannt⸗ 
ſchaft, den geliebteſten unter deinen Freunden, nicht für ſo gut, 
daß er nicht einen Fehler habe, der je nach den Umftän« 
den ihn zu einem ihm und dir gefährlichen Schritt ver— 
leiten könnte. Suche dieſe ſeine vielleicht ſchon ſehr entwickelte 
Anlage zum Böſen, dieſe Schwäche, in welcher der Keim eines 
Verbrechens liegt — ein ſolcher Keim iſt in jeglicher Schwäche! — 
kennen zu lernen, um den Freund von dieſer Seite mit Vorſicht 
zu behandeln. Aber halte auch den dir verhaßten widerlichſten 
Menſchen nicht für ſo ſchlecht, daß er nicht eine oder die 
andere tugendhafte Eigenſchaft beſäße, in welcher er 
dich bei weitem übertrifft. Auch der Verbrecher, von ſeinen 


— 163 — 


Verbrechen auf das Blutgerüſt geführt, hat noch edle Züge des 
Gemüths, die ihn achtungswürdig machen könnten, wenn ſie ſo 
bekannt wären, wie die Ausbrüche feiner Rohheit. 

Vergiß nie, auch bei den vortrefflichſten Entwürfen, die du 
zur Beglückung deiner Mitmenſchen machſt, und zu deren Aus⸗ 
führung du mit hoher Begeiſterung ſchreiteſt: daß es gefährlich 
ſei, alles Vorhandene umzuwerfen, ſeiner Mängel we— 
gen, während du vielleicht das Gute nicht hinlänglich 
gekannt haſt, welches doch auch darin liegen mochte. 
Zerſtören iſt oft leicht, aber auch kein Verdienſt; das Beſſere aber 
immer zweifelhaft, was man noch zu bauen gedenkt. Vergiß nie, 
daß die Natur nicht plötzlich das Vollkommenſte darſtellt, ſondern 
ſtufenweiſe Fortſchritte verlangt. Vergiß nie, daß nur ein Thor 
das Gute verſchmäht, weil er nicht das Beſte haben kann. Min⸗ 
dere die Mängel; entwickele das vorhandene Gute; verlange nicht 
die Ehre der That, ſondern gewähre ſie Andern: dies iſt der Weg, 
auf welchem du allmälig zum Ziel gelangſt, dasjenige in der 
Wirklichkeit darzuſtellen, wozu dich die Vorſtellung des Vollkom⸗ 
menen beſeelte. 

Gott ſelbſt gab das Urbild der Vollkommenheit und die hohe 
Liebe deſſelbem jeglichem Geiſte, nicht daß er nach demſelben die 
Welt ändere, ſondern ſich ſelbſt. So erforſche denn dich zuvor, 
was dir fehlt, um in deiner Lage und in allen Beziehungen der 
Vollkommenſte zu ſein. Suche erſt dich ſelbſt zu veredeln, ehe 
du an Andere die Forderung machſt, daß fie deiner Vorſtellung 
von Vollkommenheiten entſprechen. Verachte darum Niemanden, 
weil er nicht iſt, was er ſein könnte; denn auch du biſt nicht, was 
du in deinen häuslichen und bürgerlichen Verhältniſſen, in deinen 
Berufsgeſchaften, in deinen freundſchaftlichen Verbindungen, in 
dem weiten Kreiſe der Chriſtenpflicht, ſein ſollteſt. Auch in dir 
wohnen mehr Faͤhigkeiten und Kräfte, als du mit Weisheit zum 
Beſten deiner Umgebungen anzuwenden weißt. Die Welt, die 
ganze Menſchheit wird dir vortrefflicher zu ſein ſcheinen, wenn 
du ſelbſt vortrefflich biſt, und dein Gemüth, fern von Eigendünkel, 
aufhört, der Tummelplatz kleinlicher Leidenſchaften und betaͤu⸗ 


„ 


bender Gefühle zu ſein, ſondern nur Liebe und nichts als Siehe 
zur Menſchheit if. 

So warſi Du, Gottesſohn, Welterlöfer, die Liebe ſelbſt. Du 
verkannteſt die Welt nicht, aber ſie verkannte Dich. Du ſaheſt um 
Dich her Bosheit, die Dich haſſen mußte; Trägheit, der Du 
gleichgültig bliebſt; Leichtſinn, der Dir anhing, um Dich wieder 
zu verlaſſen; Schwachheit, die nicht Muth hatte, Dir zu folgen; 
Blödſinn, der Dein erhabenes Ziel nicht begriff; und dennoch 
liebteſt Du Alle mit gleicher Zärtlichkeit, und Deine Liebe über⸗ 
wand die Welt. Wie die Soune wandelt durch Regenſchauer 
und in reiner Himmelsblaͤue, liebend, ſegnend, unaufhaltſam ihre 
Bahn, wohlthätige Strahlen ſendend auf das Feld des Reichen 
und des Armen, des Gerechten und des Miſſethäters: ſo warſt 
Du, mein Heiland, Urbild ftiller, göttlicher Größe! Dir will ich 
nachwandeln; leben, wirken, wie Du, nach meiner Kraft in De⸗ 
muth, zur Glückſeligkeit Aller, auf die ich zu wirken fähig bin! 
Amen. 


19. 
Die Verleumdung 
Epheſ. % 29. 
Haſſen laßt uns alle Lügen, 
Alle Schmähſucht; Jeder ſei 
Offenherzig und verſchwiegen, 
In der Freundſchaft feſt und treu; 
Jeder nehme, wo er kann, 
Des Verleumdeten ſich an. 
Ja! mein Urtheil ſoll ſelbſt billig 
Gegen meine Feinde ſein, 
Ueberall zum Lobe willig 
Und vom Gernetadeln rein. 
Haſt genug an Dir zu thun, 
Freund, laß fremde Fehler ruh'n. 


— — 


Von allen Untugenden iſt vielleicht in der menſchlichen Gefell- 
ſchaft keine verhaßter, und doch keine gewöhnlicher; es wird keine 
allgemeiner getadelt und keine allgemeiner geübt, als die Untugend 


3 A: or 
der Verleumdung, des Ausſpürens fremder Fehler, der Unter⸗ 
haltung von häuslichen Angelegenheiten Anderer, und der ſcha⸗ 
denfrohen Bemerkungen darüber. 

Ja, viele Menſchen, denen ein gutes oder doch zum Guten 
geneigtes Herz nicht abzuſprechen iſt, Menſchen, die im Beſitz 
mancher löblichen Eigenſchaften ſind, denen es um ein wahres 
Chriſtenthum ernſtlich zu thun iſt, können oft eine unwiderſteh⸗ 
liche Neigung haben, ſich um die Gefchäfte, den Zuſtand und das 
Leben anderer Haushaltungen zu bekümmern, mit denen ſie viel⸗ 
leicht ſonſt wenig oder gar keine Gemeinſchaft haben. Noch mehr, 
viele Perſonen, die das Laſter der Verleumdung, das Gift der 
Läſterzungen am innigſten verabſcheuen, Perſonen, welche ſich 
ſelbſt über das Leid beklagen, welches fie von fremden Zungen 
erdulden müſſen, verfallen oft in den gleichen Fehler, den ſie An⸗ 
dern mit Recht zum Vorwurf machen, und glauben es doch von 
ſich keineswegs. 

Wer iſt Verleumder? — Jeder, welcher durch feine Reden, 
Urtheile, Nachrichten, Bemerkungen dazu beiträgt, daß unfere 
innere Achtung gegen einen unſerer Nächten mehr oder weniger 
verkleinert werden kann, ohne daß dieſer vielleicht die Abnahme 
unſerer Achtung verdient. Denn wer durch ſeine Bemerkungen, 
durch ſeine Herumträgereien, durch das Ausſpüren und Feiltragen 
deiner kleinen Familen⸗Angelegenheiten, durch liebloſe Auslegung 
deiner Worte und Thaten die Achtung fehmälert, welche gute 
Menſchen bisher von dir hatten, ihnen auch nur Mißtrauen und 
Aengſtlichkeit im Umgange mit dir einflößt — raubt er dir nicht 
einen Theil deines guten Rufes, deines bisher unbeſcholtenen 
Namens, deiner bisher unbefleckten Ehre? Und iſt der Entweiher 
deines innern Werthes, der Beſudler deines guten Leumdens, 
nicht ein Verleumder? 

Gewöhnlich denken ſich Viele, die ſich vielleicht ſelbſt von 
dieſer gemeinen Sünde des Pöbels nicht ganz rein wiſſen, unter 
dem harten Worte Verleumdung nur das Laſter in feiner größten 

Argheit: abſichtliche Erdichtung ſchändlicher Nachreden, boshafte 
Erfindung übler Gerüchte zum Nachtheile des guten Namens 
und der Ruhe des Nächſten. 


— 166 — 


Man möchte gern nur das für Verleumdung halten, was 
wider Jemandes Ehre ausgeſprengt wurde, aber davon die Wahr⸗ 
heit ſich nachmals nicht beſtätigte; jede ſchwarze Lüge, die Haß 
und Neid erſonnen; jede Vergrößerung irgend eines kleines Fleckens 
in der Denkart und Handlungsweiſe des Mitbürgers; jede allzu⸗ 
kühne und bösmüthige Folgerung aus irgend einem an 
oder auch nur aus dem Schein deſſelben. 

Aber wahrlich, der Tempelräuber, welcher das Heiligthum in 
den Stunden der Nacht erbricht, entweiht und zerſtört, iſt nicht 
allein ein Dieb. Der, welcher ſich das Geringſte, kaum eines 
Almoſens werth, von dem Eigenthum des Nächſten wider deſſen 
Wiſſen und Willen zueignet, iſt auch ein Dieb. 

Der Erfinder ſchändlicher Nachreden und Gerüchte iſt nicht 
allein der wahre Verleumder. Nein, auch der iſt es, welcher 
dem Böſewicht Ohr und Zunge leiht, um die nachtheilige, 
ehrenrührige Botſchaft geſchäftig unter allen Bekann⸗ 
ten herumzutragen. Er iſt der verächtliche Gehilfe des Bos⸗ 
haften, und für den Verleumder, was der Hehler für den Dieb 
iſt. Beide find gleich ſtrafbar und ſchändlich. Beide find Genoſſen 
gleicher Abſcheulichkeit. 

Der Boshafte würde verſtummen, wenn er keine Genoſſen 
feiner Läſterſucht hätte; er würde feine häßlichen Zwecke nicht er⸗ 
reichen, wenn er nicht immer ſchwache, plauderhafte Herumtraͤger 
und Feilbieter ſeines Giftes fände. 

Es iſt verleumderiſches Weſen, es iſt nicht menſchenfreund⸗ 
licher Jeſusſinn, wenn Brüder ſich auch nur erlauben, über die 
Denkart, über die möglichen Neigungen ihrer Mitmenſchen zu 
urtheilen, um fie irgend von einer ſchlimmen Seite ver- 
dächtig zu machen und herabzuſetzen. Und, o wie groß iſt 
die Zahl dieſer geſchäftigen Ehrenmörder! Wie Mancher, der ſich 
für chriſtlich gut und weiſe hielt, ſinkt ſo in die Klaſſe derer, die 
Gott mißfallen! Wie Mancher, der den Balken in ſeinem Auge 
nicht bemerkt, lobt ſeinen Nächſten, nur um durch ein dem Lobe 
angehängtes Aber den Splitter im Auge feines Nächſten bemerk— 
bar zu machen! Wie Mancher zuckt die Achſeln, oder lächelt 
haͤmiſch erniedrigend, um die gute Meinung zu zerſtören, welche 


EEE ER INN 6. 


Einer und der Andere von den Eigenſchaften feines Mitmenſchen 
hatte! Wie Mancher ſucht durch gleichgültiges Schweigen, durch 
bedenkliche Mienen Argwohn gegen den zu erregen, welcher etwa 
Lob einärntet, und ſich doch dabei vor dem Rufe eines Läſterers 
zu verwahren, indem er eigentlich kein übles Wort redet! 

O wahrlich, auch dieſe find Verleumder, und von der ge— 
fährlichern Art. Ihr Achſelzucken, ihr bedenkliches Schweigen 
ſpricht mehr aus, als eine boshafte Zunge. Sie vergiften mit 
ihrem Lächeln, ſie verleumden mit ihren Mienen. In ihnen iſt 
nicht die erhabene Güte, welche dem Jünger Jeſu geziemet, ſon⸗ 
dern Falſchheit, Schadenfreude, Verrath und Neid toben in ihren 
Herzen, und ſpiegeln ſich in ihren Geberden. 

Es iſt Hang zur Läſterſucht, wenn man im geſelligen Um⸗ 
gange gefliſſentlich das Geſpräch auf das Thun und Laſſen des 
Nächſten lenkt, um Gelegenheit zu finden, ſpöttiſche Anmerkungen, 
oder boshafte Folgerungen, oder Verkleinerung manches 
Guten, oder Uebertreibung manches Fehlers anzubringen. 

Es iſt Hang zur Läſterſucht, wenn man durch mancherlei 
Mittel die Angelegenheiten fremder Haushaltungen, 
die innern Verhältniſſe anderer Familien auszuſpüren 
ſucht, um ſie zum Stoff geſellſchaftlicher Unterhaltungen zu 


machen, das heißt, um fie mit geſchwaͤtzigem Munde von Haus 


zu Haus zu tragen, und zu Jedermanns Kunde zu bringen. 
Denn jegliches Haus und jegliche Familie hat in ihrem In⸗ 
nern mancherlei Vorfälle und Umſtände, welche beſſer ein Ge— 
heimniß bleiben, ob ſie gleich nicht zur Schande gereichen, wenn 
ſie kund werden. Man liebt es, in ſeinem Hausweſen ohne Zwang 
und unbeachtet einherzugehen, und ſich ſelber anzugehören. Man 
nimmt weniger Rückſichten in Thaten und Worten, und bindet 
ſich weniger an die Formen des Anſtandes und der geſellſchaft⸗ 
lichen Uebereinkunft, wie man wohl im Oeffentlichen thun muß. 
Wer durch zudringliche Neugier dieſe innere Sicherheit des Hau- 


ſes ſtört, wer durch Ausforſchen und Weiterſagen die kleinen 
Familiengeheimniſſe den Menſchen aufdeckt, welchen wenig daran 


gelegen fein ſollte: der iſt ein Verbrecher am häuslichen Glück 
des Nächſten; er iſt Handlanger des ſchadenfrohen Verleumders 


— 168 — 


oder Verleumder ſelbſt, weil er gewiſſe Dinge weltkundig macht, 
welche nicht gethan waren, um öffentlich zu erſcheinen, und daher 
Andern leicht Stoff zum muthwilligen Geſpött oder zu nach⸗ 
theiliger Folgerung gewähren. 

Und alſo ſteht in der Reihe der Verleumder Jeder, welcher 
durch Urtheile, Nachrichten und Bemerkungen dazu beiträgt, daß 
unſere Achtung gegen irgend Jemand vermindert wird, ohne daß 
dieſer vielleicht die Abnahme unſerer Achtung verdient. 

Wie aber kommt es, daß viele, in mancher Hinſicht oft ſchaͤtz⸗ 
bare Menſchen dennoch in dies ekelhafte Laſter verſinken, und 
ſich des chriſtlichen Namens, und der öffentlichen Hochachtung 
der Edeln, und des Wohlgefallens Gottes verluſtig machen? 

Wohl mag oft Neid, oft Haß, oft die Bosheit eines ver- 
brecheriſchen Herzens den Hauch der Verleumdung gegen des 
beſſern Menſchen ehrenvollen Namen und Verdienſte ausſtoßen; 
wohl mag oft die Schadenfreude in niederträchtigen Gemüthern 
über allfällige Blößen des Nächſten oder über Unfälle deſſelben 
triumphiren; wohl mag oft ein Laſterhafter Vergnügen daran 
finden, Andern die Achtung zu rauben, die ihm ſelbſt nicht ge⸗ 
währt werden kann. 

Noch öfter aber bewirkt eine thörichte Eitelkeit den gleichen 
Fehler, indem Menſchen, die von derſelben beherrſcht werden, 
gern Andere geringſchätzig machen wollen, um daun neben ihnen 
deſto größer zu erſcheinen. Sie tadeln, um zu zeigen, daß ſie 
von ſolchen Mängeln nichts an ſich haben. Sie ſetzen herab, um 
ſich erheben zu können, ohne offenbares Selbſtlob. Sie ſpotten, 
um von ſchwachen Leuten gefürchtet oder bewundert zu werden. 
Sie reden von den Heimlichkeiten der Familien, um ſich wichtig 
zu machen, weil ſie fühlen, daß ſie ſonſt zu arm an Hilfsmitteln 
ſind, um einige Aufmerkſamkeit auf ſich zu ziehen. Sie plaudern 
unbeſonnen und eifrig alles Gehörte wieder aus; und machen 
ſich aus Horchen und Wiederſagen ein Verdienſt, um ſich bei 
Neugierigen in Anſehen zu ſetzen, und bei kleinen Seelen beliebt 
zu machen. 

Zuweilen iſt es bloße Neuigkeitsſucht, Mangel an edlerer 
Beſchaͤftigung des Geiſtes, was die Menſchen von ſchlechter Er- 


A 


ziehung oder lockern Grundſätzen anſpornt, die Worte und Tha— 
ten Anderer auszuforſchen, das Geringſte, was in Häuſern ge- 


ſchieht, in Erfahrung zu bringen, um dann darüber zu brüten 


und zu urtheilen, und, wenn es die Gelegenheit mit ſich bringt, 
auch wohl darüber zu laſtern. 

Immer aber iſt dieſes Uebel ein unverwerfliches Zeugniß vom 
Mangel eines richtigen Verſtandes; Zeugniß von der Ab- 
weſenheit eines ächtchriſtlichen, edeln Gemüths. Aus Mangel 
richtigen Verſtandes gehen oft ſo viele unbeſonnene, voreilige 
Reden hervor, welche der Ehre des Nächſten zu nahe treten. Aus 
Mangel richtig gebildeten Verſtandes ſucht man in dem Wieder- 
erzählen deſſen, was Andere gethan, Stoff zur geſellſchaftlichen 
Unterhaltung, und in der Verkündigung unſchädlich ſcheinender 
Familienheimlichkeiten ein Vergnügen. 

Dieſer Hang kann endlich zur herrſchenden Gewohnheit 
werden, und wird dann im vollen Sinn des Wortes zum Laſter — 


zum Laſter der Verleumdung, oder der ihr verwandten Klatſch— 
ſucht; ein Name unedel, wie die Sache ſelbſt! — Man hält dann 


die Neigung, ſich von den Schwächen, Blößen und Lächerlich— 
keiten des Nächſten zu unterhalten, für eine der unſchuldigſten 
Freuden des geſellſchaftlichen Lebens. Man verfchönert die efel- 


hafte Sünde mit beſſern Namen; hält ſie für Theilnahme am 
Wohl und Wehe der Mitmenſchen; haͤlt ſie für Uebungen des 
Witzes, für harmloſe Scherze. Genug, die Sünde ſchmückt ſich, 
um nicht durch ihre Haͤßlichkeit vor ſich ſelber zu erſchrecken. 


Allein vergebens: Wer ſcherzend und tändelnd mit grauſamem 


Vergnügen ſeinem Bruder den tödtenden Dolch ins Herz ſtößt: 


iſt der weniger ein Mörder, als derjenige, welcher es im Rauſche, 


im Wahnſinn des Zornes thut? — Wer ſcherzend, witzig, ſogar 
geiſtreich, nur zur geſellſchaftlichen Unterhaltung, nur um ſich 
angenehm und wichtig zu machen, durch hämiſche Bemerkungen, 
durch Ausplaudern häuslicher Heimlichkeiten, durch Verdächtigen 
gewiſſer Handlungen und Umftände die Achtung für einen feiner 


Mitbürger im geringſten vermindert: iſt der weniger ein gefühl⸗ 


loſer Verleumder, als der, welcher das Gleiche thut, von Neid 


oder ſchadenfrohem Haß entflammt? Ehrenmörder, Verleumder 
III. 8 


— —- 


ſind beide, vor dem allgerechten Gott, wie vor dem Urtheil edlerer 
Menſchen! Beiden gilt in gleich furchtbarem Ernſte die warnende 
Stimme des göttlichen Wortes: „Laſſet kein faul Geſchwätz aus 
euerem Munde gehen; ſondern was nützlich zur Beſſerung iſt, da 
es noth thut, daß es holdſelig ſei zu hören!“ (Epheſ. 4, 29.) 

Beide ſtiften durch ihre Liebloſigkeit Unfrieden, gegenſeitige 
Verachtung und Geringſchätzung. Es iſt Verleumdung das Gift, 
welches die Eintracht zwiſchen den Gliedern der Gemeinde auf— 
löſet, daß fie alle einzeln daſtehen, und keines dem andern auf- 
richtig zugethan iſt. Die Zunge des lächelnden Läſterers iſt das 
Schwert, welches fo viele Herzen ſchied, die ſich einſt zärtlich lieb⸗ 
ten, und die Hölle in den Schoos mancher Familie warf, die 
ſonſt einen Himmel beſaß. 

Am furchtbarſten wüthet dies Laſter in kleinen Städten, wo 
Wohlſtand genug herrſcht, um Müßiggang zu erzeugen; wo 
Mangel einer beſſern Erziehung zur Wahl des Pöbellaſters ge- 
neigter macht; wo die Menſchen nahe genug beiſammen leben, 
um ſich alle zu kennen und zu berühren. Dort wüthet die Peſt 
des bürgerlichen und häuslichen Glücks am nachtheiligſten, alſo 
daß dort oft am wenigſten gegenſeitiges Vertrauen, Einmüthig⸗ 
keit der Familien, Alles umfaſſende Liebe zu finden iſt. Hier 
geht leichter ein böſes Geſchwätz von Haus zu Haus; und die 
Ohrenbläſer, Hin- und Herträger und Wiederſager werden nicht 
ſo bald für ehrlos gehalten, als in größern Gemeinden, wo der, 
welcher ſich um des Nachbars Heimlichkeiten bekümmert, auffällt, 
weil man ſich im Gewühl der Menge weniger genau zu erkennen 
und zu berühren gewohnt iſt. 

Sollte ich die traurigen Wirkungen der Laſterſucht ni we 
Begierde, jedes Gute und Edle an Andern zu verkleinern, ach— 
tungslos hingeworfene Worte mit Wichtigkeit aufzuheben und 
gehäſſig zu deuten — ſollte ich die Wirkungen dieſes niedrigen 
Laſters in ihrer ganzen Gewalt ſchildern: woher nähme ich Zeit 
und Worte? - 

Ich müßte reden von den tauſend Thränen, welche durch 
haͤmiſche, mit Eifer ausgebreitete Gerüchte den Unſchuldigen, 
Verkannten ausgepreßt wurden. Ich müßte reden von den Seuf— 


— 171 — 


zern, welche klagend zu Gott aus der Bruſt deſſen ſtiegen, dem 
ein boshafter Witz, oder des Neides Schlangenzahn, das edelſte 
Kleinod, den guten Ruf zerſtörte; müßte reden von glücklichen 
Familien, welche durch Mißverſtändniſſe und Zwiſchenträgereien 
auf immer von einander geriſſen und entfernt wurden; müßte 
reden von manchem Redlichen, dem durch die giftigen Verdach— 
tigungen eines Dritten das Zutrauen eines Freundes, das Wohl- 
wollen eines Gönners geraubt ward; reden von den Umtrieben 
der Rachſucht und des gegenſeitigen Haſſes, welche eine Folge 
unvorſichtiger Geſchwätze und ehrenjchänderifcher Klatſchereien 
waren; reden von der allgemeinen Kälte, Gleichgültigkeit, ge- 
heuchelten Freundlichkeit, Parteiſucht und Schadenfreude, welche 
die Erbübel der Städte ſind, in welchen Verleumdung und Gern— 
tadel zur Alltäglichkeit geworden; reden von der Vernichtung ſo 
vielen häuslichen Glücks, wo ſtatt harmloſer Zwangloſigkeit nur 
ſchüchterne Furcht und ängſtliche Rückſicht einheimiſch wurde, 
und ſelbſt im Heiligthum feiner Hütte der Menſch keine Sicher- 
heit vor der unbeſcheidenen Neugier lüſterner Tadelſucht hatte! — 
„Aber (wird Mancher in der Stille denken) iſt es nicht er⸗ 
laubt, über ſeine Mitmenſchen ein unſchuldiges Wort oder einen 
Scherz zu ſagen? Iſt denn jede Aeußerung eines Tadels ſelbſt 
über anerkannt tadelnswerthe Menſchen eine Sünde? Wenn mir 
nicht geſtattet fein ſoll, mein Urtheil über den Werth Eines oder 
des Andern auszuſprechen: wie ſoll ich einen, der mir theuer iſt, 
warnen können, dieſen als Verführer zu fliehen, jenen als Heuch⸗ 
ler zu meiden?“ 

Die heilige Schrift antwortet: Was nützlich zur Beſſerung iſt, 
da es noth thut, daß es holdſelig ſei zu hören — das rede. 
(Epheſ. 4, 29.) Dann alſo, wenn du glauben darfſt, dein 

Tadel könne Beſſerung hervorbringen; dann, wenn du glauben 
darfſt, die Erklärung deines Urtheils ſei Pflicht, die Verſchwei— 
gung deſſelben könne Schaden ſtiften, — dann rede! Aber rede, 
daß es holdſelig ſei zu hören, d. h. auch dann noch ohne Bitter- 
keit, ohne Schadenluſt, ohne dich ſelbſt damit brüſten zu wollen. — 

Wer ſieht in dieſen Worten der heiligen Schrift nicht die ſcharf— 


1 


gezeichnete Grenzlinie zwiſchen dem pflichtmaͤßigen und dem un⸗ 
erlaubten Tadel? 

Auch fühlt es jedermann ſowohl an ſich ſelbſt, als in der 
Art zu reden des Andern, ob ein geſprochener Tadel nothge⸗ 
drungen oder muthwillig und leichtſinnig ſei; ob er aus den reinen 
Quellen der ächten Menſchenfreundlichkeit, oder aus den Quellen 
der Bosheit, des Neides, der Langeweile, der Geſchwätzigkeit, 
des Spottes, der Eitelkeit und Neuigkeitsſucht fließe. 

Iſt es dir Ernſt, dich über den rohen Haufen der Bildungs⸗ 
und Herzloſen erhoben zu ſehen; iſt es dir Ernſt, deine Zunge, 
für deren Gebrauch du Gott, dem ſtrengen Richter, verantwort⸗ 
lich biſt, dem Dienſte der Verleumdung zu entziehen: ſo meide 
die Geſellſchaft der Verleumder. Und kannſt du das deiner 
beſondern Verhältniſſe wegen nicht immer: ſo ſtimme nicht 
ein in ihren Tonz ſei nicht ihr Gehülfe, ſei nicht der Wieder⸗ 
träger ihrer giftigen Bemerkungen, ſondern erhalte dein eigenes 
Urtheil über diejenigen Perſonen rein, mit welchen ſich die Ge⸗ 
ſchwätzigkeit boshafter oder unbeſonnener Leute beſchäftigt. Das 
iſt es, was Paulus, der Geſandte Chriſti, ſagt: „Gebet nicht 
Raum dem Läſterer!“ (Epheſ. 4, 27.) 

Es iſt kein Ort, wo man nicht diejenigen mit heimlicher oder 
lauter Verachtung ziemlich genau bezeichnet, welche eine loſe 
Zunge haben. Man iſt vielleicht zu ihrem Umgang gezwungen, 
aber man verhehlt ſich nicht den Ekel vor ihrem bekannten Fehler, 
alſo, daß jeder Gute immerdar vor ihnen gewarnt iſt. Selbſt 
die Läſterſüchtigen unter einander verachten und fürchten ſich gegen⸗ 
ſeitig, alſo daß unter ihnen keine Liebe iſt. 

Gebiete deinem Munde Schweigen, wenn ſich die fehaben- 
frohen und ſpöttelnden Geſpräche auf Perſonen hinlenken, gegen 
welche du ſelbſt vielleicht Abneigung empfindeſt, oder die dir An⸗ 
laß zum Mißvergnügen geben. Denn dein Urtheil über ſolche 
könnte alsdann noch falſcher und ungerechter, noch bitterer und 
gehaͤſſiger ausfallen, als das Urtheil berüchtigter Läſterer, weil 
chſi bei dir leidenſchaftliche Empfindlichkeit oder eine kleine Rach⸗ 
ſucht wegen erlittenen Unrechts einmiſcht. 

Behalte deine ruhige Beſonnenheit, jo oft du üble Nach— 


— u a 


richten und Bemerkungen über Andere vernimmſt. Scheinen dir 
aber doch ſolche Läſterberichte für deine Verhältniſſe nicht ganz 

gleichgültig zu ſein: ſo forſche nach den Quellen, aus welchen 
dieſe Anzeigen gekommen find, und ſuche die Wahrheit zu er— 
gründen. Schon oft verliert bloß dadurch eine boshafte Erzählung 
ihren ganzen Werth, ſobald man nur erſt weiß, aus was für 
einem Munde ſie hervorgegangen. In keinem Falle aber ſei du 
der MWeiterträger der Botſchaft. Sie ſei geſprochen und vergeſſen 
in demſelben Augenblicke; iſt ſie gegründet geweſen, wird ihre 
Wahrheit endlich ans Licht treten müſſen, ohne dein geringſtes 
Zuthun. 

Weiche ſelbſt dem Geſpräche über anerkannte Fehltritte deiner 
Mitbürger aus, weil man aus deinen Worten vielleicht noch mehr 
Gift zum Nachtheil der Fehlbaren oder Unglücklichen ſaugen 
möchte. Kannſt du aber, ohne die Wohlanſtandigkeit zu ver- 
letzen, nicht dem Geſpräche entrinnen: fo ſei dein Urtheil bejchei- 
den, ſanftmüthig, mildernd, gleichſam Verzeihung flehend. 

Beginne lieber die Rede von den Verdienſten, von den löb— 
lichen Eigenſchaften der Getadelten, und lege fie ihren Fehlern 
gegenüber in die Wagſchale. Schon nur dieſer Verſuch wird 
manchen Läſterer vorſichtiger machen, oder ihn ganz zum Ver- 
ſtummen bringen. Nur dieſer Verſuch ſchon wird deinem Herzen 
Ehre gewähren, wird dir ſogar Achtung und einiges Vertrauen 
bei den Läfterfüchtigen und Schwägern erwecken, weil fie über— 
zeugt werden, du ſeieſt edel und muthig genug, auch von ihnen 
ſelbſt in ihrer Abweſenheit das Gute zu ſagen. 

Beſonders aber vermeide, dich um Häuslichfeiten deiner Mit- 
bürger zu bekümmern, die doch auf dein eigenes Wohl und Wehe 
keinen Einfluß haben. Laß Jedem in ſeiner Wohnung die ſchöne 
Freiheit des Thuns, welche dir ſelbſt ſo lieb iſt, wenn du ſie ge— 
nießen kannſt. Und wenn du auch bei deinem Nachbar, bei deinen 
Bekannten mancherlei wahrnähmeſt, was allenfalls deinen Bei- 
fall nicht erregen könnte: lerne ſchweigen, und werde nicht Ver- 
räther und Ausplauderer von Dingen, die Keinem nützen zu 
wiſſen. Sprich nicht von ihnen, ſelbſt nicht gegen deine Ver⸗ 
trauteſten. Nichts wird leichter zu einer unſeligen Gewohnheit, 


— 174 — 


als dieſe unanſtändige Mittheilungsbegierde, die der erſte Schritt 
zur laſterhaften Geſchwätzigkeit, zu Tadelſucht und Verleum⸗ 
dung wird. ö | 
Alles, was ihr thut mit Worten oder mit Werken, das thut 
Alles in dem Namen des Herrn Jeſu, und danket Gott und dem 
Vater durch ihn! (Kol. 3, 17.) 
Ach, wie leicht kann auch ich ſchon oft durch unüberlegte 
Urtheile über des Nächſten Thun und Laſſen gefehlt haben! 
Vater im Himmel, Vergelter jedes Unrechts, ernſter Richter jeder 
Sünde, vergib! Vergib mir dieſe Sünde, die ich von Herzen 
bereue. Ich empfinde es, wie lieblos, wie ſchändlich ich gehan⸗ 
delt habe! O vergib, wenn irgendwo eines meiner unbedachtſam 
ausgeſtoßenen Worte in Andern die Achtung minderte, die ſie 
ſonſt für irgend einen ihrer Brüder hatten. Vergib, wenn meine 
unbeſonnenen Reden irgend einem meiner Miterſchaffenen nur 
einen mißvergnügten Augenblick, nur eine Thräne verurſachten! 
Ich will von heute an ſtrenger über mich ſelbſt wachen, und 
meine Lippen bewahren vor dem, was ungerecht und böſe iſt, 
und Dir und allen Edeln unter meinen Brüdern mißfällt. Denn 
Du, Gott, biſt kein Gott der Läſterer, der Spötter und der 
Störer haͤuslichen Glückes, ſondern ein Gott der Frommen, 
welche den Menſchen lieben, wie Jeſus geliebt hat. Amen. 


20. 


Der Schmerz, verkannt zu ſein. 
Matth. 5, 10 — 12. 


Dein Beifall iſt das Größte, 
Wonach ich ſtreben kann! 

Wenn ich mich deſſen tröſte, 

Wie glücklich bin ich dann! 

Ob mir gleich oft auf dieſer Welt 
Der Menſchen Lob und Ehre 

Bei guten Thaten fehlt. 


Wenn einſt die ernſte Waage 
Du, Weltenrichter, nimmſt, 
Und am Vergeltungstage 
Der Thaten Werth beſtimmſt: 
Dann müſſe meinem ew'gen Geiſt 
Des Himmels Krone werden, 
Die mir Dein Wort verheißt. 


Was habe ich nun davon, daß ich meine ganze Kraft, meine 
Zeit, mein Geld und ſo manche ſchöne Stunde meines Lebens, 
die ich dem Vergnügen entzog, für Nutzen und Wohlfahrt An— 
derer mit dem redlichſten Eifer hinopferte? — Undank habe ich 
dafür geaͤrntet, Spott und Achſelzucken. Ich muß mich wohl gar 
noch glücklich ſchätzen, daß man mich nur noch in der menſchlichen 
Geſellſchaft duldet, und nicht ausſtößt und verfolgt. 

Gewiß mit herzlicher, uneigennütziger Liebe habe ich die Men- 
ſchen geliebt; ich Hätte mich für fie zu Grunde richten laſſen, wenn 
es gefordert worden wäre. Ich ſchonte meiner nirgends, wo es 
darauf ankam, ihnen beizuſtehen. Ueberall that ich mehr, als 
die gewöhnliche Pflicht und Schuldigkeit von mir forderte. Zum 
Helfen fand man mich immerdar bereit, aber mir dagegen mochte 
Keiner helfen; ja vielmehr ſind diejenigen, für die ich lebte und 
arbeitete, die erſten, die mich zu verleumden und zu erniedrigen 
ſuchen, meinen guten Namen beflecken, und nicht nur den Werth 
deſſen, was ich that, in Zweifel ziehen oder verkleinern, ſondern 


mir wohl gar, wenn ſie könnten, zum Vorwurf und Verbrechen 


machen möchten. 
Ich verſuchte manches Gute. Warum ward es boshaft zer⸗ 


— 176 — 


ſtört und gehindert oder verachtet, weil es von mir kam? Ich war 
wohlthätig, wo ich es irgend fein konnte, nachgiebig und dienſt⸗ 
gefällig auf jede Art. Warum find eben die am meiſten wider 
mich, denen ich am meiſten diente? Warum wird einer geringen 
Urſache willen ſogleich Alles vergeſſen, was ich Gutes ſtiftete und 
Rechtſchaffenes leiſtete, und dagegen Alles hervorgeſucht, um 
mich vor Andern und vor mir felbft zu erniedrigen? 

Nicht daß ich für das, was ich zum Vortheil meiner Neben- 
menſchen that, Lob und Ruhm begehrte; nicht daß ich für meine 
Aufopferungen eigentlich von den Menſchen eine Vergeltung ver— 
langen möchte: ich erwarte von den Leuten weder Ruhm noch 
Lob, noch Dank und Vergeltung. Ich weiß, wie ſchwer es dem 
großen Haufen der Selbſtſüchtigen wird, ſich ſelber auf einen 
Augenblick zu verläugnen, und menſchlich-edel zu empfinden. 
Aber doch iſt es bitter, wenn man ſich am Ende gänzlich verkannt 
ſieht. Ich glaubte wenigſtens auf Achtung, auf Schonung An⸗ 
ſpruch machen zu dürfen, und keinen gehäſſigen Nachreden, keinen 
öffentlichen Verfolgungen ausgeſetzt ſein zu müſſen. 

Welch eine traurige Vorſtellung geben mir meine ſchmerz⸗ 
lichen Erfahrungen von den Menſchen! — So wie ich, klagt auch 
mancher Edle im Stillen. Denn wo iſt wohl irgend ein treuer 
Freund, ein redlicher Diener des Vaterlandes, ein eifriger Men⸗ 
ſchenfreund, ein Wohlthäter der Seinigen, ein Beförderer ge- 
meinnütziger Dinge, irgend einer, der mit Eifer einer guten Sache 
beiſtand, welcher nicht zuletzt über Undank, Hohn und Mißhand⸗ 
lung ſeiner Ehre, ſeines Namens, ſeiner Perſon zu klagen gehabt 
hätte! Sollte man nicht beinahe in Verſuchung kommen, allen 
fernern nützlichen Vorſätzen zu entſagen, ſich auf ſich ſelbſt zurück—⸗ 
zuziehen, und die breite Straße des gemeinen Menſchenhaufens 
mitzugehen; ſich um keinen als um ſich ſelbſt zu bekuͤmmern, und 
gleichgültig bei anderer Leute Wohl und Wehe zu bleiben? 

In der That iſt es ſchmerzhaft, mit ſeinem guten Willen ſo 
allein dazuſtehen, und in ſeinen allerbeſten Abſichten verkannt 
zu werden; es iſt kraͤnkend, Alles, mas man thut, übel ausge— 
legt zu ſehen, und von der Bosheit elender Menſchen, von der 
Unwiſſenheit des großen Haufens, von dem Eigennutz und Stolz 


a 


der Angeſehenen bei jedem Schritt gehindert zu werden, den man 
zu einem wohlthätigen Ziele machen will. Es iſt ſchmerzhaft, 
Augenzeuge zu ſein, wie der, welcher nichts Anderes thut, als 
für ſich ſelber ſorgen, oder wie der, welcher lachen würde, wenn 
man ihn aufforderte, zum Beſten Anderer ein beträchtliches Opfer 
zu bringen, gar ruhig und unangefochten lebt; gewohnlich Lob 
und Beifall für nichts einärntet, und Andern hoch anrechnet, 
was ihn nichts koſtete. Es iſt ſchmerzhaft, zu ſehen, wie der 
Niedertraͤchtige ſich emporſchmeichelt; wie er mit Glück fremdes 
Verdienſt herabwürdigt, um ſeine Gemeinheit geltend zu machen; 
wie er ſich ohne Ehrgefühl auf den verächtlichſten Wegen, mit 
den ſchimpflichſten Mitteln Partei, Anhang, Freunde, Gönner- 
ſchaft erwirbt. — Iſt dies der Weg, in der Welt etwas zu gelten 
und zu leiſten? 

Warum aber kränkſt du dich deswegen? Möchteft du wohl 
in den Reihen derjenigen ſtehen, die ſich durch Niederträchtig⸗ 
keiten auszeichnen und erheben? Laß doch Andere ſchlecht ſein; 
aber du ſei gut. Dein Loos iſt das Loos der meiſten rechtſchaffe⸗ 
nen Leute, die nicht mit der Welt, wie ſie nun einmal iſt, gemeine 
Sache machen, ſondern ihren eigenen Weg gehen wollen. Dir 
gibt dein Gewiſſen ein beſſeres Zeugniß, als die Menſchen geben 
können. Selig, ſagt Jeſus, ſelig find, die um der Gerech— 


tigkeit willen verfolgt werden, denn das Himmelreich 


iſt ihrer; ſelig ſeid ihr, wenn euch die Menſchen um 
meinetwillen verfolgen, und reden allerlei Uebels 
wider euch, ſo ſie daran lügen. Seid fröhlich und ge— 
troſt, es wird euch im Himmel wohl belohnt werden. 
(Matth. 5, 10 — 12.) 

Und ich muß es mir doch nicht verhehlen, war ich nicht viel⸗ 
leicht auch wohl ſelbſt hin und wieder Urſache, daß man mich 
nicht ſo unbefangen und gerecht beurtheilte, als ich es wünſchte? — 
Zeigte ſich vielleicht in meinen Worten und Handlungen zuweilen 
nicht etwas Zweideutiges, welches Anlaß gab, daß ich verkannt 


wurde? Wandte ich auch überall da, wo ich Gutes beabſichtigte, 
die nöthige Klugheit und ſchonende Vorficht an, um Andere nicht 


zu kränken, oder zu erbittern? War ich, wenn mir, was ich 


— 178 — h 


wollte, endlich gelungen war, nachher auch immer beſcheiden 
genug und mit derjenigen Demuth auf mein Thun blickend, 
welche endlich jeder guten That die Krone aufſetzt? Die Menſchen 
ſind im Grunde gern geneigt, Jemanden Gerechtigkeit wider⸗ 
fahren zu laſſen, wenn man ihnen nur bei ihren Unternehmungen 
ebenfalls Gerechtigkeit widerfahren läßt. Sie verzeihen es ziem- 
lich gern, wenn man beſſer denkt und handelt, als ſie, nur muß 
man dabei doch ihre ſehr reizbare Eigenliebe in Acht nehmen. 
Sie anerkennen noch gern ein Verdienſt, welches man hat, fo= 
bald man nur nicht dieſe Anerkennung von ihnen gewiſſermaßen 
ertrotzen will. Prüfen wir unſer Betragen, ehe wir über das 
unwürdige Betragen der Andern gegen uns Klage führen! — 
Sehen wir zu, ob nicht erſt Fehler, die wir begingen, Andere 
reizten, Fehler gegen uns zu begehen. Im Triumph und Eifer, 
den man leicht hat, wenn man irgend einen guten Zweck zu er⸗ 
reichen im Begriff iſt, kann man ſich leicht vergeſſen. Man ſpricht 
von ſeiner Sache mit allzugroßer Wärme, wodurch man theils 
weniger billig gegen Andere wird, theils ſeinem Geſchäfte einen 
übertriebenen Werth beilegt, den Andere nicht wahrnehmen. 
Ueberhaupt iſt auch wohl im Urtheil der Leute über un⸗ 
ſer Verdienſt weniger Bosheit, als Irrthum enthalten. 
Es iſt ſehr wohl möglich, daß bei einigen die Bosheit vorwaltet; 
daß ſie vom Neid, vom Stolz, vom beleidigten Ehrgeiz, vom 
bedrohten Eigennutz, von der hämiſchen Schadenfreude zur Ver⸗ 
folgung unſerer Perſon aufgewiegelt ſind. Doch wird dies ge— 
wiß nur der Fall bei einigen ſchlechtdenkenden leidenſchaftlichen 
Leuten ſein. Die übrigen plaudern nur nach; ſie ſprechen aus 
Leichtſinn mit, ſie verkennen uns, weil ſie uns nicht kennen. Ent⸗ 
weder ſind ſie überhaupt nicht fähig, unſere Unternehmungen 
und Abſichten zu verſtehen, oder wir hatten es vernachläffigt, fie 
von der Güte unſers Thuns zu belehren; oder ſie wiſſen über— 
haupt nicht, worin unſer Verdienſt beſteht, und ſind daher ſehr 
gleichgültig gegen uns, und ziehen jeden Andern vor, der ihnen 
bekannter iſt, oder dem fie für irgend eine kleine Gefälligkeit ver- 
pflichteter ſind, als uns. Darum ſollen wir nicht einiger unedeln 
Menſchen willen alle ſammt und ſonders verdammen; ſonſt ſind 


— 19 — 


wir gegen Viele eben jo ungerecht, als fie es gegen uns aus 
Irrthum ſind; und wir verdienen dann ſelber die Vorwürfe, 
welche wir ihnen jetzt machen. | 

Wir müſſen uns doch hüten, zu glauben, daß alle Men⸗ 
ſchen das Gute, was wir befördert oder geſtiftet haben, 
ſo hoch aufnehmen, wie wir ſelber; denn fie können 
nicht wiſſen, wie groß oder gering unſer eigentlicher 
Antheil daran iſt; ſie können nie wiſſen, wie viel oder wie 
wenig es uns gekoſtet; ſie können nie wiſſen, ob wir es mehr oder 
weniger in reinen, anſpruchloſen Abſichten thaten. Wir ſelbſt 
würden ja dem Verdienſte Anderer weniger Werth beilegen, ſo— 
bald wir wüßten, daß Alles nur aus Ruhmſucht, Großthuerei, 
heimlichem Eigennutz, aus verſteckten Nebenabſichten geſchah, 
oder auch nur, weil damit durchaus nichts weiter, als obliegende 
Schuldigkeit und Pflicht erfüllt ward. Man iſt darum von der 
Welt noch nicht verkannt, weil man von ihr noch nicht gekannt 
genug iſt. Und wir müſſen deswegen, weil wir unſern Werth, 
unſere Unſchuld, unſer Recht am beſten kennen, keineswegs ver- 
langen, Andere ſollen davon eben ſo gut unterrichtet ſein. 

Es iſt übrigens das Loos, von der Welt verkannt zu werden, 
das Loos der meiſten guten und trefflichen Menſchen, welche ſich 
durch ihren Eifer für das Löbliche ausgezeichnet haben. Wiſſen 
wir denn nicht, daß die meiſten edeln Menſchen der Vorwelt ihrer 
glänzendſten Tugend willen von den Zeitgenoſſen verfolgt wur- 
den? Wiſſen wir nicht, daß die meiſten von den Wohlthätern der 
Menſchheit, die heute wegen ihrer Verdienſte lange nach ihrem 
Tode hoch geprieſen ſind, während ihres Lebens verfolgt wurden, 
in Armuth ſeufzten, oft ſogar in Kerkern nahe oder mit 
Schande überhäuft ſtarben? f 

Wie Viele, die zur Zeit Jeſu Chriſti, unsers Erlöſers, lebten, 
haben ihn, ſeine göttliche Denkart, feine Mühen um das Wohl 
des menſchlichen Geſchlechts, ſeine Opfer, die er dem Heil der 
Welt und der Nachwelt brachte, gebührend anerkannt und geehrt? 
Sehr wenige. Sein Herz war ſo unſchuldig, ſein Wandel ſo an— 
ſpruchlos und wunderbar, als all fein Thun wohlthätig. Den- 
noch ward er allgemein verleumdet und verlaͤſtert; er hatte oft 


* 


— 180 — 


nicht, wohin er ſein Haupt legen konnte; nur einzelne gute Men⸗ 
ſchen fühlten die ganze Größe ſeines Verdienſtes und ſchloſſen 
ſich treu und feſt an ihn an. Seine Widerſacher aber gewannen 
den großen, blind urtheilenden Volkshaufen für ſich. Ja, ſie 
ſiegten über ihn. Er ward gefänglich eingezogen, gemißhandelt 
wie der größte Verbrecher, und zum Richtplatz von den Henkers⸗ 
knechten hinausgeführt. Er ſtarb den Tod des Sünders, der 
einzige Gerechte! j | vH 

Wie gering iſt mein größtes Verdienſt, welches ich wirklich 
habe, oder noch erwerben kann, neben dem Verdienſt und den 
Tugenden Jeſu Chriſti! Und warum will ich den Schmerz, ver⸗ 
kannt zu werden, minder gelaſſen ertragen, als er? Wer den 
Muth hat, von der gewöhnlichen Bahn des gemeinen Haufens 
abzuweichen, muß auch den Muth haben, ihm Trotz zu bieten. 
Wer die Tugend will, muß auch ihretwillen Leiden übernehmen 
können. Kann ich mich denn jemals ſchmeichelhafter belohnt 
fühlen, als wenn ich das Schickſal erfahre, welches die Edelſten 
der Menſchen erfuhren? Kann ich eine ſchönere Stelle in der 
Welt einnehmen, als wenn ich in ihrer dornengekrönten Gemein⸗ 
ſchaft ſtehe? Was kann mich mehr erheben, als der Gedanke, daß 
ich, ein Nachfolger meines göttlichen Vorbildes, gleich wie er, 
einer gerechten Sache willen leide, und nicht nur in meinen Ge⸗ 
ſinnungen, ſondern auch in meinen Schickſalen einige Aehnlich⸗ 
keit mit ihm habe? — O wahrlich, in der Reihe ſolcher Edeln 
zu ſtehen, iſt mehr, als die Welt mit allem ihrem Beifall geben 
kann. Ein ſolches Bekanntwerden, ein ſolches Verfolgtſein iſt 
der eigentliche Triumph der Tugend. Ich moͤchte ihn nicht gegen 
alle Ehrenbezeugungen der Leute vertauſchen. 

Zudem iſt jedes Drangſal, welches man der guten 
Sache willen leiden muß, die man ergriffen hat, für 
große Seelen erſt der wahre Sporn, immer muthiger 
und feſter in der Tugend zu werden. Kampf gilt es 
gegen Kampf. Ich habe ein gutes Zeugniß in mir und vor 
Gott, was bedarf ich des Zeugniſſes von Menſchen, die, von 
ihren Leidenſchaften hin und her getrieben, heute eben ſo gern 
das „Kreuzige! Kreuzige!“ ſchreien, wie ſie geſtern das „Ho— 


— —⁴— 


ſiannah!“ riefen? — Ich weiß vielmehr, oder beſorge doch, 
daß, wenn man mich, wegen meiner geringen Verdienſte, mit 
Schmeicheleien umringte, mein Eifer leicht nachlaſſen könnte. 
Ich würde leicht glauben können, ſchon genug gethan zu haben. 
Ich würde Gefahr laufen, weniger uneigennützig und großſinnig 
zu denken und zu handeln, als gegenwärtig, da ich Verdruß und 
Undank ärnte. Der Weihrauch, welchen man unſerer Tugend 
ſtreut, iſt meiſtens für ſie verderblicher, als der giftige Schlangen⸗ 
biß der Verleumder und Spötter. Als man die allererſten Be- 
kenner Jeſu mit Noth und Tod verfolgte, wurden ſie erſt be— 
geiſterter, ihn öffentlich zu bekennen. Je mehr Scheiterhaufen 
für ſie angezündet, je mehr Kerker für ſie gebaut wurden, je 
zahlreicher ward aller Orten und Enden die Jüngerſchaft Jeſu. 
Allein ſobald die Verfolgungen der chriſtlichen Religion abnah⸗ 
men, ſobald die Kirche von den Königen mit Gold und Silber 
geſchmückt, und die Prieſterſchaft mit Reichthümern und Würden 
beſchenkt ward, verloſch der reine, heilige Eifer, und die göttliche 
Sache ward über die Spielerei des Ehrgeizes und der Habſucht 
vergeſſen. 

Ich will keineswegs glauben, daß ich beſſer ſei, als die 
meiſten Menſchen find, denen es leichter iſt, in Noth und Trüb- 
ſal ſtandhaft zu bleiben, als im Glück und unter rauſchendem 
Beifall ihrer Handlungen. Man tadle mich, man verleumde mich, 
man verfolge mich: dies Alles kann mich nur ehren und den 
Werth meines Thuns erhöhen. Je mehr Sturm von außen, je 
mehr Stille und Frieden im Herzen. 

Schon daß ich verkannt und verfolgt werde, während ich doch 
Niemanden beleidigt habe, iſt ehrenvoll für mich; ſchon daß 
man ſich Mühe gibt, auch den allergeringſten Fehler an mir auf⸗ 
zuſpüren, um einen Vorwand zu haben, meinen guten Namen 
zu beflecken, und mich in der Meinung Anderer zu erniedrigen, 
iſt mir ein ſehr beruhigender Beweis, daß ich ſo ganz ſchlecht und 
verdorben nicht ſein müſſe. Denn fänden ſie tadelnswerthere 
Dinge an mir, ſie würden gewiß nicht anſtehen, darüber lautes 
Geſchrei zu erheben. Man arbeitet mir entgegen. Das Gute, 
was ich zu thun ſuche, wird verachtet. Man legt mir falſche Ab⸗ 


— 182 — 


ſichten bei. Man zählt an meinem, aus redlichem Gemüth be⸗ 
gonnenen Unternehmen, welches doch nicht zu meinem, ſondern 
zu Anderer Beſten iſt, allerlei Mängel auf, wirkliche und ein⸗ 
gebildete; man erſchöpft ſeinen Witz, bald um zu beweiſen, mein 
Thun ſei verderblich und gefährlich; bald, es ſei übel berechnet; 
bald, es ſei leeres Geklingel. Man ſucht mich bei Unbefangenen 
und wenig Unterrichteten bald verhaßt, bald recht lächerlich zu 
machen. Meine Widerſacher hoffen mich zu erſchrecken, zu beugen 
und von dem abtrünnig zu machen, was ich für wahr, recht, gut 
und nützlich halte. — Aber ſie irren. Sie bewirken von Allem, 
was ſie bezielen, das Gegentheil. Sie belehren mich von der 
Güte meiner Sache, und machen mich auf die kleinſten Mängel 
zu ihrer Verbeſſerung aufmerkſam. Ein kleiner Fehler fällt an 
dem, was gut iſt, mehr auf, als zehn Fehler an einer ſchlechten 
Sache. Je reiner und heller ein Gewand, je ſichtbarer wird 
darin der geringſte Flecken. 

Iſt mein Thun gut und gerecht: fürwahr, ſo wird 
es durch boshafte Urtheile nicht böſe und ungerecht 
werden. Der verfolgeriſche Eifer der Widerſacher macht nur 
die Welt aufmerkſamer, und zieht mir auch unparteiifche Richter 
herbei, die bald oder ſpat mir Gerechtigkeit widerfahren laſſen 
werden. Das iſt gewiß: das Tugendliche und Wahre und Wohl- 
thätige einer Sache, die um ihrer innern Vortrefflichkeit willen 
unternommen und ausgeführt wird, kann niemals untergehen, 
und wenn ſich die ganze Welt dawider verſchwören wollte. Denn 
das Gute iſt ewig, und findet ſeinen Boden und ſeine Stunde; 
das Göttliche iſt Gottes Sache. Hingegen preiſet, was an ſich 
ſchlecht und verderblich iſt, ſo hoch als ihr wollet; helfet ihm mit 
aller Mühe empor; laſſet Könige und Fürſten dafür Gold und 
Blut ihrer Unterthanen verſtrömen: das Schlechte wird in ſich 
ſelber unhaltbar fein, und trotz eures Rühmens und Prahlens 
unerrettbar untergehen und vergeſſen werden. Nichts bleibt, als 
das Gute, Wahre und Gerechte; denn es iſt etwas Göttliches. 
Das Schlechte darum und daran iſt Menſchenwerk, Folge eines 
Irrthums oder einer Leidenſchaft, und verdient nicht zu leben. 

Warum ſollte ich mich alſo grämen, daß ich und mein Thun 


8 


von Menſchen verkannt werden? Es wird beſtehen, wenn es zu 
beſtehen verdient. Ich werde gerechtfertigt werden in meiner Un⸗ 
ſchuld, wenn ich der Rechtfertigung werth bin. Sollte ich mich 
irre machen laſſen durch Pöbelgeſchrei? Sollte ich meiner guten 
Sache treulos werden, um den Anhängern der ſchlechten Sache 
zu gefallen? Nimmermehr! Wie möchte ich ſo feige ſein, und 
mir ſelber Schmach anthun? Nein, ich will meine guten Zwecke 
nicht fahren laſſen, noch das Zeugniß meines Gewiſſens. Ich 
will zu meinen Widerſachern ſprechen, wie mein Heiland zu den 
ihn verfolgenden Juden ſprach, die ihn zu tödten ſuchten, weil 
er an einem Sabbath einen Kranken heilte. „Ich nehme nicht 
Ehre an von Menſchen!“ ſprach er: „aber ich kenne euch, daß 
ihr nicht Gottes Liebe in euch habt. Und die Ehre, die von Gott 
allein iſt, die ſuchet ihr nicht.“ (Joh. 5, 40. 41. 44.) 

Muth denn, alle ihr Leidenden, ihr Verfolgten, ihr Ver⸗ 
kannten, die ihr ſeufzet um einer heiligen und gerechten Sache 
willen! Muth denn, und unverzagt ans Werk; Gott iſt mit euch! 
Was kann euch aller Widerſpruch ſchaden? „Gedenket,“ ſagt 
die heilige Schrift, „gedenket an den, der ein ſolches 
Widerſprechen an uns armen Sündern wider ſich er— 
duldet hat, daß ihr nicht in eurem Muth matt werdet 
und ablaſſet. Denn ihr habt noch nicht bis aufs Blut 
widerſtanden über dem Kämpfen wider die Sünde! 
(Hebr. 12, 3. 4.) Es iſt möglich, daß ihr auf Erden wenig 
Freude erleben werdet, und noch im Tode verkannt bleibet. 
Fordert ihr aber Ruhm von der Welt? So ihr dieſen begehret, 
habt ihr falſche Wege erwählt, weil ihr Spott und Haß ärntet. 
Begehret ihr keinen Ruhm von den Menſchen; gilt euch euer Be⸗ 
wußtſein und der Beifall Gottes mehr: warum ſchmerzt es euch, 
von der Welt verleumdet und verkannt zu ſein? — Eben euer 
Leiden um der gerechten Sache willen gibt euch jenes ſeelener⸗ 
hebende Gefühl, von welchem der große Haufe derer keine Ahnung 
hat, die euch verdammen. Eben euer bitteres Loos hienieden, 
neben aller eurer Unſchuld und Gerechtigkeit, deutet auf eine 
höhere Anerkennung eures Werthes hin. Nicht auf Erden voll- 
enden Geiſter ihre Laufbahn; auch rief Gott ſie nicht nur dieſes 


— 184 — 


flüchtigen Hierſeins wegen in ſeine Welt. Edle Seelen! unſer 
Weg iſt lang, denn er geht durch die Ewigkeit, unſere Straße iſt 
herrlich, denn fie führt über die Trümmer des Vergänglichen zum 
Schauen Gottes. 

Selig ſind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werben 
denn das Himmelreich iſt ihnen. Seid fröhlich und getroſt, es 
wird euch im Himmel wohl belohnt werden! 

Wohl gibt es ſchwere Stunden, da meine Entſchloſſenheit 
wankt, wenn Alles wider mich aufſteht; wohl kann ich meinen 
Thränen nicht wehren, meinen Unmuth nicht dämpfen, wenn ich 
mit Liebloſigkeit und Undank ſelbſt von denen behandelt werde, 
welchen ich ſo oft und am liebevollſten half. Oft könnte ich faſt 
an mir irre werden, und an meinem eigenen gänzlichen Werth 
verzweifeln, wenn ich von allen Seiten Widerſpruch und Kränkung 
erfahre. Doch mein Muth ſoll nicht brechen. Ich will ſtandhaft 
beharren bis ans Ende, und meinen Lauf vollenden. Und ver⸗ 
kennt mich die Welt, Du, o Gott, o Herzenskundiger, kennſt 
mich, und weißt es, ob ich falſch bin! Du biſt der Vertraute 
meiner Empfindungen, meiner Gelübde, meiner redlichen Ab⸗ 
ſichten, und wie ich, ohne nach eigenen Vortheilen zu jagen, doch 
hauptſaͤchlich nur das Beſte meiner Mitmenſchen bewirken möchte. 


21. 


Die Gefahren, Andere zu verkennen. 
Jak. 4, 11. 12. 


Nur der Richter aller Welten 
Richtet mit Gerechtigkeit: 
Jedem wird er einſt vergelten, 
Wie er lebt in dieſer Zeit. 
Ueberlaß ihm das Gericht: 
Richte du den Nächſten nicht. 


Wie empfindlich der Schmerz ſei, von Andern verkannt zu wer⸗ 
den, und ſich bei den beſten Abſichten hamiſch beurtheilt zu ſehen, 
davon hat wohl Jeder ſchon die Erfahrung gemacht. Wenn nun 


— 15 — 


ziemlich allgemein bekannt ift, wie wenig dazu gehört, bei aller 
Unſchuld dennoch von den Leuten übel angeſehen und ſchlechter 
Grundſätze oder unedler Abſichten verdächtigt zu werden: jo muß 
man um ſo mehr erſtaunen, daß ſich ſo wenige Menſchen hüten, 
in den gleichen Fehler zu verfallen. Ja, man erlebt ſogar, daß 
ſelbſt die, welche das Loos hatten, eine lange Zeit verkannt zu 
werden, keinen Anſtand nehmen, ihrerſeits auch andere Perſonen 
vorſchnell und dreiſt zu beurtheilen und zu verdammen. 

Freilich, Jeder, der über einen Andern und deſſen That und 
Leben ſeine Meinung ſagt, bildet ſich ein, etwas Richtiges zu 
ſagen. Es muß ein grundboshaftes Gemüth ſein, welches recht 
mit Vorſatz eine tückiſche Lüge verbreiten wollte. Man glaubt, 
indem man über das Betragen und die Unternehmungen einer 
Perſon ein etwas ſcharfes oder mißbilligendes Urtheil fällt, ſeiner 
Sache gewiß zu ſein, und vielleicht wohl gar Gutes zu ſtiften 
und zu warnen. | 

Aber wie leicht ift da der Irrthum auf unſerer Seite! Wie 
ſchnell können wir in Gefahr kommen, den Nebenmenſchen zu 
verkennen! Es iſt der frechſte, abſprechendſte Eigendünkel, wenn 
man ſagen kann: ich irre mich hier gewiß nicht! — O wie leicht 
irrt man in Beurtheilung des menſchlichen Herzens! 

Denn wenn wir Werth und Unwerth einer uns weniger be— 
kannten Perſon ermeſſen wollen: welchen Maßſtab nehmen wir 
dazu? — Zur Beurtheilung fremder Einſichten doch nur den 
Maßſtab unſerer eigenen Einſichten; zur Beurtheilung fremder 
Denkart doch nur den Maßſtab unſerer eigenen Denkart! Woher 
wollten wir einen andern Maßſtab nehmen? 

Nun aber iſt unſere Einſicht ganz gewiß in vielen Dingen 
beſchränkter, als die Einſicht Anderer. Und mögen wir noch fo 
viel vortreffliche Geiſtesgaben oder Kenntniſſe beſitzen, wir ſind 
nicht im Beſitz aller. Schon unſere Herkunft, unſere frühere Er- 
ziehung, unſere ſpaͤtern Erfahrungen haben uns eine gewiſſe Ein⸗ 
ſeitigkeit gegeben. Andere ſtehen auf andern Standpunkten; 
Andere haben in manchen Dingen höhere und genauere Anſichten 
der Welt. Wir find keineswegs die Alleinwiſſenden, die All- 
weiſen. Wenn Jemand ganz abweichend von der herrſchenden 


ni 


Meinung urtheilt, wenn Jemand zu irgend einem guten Zwecke 
ganz andere Wege einſchlägt, als die bisher gewöhnlichen, müſſen 
wir darum nicht glauben, er ſei ein Thor, ein Schwärmer, ein 
Geck, ein Böſewicht. Er kann vielleicht die Wahrheit erfaßt haben, 
‚während wir Andern Alle mit unſerer vermeinten Einſicht im 
Irrthum ſind. Immer waren die, welche dem menſchlichen Geiſte 
eine neue Bahn eröffneten, im Widerſpruch mit dem großen Hau⸗ 
fen. Es hat kaum einen einzigen berühmten Weiſen des Alter- 
thums gegeben, der nicht von der größten Menge ſeiner Zeitgenoſſen 
als ein Thor oder Verbrecher behandelt worden wäre. Mußte 
nicht ſelbſt Jeſus Chriſtus, mußten nicht alle ſeine Jünger Ver⸗ 
folgungen dulden, weil ihre Lehre nicht die gemeine Lehre der 
Welt war? 

Eben ſo gefährlich iſt es auch, wenn wir unſere eigene Denk⸗ 
art zur Denkart Anderer machen, und daraus auf die Beweg— 
gründe ihrer Handlungsweiſe ſchließen wollen. Glaube mir, mein 
Freund, es gibt in der Welt nur einen einzigen Menſchen, der 
in Allem ganz ſo iſt, wie du; und dieſer Einzige biſt du. Alle 
Andern find anders. Bilde dir daher nicht ein, daß den Hand- 
lungen Anderer dieſelben Triebfedern vorausgehen, wie den dei— 
nigen. Daher, wenn wir auch hundert Perſonen im Verdammen 
einer andern einig ſehen, ſtimmen wir doch nicht in ihren geheim— 
ſten Meinungen über die Urſachen zuſammen. Wer das Geld 
liebt, wird ſagen: es iſt ihm um Geld zu thun! Wer gern herr— 
ſchen mag, wird ſagen: er will ſich obenan bringen! Wer eitel 
iſt, wird ſagen: er will nur Aufſehen e — Und ſo jeder 
anders. 

Wir alle wiſſen ſehr gut, daß es Andern ſchwer ſein müſſe, 
unſere eigene Perſon richtig zu beurtheilen, weil ſie ſelten die 
tiefſten Beweggründe unſers öffentlichen Betragens zu errathen 
im Stande ſind. Warum maßen wir uns denn ein abſprechendes 
Urtheil über Andere an? Wir werden doch auch dieſe nur nach 
dem äußern Schein beurtheilen können, und wie leicht führt der 
bloße Anſchein zu Mißverſtändniſſen und ungegründeten VBerbäch- 
tigungen! Wie viel Unglück iſt daraus ſchon für ganze Familien, 
oft für ganze Lander entſtanden! 


— 187 — 


Sogar die erſten nachtheiligen Wirkungen einer Unterneh— 
mung oder Handlungsart von andern Perſonen geben uns nicht 
immer das Recht, den Werth ihrer Sache oder ihrer Gemüthsart 
für ſchlecht zu erklären. Iſt uns denn nicht ſelbſt ſchon Vieles 
mißlungen, und hat nicht Manches, das von uns in beſter Ab⸗ 
ſicht gethan ward, auch wirklich ſcheinbar üble Folgen nach ſich 
gezogen? — Iſt denn darum die Religion Jeſu Chriſti, oder die 
Abſicht ihres göttlichen Urhebers verwerflich geweſen, weil die 
Religion fo viel Streit, Krieg und Blutvergießen unter den Men— 
ſchen veranlaßte? Jeſus ſelbſt ſah dieſe Wirkungen vorher, und 
ſagte ſie voraus. Aber deswegen ſtand er nicht von ſeinem 
Werke ab. 

Und geſtehen wir es uns doch nur ſelber: oft find unſere un 
günſtigen Meinungen über das Thun und Laſſen Anderer die 
Früchte höchſt kleinlicher Urſachen. Geſtehen wir es uns doch, 
daß gewöhnlich unſere Eigenliebe und Selbſtgefälligkeit dabei das 
große Wort mitſpricht, daß wir uns dabei gern als die Klügern, 
Verſtändigern, Bedächtigern und als die Edeldenkendern ſehen 
laſſen möchten! — Geſtehen wir es doch, daß zuweilen bloß das 
Aeußerliche einer Perſon, welche uns nicht gefällt, oder die Art, 
wie ſie ſich vielleicht bei irgend einer Angelegenheit gegen uns 
zeigte, einen mächtigen Einfluß auf unſere unvortheilhafte Mei- 
nung von ihren Verrichtungen hat. Geſtehen wir es, daß wir 
zuweilen bloß deswegen wider Jemanden geſtimmt ſind, weil ſein 
Thun und Laſſen unſerm eigenen Intereſſe zuwider ſein kann. 
Ja, oft ſind wir ſo ſchwach, daß wir Jemanden ohne anders 
mitverdammen helfen, bloß weil wir unbeſonnen und treuherzig 
alles Schlechte nachſchwatzen, was wir vom Hörenſagen wiſſen. 
Wir würden vielleicht unſere Meinung auffallend verändern, wenn 
wir den Jemand genauer kennen lernten und die wahren Beweg— 
gründe ſeines Verfahrens. 

Es gehört ein ungewöhnlicher Grad von Unbefangenheit, 
Selbſtverläugnung und Leidenſchaftsloſigkeit dazu, und mehr noch, 
es gehört eine unglaublich tiefe Menſchenkenntniß dazu, um eines 
Menſchen und ſeines Thuns und Treibens wahren Werth richtig 
beurtheilen zu können. Und alſo auch der unbefangenſte, auch 


— 188 — 


der erfahrenſte Menſchenkenner kann ſich in hundert Fällen neun⸗ 
undneunzigmal täuſchen, und die Perſon, welche er, oder deren 
Handlungen er als tadelnswürdig verdammt, gänzlich verkennen. 

„Darum ſeid vorſichtig! Afterredet nicht unter einander, lieben 
Brüder,“ ſagt der lebensweiſe Jeſusjünger Jakobus; „wer ſei⸗ 
nem Bruder afterredet und urtheilet ſeinen Bruder, der afterredet 
dem Geſetz und urtheilet das Geſetz. Urtheileſt du aber das Geſetz, 
ſo biſt du nicht ein Thäter des Geſetzes, ſondern ein Richter. Es 
iſt ein einiger Geſetzgeber, der kann ſeligmachen und 
verdammen. Wer biſt du, der du einen Andern urthei— 
leſt? (Jak. 4, 11. 12.) b | 

Nicht nur müſſen wir als verſtändige Menſchen uns hüten, 
durch vorſchnellen oder nachplaudernden Tadel uns ſelber in Irr⸗ 
thum zu ſtürzen; ſondern auch als billige, wohldenkende 
Menſchen, als Chriſten uns vor der leicht möglichen Gefahr in 
Acht nehmen, Andere zu verkennen, und dadurch in Verdruß und 
Verderben zu bringen. Denn es iſt wahrhaftes Verbrechen gegen 
Gottes- und Menſchenliebe, einen Unſchuldigen zu kränken; einen 
Rechtſchaffenen in Verdacht der Schlechtigkeit zu bringen; aus 
bloßem Vorurtheil gegen nützliche Unternehmungen zu arbeiten 
und ſie zu hintertreiben; durch eine falſche und voreilige Meinung 
ganzen Familien, vielleicht ganzen Gemeinden oder Völkern Scha- 
den und Unheil zu bringen, und, ohne es zu wollen, vielleicht 
aus bloßer Nachplauderei, für boshafte, undankbare Menſchen 
ein Werkzeug gegen ſonſt achtungswerthe und verdienſtvolle Per- 
ſonen zu werden. 

So leicht es iſt, in die Gefahr zu kommen, Andere zu ver— 
kennen, eben ſo leicht iſt es, in die Gefahr zu gerathen, alles 
mögliche Uebel zu ſtiften und ſtiften zu helfen. 

Wenn du einen wohlgeſinnten, rechtſchaffenen Mann ver- 
kennſt, und dich, vom Schein bethört, verführen läſſeſt, ihn für 
ſchlecht zu halten: kannſt du glauben, wenn er dies erfährt, daß 
es ihn nicht tief und bitter kranken müſſe? daß es ihn nicht 
ſchmerzen müſſe, wenn er auch nicht dergleichen thut? Welche 
Freude könnte es dir denn machen, wenn du einem Unſchuldigen 
durch deinen Verdacht, durch dein vorſchnelles Verdammungs- 


1 


urtheil eine ſchmerzliche Lebensſtunde bringſt? Biſt du nicht ein 
Mörder an ſeinem Glück? Die Thräne des Unmuths, welche er 
oder ſeine Familie weint, fällt ſie dir nicht zum Gericht? Und 
ſiehſt du die Folgen alle voraus, welche deine Ungerechtigkeit her⸗ 
vorbringen kann? Iſt es etwas Unerhörtes, daß eine Perſon, 
die das Unglück hatte, verkannt zu werden, dadurch das Opfer 
ihres geheimen Grams geworden; daß dadurch ihre Geſundheit 
allmälig untergraben, und die natürliche Friſt ihres Lebens ver- 
kürzt wurde? Ach, wie mancher Unbeſonnene iſt durch ſeine Zunge, 
durch fein: Klüger- und Beſſerſeinwollen, durch ſein voreiliges, 
gehäſſiges Abſprechen ſchon Mörder an der Lebensruhe, an dem 
Lebensglücke nachher unſchuldig befundener Perſonen geworden! — 
Wenn das nicht deine Abſicht war, warum bedachteſt du dich 
nicht früher? Kann dein Bereuen hintennach das Geſchehene un— 


geſchehen, die gefloſſenen Thränen ungefloſſen machen? Leicht⸗ 


ſinniger, wenn dich vielleicht der Arm weltlicher Obrigkeit wegen 


deines Vergehens nicht wohl züchtigen darf und kann, bildeſt du 
dir ein, daß für eine gekränkte Unſchuld kein Richter mehr lebt, 
und für deine verderbliche Zunge keine Strafe? 5 

Ja, es iſt gefährlich, Andere zu verkennen, ſie dadurch men⸗ 
ſchenſcheu und menſchenfeindlich zu machen; ehemals gute, theil⸗ 
nehmende, liebevolle Menſchen argwöhniſch gegen ihr Geſchlecht 
zu machen; ihnen die Luſt zu rauben, ferner wohlzuthun und ge⸗ 
meinnützig zu ſein. Es iſt gefährlich, durch Unbedachtſamkeit ſei⸗ 
nen Mitmenſchen den Glauben an die Menſchheit zu rauben! — 
Und dies iſt eine ſehr gewöhnliche Wirkung des Verkennens. 
Dadurch iſt ſchon manche zärtliche Freundſchaft gebrochen, manche 
Liebe zerriſſen, der Eifer manches Edeln für Alles, was er gern 
Nützliches geſtiftet haben würde, erkältet worden. Dadurch hat 
man ſchon manchen wackern Menſchen in Unthätigkeit zurückge⸗ 
ſchreckt und manchen vortrefflichen Bürger feinem Vaterlande ge- 
raubt, indem er verkannt und verdächtigt und unſchuldig zurück⸗ 
geſetzt ward. Denn wer möchte ſeine Liebe auch an Unwürdige 
verſchwenden, die uns nur ſchlechte und niederträchtige Geſinnun⸗ 
gen zutrauen? Wen freut es, unter Menſchen zu leben, die alles 
das nicht achten, was man um des Guten willen verrichtet, hin⸗ 


— 190 — 


gegen, weil man in ihrem gemeinen Treiben nicht mittreibt, un⸗ 
erſchöpflich in gehäffigen Vermuthungen und beſchimpfenden Ver⸗ 
leumdungen ſind? Wen ermuthigt es, einen größern oder geringern 
Theil ſeines Vermögens, ſeiner Kräfte, ſeines Lebens zum Wohl 
Anderer aufzuopfern, wenn man dafür nicht nur die undank⸗ 
barſte Gleichgültigkeit, ſondern Spott, Gelaͤchter, üble Nachreden, 
Verfolgungen jeder Art ärntet? 

Wenn du alſo über Perſonen nachtheilige Urtheile fällſt, biſt 
du ſicher, daß du ſie nicht verkennſt? Biſt du ſicher, daß 
du nicht ganzen Familien, vielleicht dem Ruhm und Glück deines 
Vaterlandes, den größten Schaden ſtifteſt? Wer biſt du, der du 
einen Andern verurtheileſt? 

Das Loos, verkannt zu werden, wird am gewöhnlichſten aus⸗ 
gezeichneten Perſonen zu Theil, die entweder durch vorzügliche 
Talente, oder durch großes Vermögen, oder durch hohe Aemter 
die Augen der Menge auf ſich ziehen. Ueber ſie maßt ſich nun 
Jeder das Recht an, zu urtheilen, als wenn Jeder ſie auf das 
vertrauteſte kennte. Weil man viel von ihnen ſpricht und reden 
hört, glaubt man ſie ſchon hinlänglich zu kennen. So lange jene 
Perſonen in dem Geleiſe der Gemeinheit bleiben; in dem, was 
ſie thun, vom Glücke begleitet ſind; oder ihre Schritte nicht gegen 
dies und jenes Intereſſe anſtoßen: läßt man ſie. Aber ſobald ſie 
vom Gemeinen abweichen, erhebt ſich die Krittelei, und Jeder 
läßt gegen ſie ſeine Weisheit blicken. Sind ihre Unternehmungen 
nicht ſogleich vom Glück gekrönt, jauchzt der ſchadenfrohe Pöbel 
feinen Spott. Pöbel heißt aber nicht die arme Volksklaſſe, ſon— 
dern der reiche und arme, hohe und niedere, geiſtesbeſchränkte 
Troß im Volk, der keines eigenen und edeln Urtheils fähig iſt. 
Die Läfterzungen werden rege und reger, wenn der Verkannte 
nicht ſogleich im Stande iſt, den Nutzen ſeiner Unternehmungen 
ſonnenklar für jedes Auge darzuſtellen. Und hatte er die aller— 
loͤblichſten Zwecke, der Pöbel wird ihm die niedrigſten Nebenab— 
ſichten zuſchreiben; wird ihn, ſobald es erlaubt iſt, verfolgen und 
freuzigen, weil er nicht iſt und thut, wie der gemeine Haufe iſt 
und thut. 

Kennſt du, mein Freund, keine Beiſpiele dazu aus den Er— 


— 191 — 


fahrungen deines eigenen Lebens? Haſt du dir nicht auch ſchon 
in deinem Urtheil über ausgezeichnete Perſonen, ohne gründliche 
Kenntniß der Sache und des Menſchen, abſprechende, verbäch- 
tigende Urtheile erlaubt, und dich auf die Seite des Pöbels ge— 
ſtellt? Haft du nicht auch ſchon deinen Witz angeſtrengt, den 
Verſtand und das Herz ausgezeichneter Perſonen lächerlich und 
veraͤchtlich oder gehäſſig zu machen? Haft du nicht auch ſchon, 
ohne vorher gehörig geprüft zu haben, das Böſe und Feindliche 
nachgeplaudert, was von dergleichen Perſonen geſagt wird? Haſt 
du nicht auch ſchon geholfen, das Gute zu unterdrücken, das Nütz⸗ 
liche zu hintertreiben, beſonders weil es von Dieſem oder Jenem 
herrührte, gegen welchen du im Herzen eingenommen wareſt? — 
Siehe, ſo ſtandeſt auch du deiner unwürdig da, in der ekelhaften 
Schlechtigkeit des Pöbels, der allezeit fähig iſt, die Unſchuld zu 
verdammen, oder das Verdienſt zu läſtern, weil er ſelber nicht 
unſchuldig iſt, oder nicht groß genug, das Edlere zu begreifen 
und zu ehren. Schwacher Chriſt, der du dich deſſen ſchuldig 
weißt: auf welcher Seite würdeſt du geſtanden ſein, wenn du in 
den Tagen Jeſu Chriſti, deines Erlöſers, gelebt haͤtteſt? Würdeſt 
du mit den wenigen Jüngern Jeſu geweſen ſein, und ihre Gefahr 
mit ihnen getheilt haben; oder haͤtteſt du es mit dem Poͤbel der 
Schriftgelehrten, Phariſäer und anderer Feinde des Herrn ge— 
halten? N 

Darum (denn Gefahren und Schaden ſind groß, Andere zu 
verkennen) ſei behutſam im Ausſprechen deines Urtheils 
über Andere; — nicht nur im Ausſprechen, fondern ſelbſt 
im bloßen Denken eines nachtheiligen Urtheils! Entſcheide nicht 
gleich, und argwöhne nicht ſogleich das Schändlichſte, bevor du 
nicht Perſon und Sache auf das Vollkommenſte ergründet haſt. 
Selbſt der Schein der Umſtände gibt dir noch kein Recht, Böfes 
zu vermuthen; Erfahrungen ſollten dich ſchon belehrt haben, wie 
oft man vom Schein hintergangen werden kann! Entſcheide nicht, 
ſprich nicht ab, und nimm ſelbſt das allgemeine Geſchrei der Leute 
gegen die Handels- und Denkweiſe dieſer oder jener Perſon nicht 
für einen Beweis der Wahrheit. Denn es gibt viele Dinge, welche 
die Faſſungskraft, Erfahrung und Einſicht des großen Haufens 


— 192 — 


weit überſteigen; auch maßt ſich der rechthaberiſche Eigendünkel 
des gemeinen, voreilig richtenden Troſſes gern das Richteramt 
an. — Oder wann haſt du jemals gehört, daß die gewöhnlichen 
Menſchen lieber das Gute anerkennen und nach Verdienſt mit eben 
dem Eifer preiſen, als ſie ſchnell fertig ſind, Böſes zu argwöhnen 
und nachzureden und weiter zu bringen? Kannſt du dir einbilden, 
daß die Leute das Gute, was an dir iſt, ſchon eben ſo allgemein 
und emſig gerühmt haben, als ſie geſchäftig geweſen ſind, deine 
Fehler oder Irrthümer, oder auch den bloßen Schein derſelben, 
zu muſtern und durchzuziehen, zu beſpötteln, und wieder zu er⸗ 
zählen? 5 N 

Wenn der große Haufe über ausgezeichnete Perſonen after⸗ 
redet; ihnen bei dem, was ſie Löbliches bewirken wollen, niedrige 
Nebenabſichten zutraut; fie für Heuchler oder Ehrgeizige, Schwär— 
mer oder Neuerungsſüchtige, Herrſchluſtige, Geldbegierige u. ſ. w. 
hält: ſo wird man zehnmal für einmal am ſicherſten gehen, wenn 
man von den Verläſterten ohne anders das Gegentheil glaubt. 

Willſt du nicht Gefahr laufen, Jemanden leicht zu verkennen: 
fo traue ihm bei ſeinen Unternehmungen immer lieber die ehr- 
lichen Abſichten und beſſern Beweggründe, als die 
ſchlechtern zu. Denn im Durchſchnitt haben die Menſchen bei 
dem, was fie öffentlich thun, gewiß keine unedeln und böfen 
Gründe. Ob aber ihre Anſichten und gewählten Mittel richtig 
oder irrig ſeien, das kann nicht durch bloßes Vernünfteln und 
Vermuthen, ſondern am ſicherſten durch den Erfolg entſchieden 
werden. Schlechterdings und durchaus böſe iſt kein Menſch auf 
Erden; warum ſoll ich ihm alſo keine gute Abſicht zutrauen? — 
Bin ich denn nicht ſelber edler Zwecke und Wünſche bei meinen 
Handlungen fähig; liegt darin nicht weit ſüßerer Genuß, als in 
der Wahl niedriger und unreiner Abſichten? Welch ein Recht 
könnte ich alſo haben, von Andern nicht das zu glauben, deſſen 
ſie am natürlichſten fähig ſind? 

Wo du löbliche Zwecke bei Unternehmungen wahrnimmſt, 
da eile, ſie mit der des Chriſten würdigen Liebe des Guten zu be— 
fördern, und laure nicht auf verſteckte, verächtliche Nebenabſichten 


— 193 — 


deſſen, der das Unternehmen angehoben hat. In dieſen kannſt 
du irren; in jener Liebe des Guten und Löblichen niemals. 

Verdamme auch dann nicht, wenn der Schein gegen 
die Güte einer Perſon oder ihres Thuns redet. Der 
Schein würde vielleicht plötzlich verſchwinden, wenn du beſſer 
unterrichtet wäreft; wenn du in den Berhältniffen desjenigen 
ſtaͤndeſt, der zu ſolchem Betragen genöthigt iſt. Halte dein Urtheil 
zurück, und ſtelle die Entſcheidung ruhig den kommenden Tagen 
anheim, jo lange deine Verhaͤltniſſe, deine Rechte übrigens un⸗ 
gekränkt bleiben. Es iſt nur ein einziger Geſetzgeber über die 
Herzen der Sterblichen, der kann ſelig machen und verdammen. 
Wer biſt du, der du einen Andern verurtheileſt? 

Herzenskundiger! Allwiſſender! Dir allein gehört das Gericht 
über des Menſchen innern Werth oder Unwerth. Ich erſchrecke 
vor meiner Leichtfertigkeit und Anmaßung! Nie entſchlüpfe meiner 
Zunge wieder ein ſchnöͤdes Urtheil über den Nächſten. Ich will 
nicht verdammen, den Du vielleicht liebſt. Ich will fortan ſcho⸗ 
nend in meinem Urtheil ſein; lieber tauſendmal irren, weil ich 
von meinen Lebensgenoſſen zu gut denke, als das Unglück haben, 
einen Einzigen zu verkennen, weil ich von Allen gleich das Uebelſte 
denke. Erbarmer, ſei Du ſchonungsvoll gegen meine Schuld! 
Amen. ö 


III. 9 


22. 
Die Leidenſchaften. 
Röm. 8, 6—9. 


Der Sinn für's Böſe wohnt in mir! 
Auch wenn ich ſchon, mein Gott, von Dir 
Geheiligt bin, verſucht er mich 
Zur Sündenluſt. Er ſtärket ſich 
Durch Leidenſchaft und Sinnlichkeit, 

Zu thun, was Dein Geſetz verbeut. 


O wie ſo nah iſt unſer Fall, 
Wenn wir, verſuchet überall, 
Von außen durch das eigne Herz 
Durch Liſt, Gewinn, und Furcht und Schmerz, 
Nun kämpfen ſollen! O wie leicht 
Verliert man alle Kraft, und weicht! 


Wer kann mir beiſtehn? — Du allein 
Sollſt meine Hülf' und Stärke ſein. 
Laß meine Schwachheit immer mir 
Vor Augen ſein, daß ich von Dir 
Nie weiche, daß ich ſtandhaft ſei, 
Dir bis zum letzten Seufzer treu. 


Iſt der Menſch wirklich von Natur böfe und verderbt? — 
Es gibt Viele, welche dieſe Frage bejahen, wenn ſie an die 
beſtändige Neigung der Sterblichen zu allem Verbotenen, und 
ſelbſt an das Widerſtreben der kleinſten Kinder gegen die Gebote 
der guten Aeltern denken. Es gibt Viele, welche die Frage ver— 
neinen, wenn ſie an die Unſchuld der Kinder denken, von denen 
Jeſus doch ſelbſt ſagt, daß, wer nicht wird wie ſie, niemals ins 
Himmelreich eingehen werde; oder wenn ſie an Gottes Heiligkeit 
und Güte denken, mit welcher es nicht übereinſtimmt, daß ſie den 
Menſchen zur Sünde erſchaffen habe und zum fortwährenden 
Blende. i 

Die Frage über das natürliche Verderben der Menſchen hat 
vielerlei Streitigkeit und Sektirerei in der Chriſtenheit verurſacht; 
jo wie die Menſchen überhaupt ſich von jeher am haufigſten über 
das ſtritten, was am wenigſten zu ergründen war, oder woraus 
am wenigſten Heil entſprang. Theils die Lehrgebäude heidniſcher 
Weltweisheit im früheſten Alterthum, theils einzelne Stellen der 


— 195 — 


heiligen Schrift, welche von Bibelleſern und Bibelauslegern nicht 
recht verſtanden werden konnten, weil fie nicht mit der Ordnung 
und Bezeichnung gewiſſer Vorſtellungen damaliger Zeiten recht 
bekannt waren, gaben zu jenen Unterſuchungen vorzüglichen 
Anlaß. Allein die Erfahrung hat erwieſen, daß dieſe Spitzfindig⸗ 
keiten zuletzt wenig Heil brachten; daß die Menſchen durch das 
Hin⸗ und Herwälzen ſolcher Streitfragen um nichts beſſer wur⸗ 
den, daß hingegen Chriſtum lieb haben, das heißt, das Halten 
und Erfüllen ſeiner Gebote, beſſer ſei, denn alles Wiſſen. 

Auch weiß ich ja, Jeſus, der göttliche Stifter unſers heiligen 
Glaubens, hat niemals auf ſolche Dinge des Zweifelns und For— 
ſchens einen hohen Werth geſetzt. Nur ſeine Apoſtel, und beſon— 
ders der gelehrte Paulus, waren zuweilen genöthigt, umſtändlicher 
über ſolche Streitfragen zu reden, und ſogar im Geiſte der heid— 
niſchen und jüdiſchen Gelehrten und Schriftgelehrten zu ſprechen, 
um von ihnen verſtanden zu werden, um fie auf die ihnen eigen- 
thümliche Art zum Glauben an die Lehre Jeſu zu bewegen. Ich 
bin Allen allerlei worden, ſchrieb daher der Apoſtel Paulus, 
auf daß ich Viele gewänne, Viele zu Jeſu brächte! 

Was ich an mir ſeit meinen Jugendtagen, und was ich au 
andern Kindern beobachtet habe, iſt: daß kein Menſch, er gehöre 

zu welcher Religion, zu welchem Lande, zu welchem Volke er 
wolle, fo ganz verderbt ſei, daß er nicht feine Fahigkeiten und 
Neigungen zum Guten hätte. Eben fo bezeugt es mir die alltäg- 
liche Erfahrung: daß kein Menſch, ſelbſt in den Tagen der un- 
ſchuldigen Kindheit, jo ganz gut ſei, daß er nicht auch Fähig⸗ 
keiten und Neigungen zum Böſen hätte. 

Schon dieſe Erfahrung, welche Jedermann an ſich und An⸗ 
dern zu machen Gelegenheit hat, beweiſet: daß diejenigen eben ſo 
ſehr irren, welche behaupten, der Menſch wäre von Natur gut, 
als diejenigen irren, welche darzuthun vermeinen, der Menſch 
wäre von Natur verderbt und böfe, und der ewigen Strafe würdig. 
Behauptungen dieſer Art ſind jedesmal Beweiſe entweder eines 
ſtolzen Eigenſinnes, welcher ſeine vorgefaßten Meinungen bis 
aufs Aeußerſte vertheidigen möchte, oder einer ſehr dürftigen 
Menſchenkenntniß und Erfahrung. 


— 196 — 


Ja, der Menſch, wie er von Gott erſchaffen ward, iſt eben 
ſo fähig zum Böſen, als zum Guten. Ihm winkt die Sünde, 
ihm winkt die Tugend. — Gott gab ihm des Willens Freiheit 
und den innern Richter, das er prüfe und das Gute wähle. Ohne 
Kraft zum Fehlen iſt auch keine Kraft zum Rechtthun; ohne An⸗ 
laß zur Tugend iſt auch kein Anlaß zur Sünde. Der Dieb im 
Kerker, ohne Gelegenheit und Möglichkeit, feine Lieblingsſünde 
zu üben, iſt darum nicht heilig, weil er nicht mehr ſtiehlt. 

Dies lehrt ſchon in der Urgeſchichte des menſchlichen Ge⸗ 
ſchlechts die Erzählung vom Schickſale der erſten Sterblichen. 
Gott hatte fie rein und ſündenlos erſchaffen, aber mit Fähigkeiten 
zum Guten und Böſen. Gott ſelbſt gab zur Erweckung Beider 
Auläſſe. Ohne irgend ein Verbot im Paradieſe war keine Ueber⸗ 
tretung des Verbotes gedenkbar. Die Unterſagung vom Genuſſe 
der Frucht am Baume der Erkenntniß prüfte den Willen der 
Neuerſchaffenen. Hier entwickelte ſich der Reiz ſinnlicher Gelüſte, 
und dort ſtand der ernſte göttliche Befehl, jedes Gelüſt zum Ver⸗ 
botenen zu bekämpfen. Aber überwältigt von der Lockung zum 
Böſen, fiel der Menſch: und ſo kam die Sünde und mit ihr das 
aus derſelben hervorgehende Verderben in die Welt. 

Die Fähigkeiten zur Tugend, wie zum Laſter, entſpringen 
aber aus der doppelten Natur, welche Gott dem Menſchen gab, 
der fleiſchlichen und der geiſtigen. Hätten wir keinen irdiſchen 
Körper für unſere Seele zur Wohnung erhalten: ſo würde unſer 
Geiſt gleichſam nur Engel fein, unfähig zur Sünde, aber auch 
unfaͤhig zur Tugend. Denn Tugend entſteht erſt durch den Kampf 
und Sieg über das Böſe. Hätten wir keine vernünftige Seele 
empfangen, ſo waͤren wir nur Thiere des Feldes, ohne Fähigkeit 
höherer Tugend, aber auch ohne Fahigkeit zur Sünde. Denn 
Sünde entſteht erſt durch das Widerſtreben gegen Gewiſſen und 
Ueberzeugung des Beſſern. 

Was an uns fleiſchlich iſt, oder irdiſch, das zieht uns unauf⸗ 
hörlich zum Genuß der irdiſchen Luſt, die nur durch den Leib 
empfunden wird. Was an uns Geift iſt, das ſtrebt zum Heiligen 
und Göttlichen hinauf, und ſehnt ſich nach dem Ewigen, weil es 
ihm verwandt iſt. 


Darum ſagt Paulus: Fleiſchlich gefinnt fein, iſt der Tod; 
und geiſtlich geſinnt ſein, iſt Leben und Friede. Denn fleiſchlich 
geſinnt ſein, iſt eine Feindſchaft wider Gott, ſintemal es dem 
Geſetz Gottes nicht unterthan iſt; denn es vermag es auch nicht. 
Die aber fleiſchlich ſind (das heißt, die in ihrer Denkart und 
Lebensbeſchaͤftigung ſich mehr dem Thiere nähern, als dem Engel), 
die mögen Gott nicht gefallen. (Röm. 8, 6 — 8.) 

Die Quelle aller guten Neigungen iſt alſo in unſerm Geiſte; 
die Quelle aller böfen Neigungen iſt in unſerm Fleiſch, das iſt, 


in unſerer Sinnlichkeit. 


Die Sinnlichkeit aber, als das wahrhafte Thieriſche an und in 
uns, ſoll dem Geiſte unterthan ſein; ſo wie der Himmel die Erde, 
und wie der Gedanke den Leib und ſeine Bewegungen regiert. 
Iſt aber der Geiſt ein Unterthan des Leibes und der Begierden 
thieriſcher Art, je hat er feinen göttlichen Urſprung verläugnet, 
fo hat er den erhabenern Beſtimmungen iu einer unſterblichen 
Fortdauer entſagt: er iſt Sünder. 

Was iſt Sinnlichkeit? Es iſt die Neigung zu Allem, was 
uns angenehme Empfindungen durch die Sinne erzeugt. Das 
Wohlgefallen an äußern Ehrenbezeugungen, an Reichthum und 
Lebensbequemlichkeiten, an Geſchlechtsluſt und Wohlleben, an 


Speiſen und Getränken, welche den Gaumen kitzeln, an Thätig- 


keit und Ruhe, an Glanz und Schönheit, iſt Wirkung äußerer 
Eindrücke auf meine Sinne, iſt folglich Sinnlichkeit. 

Was aber ſinnlich iſt, das iſt darum nicht zugleich ſünd⸗ 
lich, wie es oft aus Unwiſſenheit gedeutet werden mag. Denn 
der göttliche Vater verlieh mir die Sinne, daß ich durch dieſelben 
die Aumuth feiner Schöpfung empfinden, und durch weiſen Ge- 
nuß feiner irdiſchen Gaben meine Glückſeligkeit auf Erden vor- 
mehren ſoll. Sündlich wird ein ſolcher Genuß erſt, wenn ich 
darüber Höhere Pflichten vernachläſſige. 

Der tugendhafte Weiſe achtet keine Art des ſinnlichen Ver⸗ 
gnügens unter feiner Würde; denn er weiß, daß daſſelbe aller- 


dings ſehr gut vereinbar iſt mit den Forderungen des heiligſten 


Weſens an unſer Herz, und vereinbar mit der gegenwärtigen und 
zukünftigen Beſtimmung der Sterblichen. Aber er weiß auch 


— 198 — 


immer die ſinnlichen Neigungen zu befchränfen zur Mäßigkeit; 
weiß ſelbſt durch die Kraft ſeines Geiſtes die ſinnlichen Genüſſe 
und Empfindungen zu verfeinern, zu veredeln, daß er ſich in den⸗ 
ſelben weit vom Thier entfernt. Selbſt der erhabenſte der Weiſen, 
Jeſus, verſchmähte keineswegs den Werth ſinnlichen Vergnü⸗ 
gens. Er nahm Theil an den Freuden der Sterblichen, und ſeine 
Jünger riefen, wie er, ihren Freunden zu: Freuet euch mit den 
Fröhlichen! 

Sobald aber die aus der Sinnlichkeit hervorgehenden Be⸗ 
gierden und Wünſche mächtiger werden, als unſere Kraft zum 
Guten; ſobald ſie die Gewalt des Geiſtes in uns beſchränken, daß 
er ihr Sklave wird: eben ſo bald iſt in uns das rechte, zur Glück⸗ 
ſeligkeit erforderliche Verhaͤltniß aufgehoben; das Weſen des Men⸗ 
ſchen wird dadurch zerſtört; ſein Höchſtes wird in ihm zum Nie⸗ 
drigſten, und das Niedrigſte, das Vergängliche wird fein höchſtes 
Gut. So verkehrt er die heilige Ordnung der Natur, aber er 
verletzt ſie nie ungeſtraft. Er iſt Sünder. 

Auch der Tugendhafte hat keine Urſache, den Genuß wohl⸗ 
ſchmeckender Speiſen oder die erheiternde Kraft des Weins zu 
verſchmähen. Nicht darin beſteht der Wille Gottes und die Hei— 
ligkeit des Menſchen, daß dieſer den Freuden des Lebens, die 
der himmliſche Vater verlieh, abſchwöre: ſondern daß er Theil 
an denſelben nehme, zur Vermehrung einer Glückſeligkeit, zu 
welcher ihn der gütige Schöpfer berufen hat; hingegen immerdar 
mit Mäßiggung genieße, daß ſein Körper durch jeglichen Genuß 
nur zum Beſten des Geiſtes geftärft, und der Geiſt in feiner Frei— 
heit und Herrſchaft über ſinnliche Triebe nie beſchränkt werde. 

Wenn aber jenes Vergnügen am Reiz lieblicher Speiſen und 
Octcänke zur heftigen, anhaltenden, alle beſſere Empfindung unter- 
drückenden Begierde ausartet; wenn der Hang zur Schlemmerei 
und Böllerei die Gebote der Maͤßigkeit, ver Sparſamkeit verſpot⸗ 
tet, und ſo herrſchend wird, daß auch die heiligſten Pflichten für 
Geſundheit, Berufsgeſchaͤfte, Sorge um die Seinigen, Sorge 
um die Nothleidenden darüber zu Grunde gehen, dann iſt die 
Sinnlichkeit Meiſterin; Pflicht, Gewiſſen, Vernunft und Tu- 
gend leiden. (Gal. 5, 16. 17.) 


— 19 — 


Leidenſchaft wird daher jede ſinnliche Begierde genannt, 
durch deren ungeſtüme Herrſchaft alle beſſern Ueberzeugungen 
vernichtet und kraftlos werden. Sie iſt eine Unterjocherin der 
Vernunft, eine Zerſtörerin des göttlichen Heiligthums in unſerer 
Bruſt; die Quelle aller Verbrechen, die je auf Erden verübt 
wurden. Sie beraubt den Menſchen ſeiner Beſonnenheit, ſeiner 
edlern Kräfte, und erwürgt mit ſeiner Tugend oft das Leben. 

Sehet den entnervten Wollüſtling, wie er dahin ſchwankt, 
bleich und verblüht, mit vergiftetem Blut in den Adern, mit dem 
feigen Schrecken in der Bruſt. Er kennt die Urſachen ſeines un⸗ 
verhinderlichen Unterganges; er zaͤhlt die Tage von heute bis zu 
feiner äußerſten Entkräftung und Auflöſung. Oft umwehen ihn 
ſchon die Schauer des Todes. Seine Lebensluſt ſträubt ſich gegen 
das nahende Grab. Er kennt, er verflucht feine Moͤrderin, die 
Sünde geiler Luft. Seine Vernunft ruft: rette dich! Sein Ge- 
wiſſen warnt. Umſonſt. Allmächtig iſt die viehiſche Begierde in 
ihm geworden; feine wüthende, unerfättliche Leidenſchaft ver⸗ 
ſpottet ihm Ehre, Schande, guten Namen, Fluch der Aeltern, 
Abſcheu der Edeln. Er ſieht nichts, als die ekelhaften Ziele ſeiner 
wollüſtigen Gier. Er taumelt kraftlos von Schmach zu Schmach, 
von Vergehen zu Vergehen. Ihn warnen die Thraͤnen feiner 
Lieben, ihn warnt der heilige Ruf der Religion — er möchte 
beſſer ſein, möchte nach dem Himmel ſtreben. Umſonſt, ſeine 
Leidenſchaft zerrt ihn hinab zum Abgrunde; verlöfcht feines Le- 
bens matte Flamme und liefert die fleckenvolle Seele an die rich- 
tende Ewigkeit aus. 

Seht den Trunkenbold! deſſen zerrüttete Geſundheit ihn mit 
plötzlichem Tode bedroht! Ach, er iſt elend; denn wie ein Sklave 
geht er an der Feſſel feiner Leidenſchaft, und kann ſich nicht los⸗ 
reißen, und ſie ſchleppt ihn, zur Schmach der Welt, zum ſchmer⸗ 
zenvollen Krankenlager, zum frühen Grabe, zum furchtbaren 
Gericht! Tauſendmal bereut er ſeine Schande, tauſendmal beweint 
er ſeine Schwachheit. Aber immer ſchlägt die Verſuchungsſtunde 
wieder, und er kann ſeiner Leidenſchaft nicht widerſtreben. Sein 
Hausweſen geräth in Verfall. Mit der Schande naht die Ar- 
muth. Weib und Kinder, Blutsverwandte und Freunde, die es 


ig 


redlich meinen, ſtrecken flehend ihre Arme zu ihm empor: Be⸗ 
kaͤmpfe dich, entſage deinem Laſter! fliehe die Trunkenheit! — 
Umſonſt! Er kann nicht mehr leben, ohne den größten Theil ſei⸗ 
nes Lebens in die Vernunftloſigkeit eines Thieres zu verſenken. 
Er iſt verloren; er weiß es, er fühlt es mit Schmerzen. Aber die 
Sünde umklammert ihn zu feſt. Sie ſtürzt ſich mit ihm in den 
hölliſchen Abgrund. 

Dies iſt das Schickſal jedes Unglücklichen, der ſeine ſinnlichen 
Neigungen zur Leidenſchaft hat erwachſen laſſen, die ihn zuletzt 
unbezwingbar beherrſcht. Dies das Schickſal des Ehrſüchtigen, 
der eine Welt verwüſtet, Glück und Ruhe ſeiner Tage einem Hirn⸗ 
geſpinnſt opfert, welches immer fern von ihm bleibt und mit 
Thränen und Flüchen ihm lohnt. Das iſt das Schickſal des Spie⸗ 
lers, des neidiſchen Schadenfrohen, des Verſchwenders, des Gei⸗ 
zigen, des Diebes und des Jaͤhzornigen. Alle ſind gleich elend, 
alle gleich beklagenswürdig. 

Wer hat nicht ſchon die furchtbare Macht der Leidenſchaften 
empfunden? Wer zittert nicht vor ihrer Gewalt, die unbemerkt 
unter angenehmen Empfindungen aufkeimt, erwächſt und zuletzt 
allverwüſtend unſere beſſern Gefühle erſtickt, und die letzte unſerer 
guten Eigenſchaften tödtet, wenn wir ihr nicht mit männlicher 
Kraft zur rechten Zeit begegnen, und Religion und Vernunft in 
urſprünglicher Hoheit zu bewahren wiſſen. 

Woher aber entſtehen die Leidenſchaften im Menſchen? Zeiget 
mir den Keim dieſes Unkrauts, und ich kann es mit geringer 
Mühe vernichten; iſt es einmal erwachſen, dann vernichtet es mit 
ſeinem giftigen Schatten die Kraft meines Lebens. 

Leidenſchaften entſtehen zum Theil ſchon durch eigenthümliche 
Beſchaffenheit unſers Körpers, durch krankhafte Zuſtände deſſel⸗ 
ben, ohne daß wir eigentliche Krankheiten an ihm wahrnehmen; 
durch allzugroße Reizbarkeit unſerer Nerven und dergleichen mehr. 

Wir wiſſen, daß die innere Beſchaffenheit des menſchlichen 
Leibes großen Einfluß auf unſere Art zu empfinden und zu 
denken hat. Daß wir zu einer Zeit etwas angenehm finden, was 
uns in andern Zeiten zuwider iſt; daß wir zu einer Zeit Alles 
heiterer anſehen, zu anderer Zeit Alles in duͤſtexer Geſtalt er- 


— 201 — 


blicken: iſt nicht jo oft Folge unſerer Grundſaͤtze, als Folge un⸗ 
ſers körperlichen Wohl⸗ oder Uebelbefindens. Daher hat jeder 
nach ſeinem Temperament, das heißt, nach der eigenthümlichen 
Reizbarkeit feiner Nerven, auch beſondere Fehler, die man im ge— 
meinen Leben mit dem Namen der Temperamentsfehler zu bezeich- 
nen, oft zu entſchuldigen ſucht. Dadurch iſt der Eine mehr zum 
freundlichen Wohlwollen und Mitleiden, der Andere mehr zum 
Zorn, der Eine mehr zur Lebhaftigkeit in allen feinen Unter— 
nehmungen, der Andere mehr zur Bedächtlichkeit geneigt. 

Dieſe beſondern, durch den Körperzuſtand bewirkten Stim— 
mungen der Seele erzeugen daher nicht nur eine große Verſchie— 
denheit der Meinungen und Urtheile im gewöhnlichen Leben, ſon— 
dern auch ſehr verſchiedene Neigungen und Denkarten. Dergleichen 
aus der Beſchaffenheit des Leibes erzeugte Neigungen werden 
gewöhnlich bald Lieblingsneigungen der Menſchen. Man gibt ſich 
kaum die Mühe, ſie zu bekämpfen, weil ſie lange ganz unſchädlich 
und unſchuldig erſcheinen. Aber mit den wachſenden Jahren er— 
wachſen auch dieſe Neigungen allmälig zu größerer Stärke. Wer 
ſonſt nur eine leichte Neigung zur Fröhlichkeit und zu den An— 
nehmlichkeiten des geſelligen Lebens hatte, empfindet endlich ent- 
ſchiedenen Hang zu Zerſtreuungen und Luſtbarkeiten. Allein auch 
dieſer Hang hat noch keine furchtbare Seite; ſelten, aber doch zu— 
weilen ſchon, verleitet er zu kleinen Pflichtvergeſſenheiten, zur Ver⸗ 
ſchwendung einer edeln Zeit, zur Vernachläßigung edler Berufs- 
geſchäfte. Anfangs warnt wohl der innere Richter, oder ſchreckt 
ein Unfall. Doch verzeiht man ſich gar leicht unter allerlei Vor— 
wänden den Fehler. Man findet wohl gar Lobredner unſerer 
Freigebigkeit, wo wir nur Verſchwender, unſerer fröhlichen Laune, 
wo wir nur Zerſtreuungsluſtige waren; nennt Liebe zur Geſellig⸗ 
keit, wo wir Pflichten gegen Beruf, Ehre und Religion verletzten. 
Dieſer Beifall, ohne daß wir den Werth deſſelben prüfen, be- 
ſtärkt uns im Hange zum Wohlleben und Glänzen. Die ſtete 
Befriedigung deſſelben macht ihn uns zur andern Natur. Bald 
iſt es für uns das Wichtigſte in der Welt. Wir ſind nicht mehr 
glücklich, wenn wir nicht mehr in fortdauernden Luſtbarkeiten 
wohnen können. Unſere kleine Eitelkeit wird zur Gefallſucht, 


— 202 — 


unſere geſellſchaftlichen Freuden werden zur Zerſtreuungsſucht; 
die Leidenſchaft ſteht in ihrer vollen Größe da. Wir ſind ihrer nicht 
mehr Herr. Vermögen, Anſehen, guter Name werden ihr Opfer. 

So ſind unſere ſogenannten Temperamentsfehler gewöhnlich 
die Quelle unſerer wüthendſten Leidenſchaften; und wodurch das 
Kind zu Unarten und Uebereilungen verführt wird, das macht 
ſpäterhin den Mann und das Weib zum Verbrecher, zur Ver⸗ 
brecherin. 

Doch nicht die körperliche Stimmung allein erzeugt in uns 
Leidenſchaften — auch die Gewohnheit. Es gibt Menſchen, 
die zuletzt Vermögen, Ehre, Ruhe und Leben fahren ließen, um 
einen Genuß zu haben, der ihnen in frühern Jahren ſehr gleich⸗ 
gültig, wohl gar widerlich ſein konnte. Aber was ſie Anfangs 
nur mit einer Art Zwang thaten, geſchah ſpäter aus Gewohnheit, 
und ſogar mit einigem Vergnügen, zuletzt aus Bedürfniß, dem 
ſie nicht mehr widerſtehen konnten. Wie mancher Räuber endete 
ſchauderhaft ſein gräuelvolles Leben auf dem Blutgerüſte, weil 
Diebſtahl und Rauben ihm zur Leidenſchaft geworden, daß ſie 
nicht mehr auszurotten war, während er bekennt, daß die verruchte 
Hand feiner Aeltern und Laſtergefaͤhrten ihn zum Entwenden bei 
erſter Gelegenheit wider ſeinen Willen gezwungen hatte! 

Die Macht der Gewohnheit iſt unbeſchreiblich groß. Sie ver- 
wandelt gleichſam die Natur unſers Körpers, und durch ihn die 
Natur unſerer Seele. Sie macht beide zu willenloſen Werkzeugen, 
die ſich nach den einmal angenommenen Neigungen bewegen. 

Ich zeigte dir den Keim des giftigen Unkrauts, der Leiden⸗ 
ſchaft — zertritt ihn, ehe er gewaltig über dich hinwaͤchſt, und 
dich mit feinem ungeſunden Schatten betäubt und tödtet! — Am 
eifrigſten vor allen bekämpfe die kleinen Fehler, die eine 
Folge deiner körperlichen Stimmung, deines Tempera— 
ments zu ſein ſcheinen; — mache dir die Befriedigung 
keines Hanges, keiner Neigung, ſo angenehm auch die 
Empfindungen fein mögen, die fie gewährt, in dir zum 
Bedürfniß, zur Gewohnheit! — Siehe, in dieſen wenigen 
Worten liegt der Weg zur Vollkommenheit, zur Herrſchaft über 
dich ſelbſt, zur Chriſtusähnlichkeit angedeutet. 


u 


Allwiſſender, o Herzenskundiger, habe ich, der nach dem 
ewigen Heile ringt, dieſen Weg ergriffen? Ich will dieſe ernſten 
Worte leſen und wieder leſen: keinen Lieblingsfehler, kein Ge- 
wohnheitsbedürfniß! — Ich will meine Empfindungen und 
Thaten und Reden jeden Tag richten! — Wehe, ich fürchte, ich 
bin nicht rein! Ein unſchuldiges Vergnügen ſcheint vor mir unter 
Roſen zu tändeln, aber die Leidenſchaft und das Verbrechen 
lauern verborgen dahinter, um mich zu fangen und zu verderben. 

Stärke mich, mein Gott, durch die Macht Deines heiligen 
Geiſtes, daß mein Gemüth niemals die Wohnung einer betäuben- 
den Leidenſchaft werde! 


23. 


Die Wohlthaten der Einſamkeit. 


Matth. 14, 23. 


Wie freut' ich mich in ſtillen Stunden! 
Da hab' ich mich, da Gott gefunden, 
Und was mir im Geräufch der Welt verſchwand. 
Da heilete der Glaube meine Wunden: 
Da konnt' ich von der Leidenſchaft gefunden, 
Da kehrt' ich heim zu meines Vaters Hand. 


Seid mir gegrüßt, ihr heil'gen Einſamkeiten: 
Ihr könnet mir der Seele Ruh' bereiten, 
Die ich im Sturm der Welt verlor. 
Entſchleiert mir des Lebens Eitelkeiten, 
Und leitet mich zu jenen Seligkeiten, 
Die nur Religion gewährt, empor. 


„Man lebt nur einmal auf Erden; darum will ich des Lebens 
recht genießen. Warum ſollte ich mir eine Freude verſagen, von 
der ich nicht weiß, ob ich fie morgen noch haben kann? Die Ju⸗ 


gend iſt jo flüchtig, die Sorgen und Gebrechen des Alters kommen 


von ſelbſt, darum will ich in der Jugend recht froh werden!“ 
So entſchuldigen alle Stände, alle Alter, alle Geſchlechter 
ihren faſt unerſättlichen Durſt nach Vergnügungen. Man ſcheint 
faſt keine andere Seligkeit auf Erden zu kennen, als die man in 
Zerſtreuungen findet, oder im glücklichen Ringen und Arbeiten 


2 1 


nach Gewinn und Anſehen. Man ſucht in ſein Leben, in feinen 
Genuß die größte Mannigfaltigkeit zu bringen. Man will keine 
Stunde ohne Unterhaltung. Man ſtürzt ſich fröhlich in den 
Wirbel von Geſchäften, Sorgen, Mühen und Erheiterungen, 
und glaubt ſich dann am wohlſten zu befinden, wenn man die 
angenehme Klage führt: Ich kann kaum zu mir ſelber kommen! 

Dieſe Sucht nach Thätigkeit, nach Vielleben, iſt ein be⸗ 
ſonderer Zug in der Gemüthsart vieler Sterblichen, und hat auf 
die Schickſale der Menſchen und Völker, und auf den Zuſtand 
der bürgerlichen Ordnungen und auf den Gang der öffentlichen 
Angelegenheiten einen großen Einfluß. — Dies unaufhörliche 
Mitwirken im Getümmel der Welt, in den Abwechſelungen des 
Lebens, gibt unſerer Denkart jene Abgeſchliffenheit und Rundung, 
aber auch jene Unzuverläſſigkeit und Schwäche, welche gegen- 
wärtig ſo allgemein geworden iſt. Es fehlt nicht an Perſonen mit 
heftigen, Alles zerſtörenden Leidenſchaften; aber Menſchen, die 
in einem ruhigen Gemüthe einen großen, eiſernen Willen, einen 
für das Beſte der Welt Alles aufopfernden Muth neben reifer 
Ueberlegung bewahren, — Menſchen, wie ſie uns in den Tagen 
des Alterthums jo oft erſcheinen; Menſchen, die durch ihre Ent- 
ſchloſſenheit und Seelengröße unſere ganze Ehrfurcht erwecken, — 
ſolche ſind heutiges Tages eine außerordentliche Seltenheit ge- 
worden. 

Die Haupturſache davon iſt unſtreitig die herrſchende Zer- 
ſtreuungsſucht, durch welche der Menſch, weil er ſelten ganz zur 
Beſinnung und Ueberlegung kommt, mehr ein Geſchöpf der Um⸗ 
ſtände, als eine Frucht ſeiner eigenen Ueberzeugung und ſeines 
beſonnenen Willens wird. 

Der Weiſe ſoll es nicht ſein — der Chriſt nicht! — Dieſer 
muß zuweilen, er muß oft vom Rauſche geneſen, mit welchem 
ihn die Gefchäfte und Zerſtreuungen betäuben. Er muß, wenn 
er das Höchfte. menſchlicher Glückſeligkeit ſchmecken will, ſich 
niemals ſich ſelbſt rauben laſſen. Er muß niemals aufhören, 
ſich ſelber anzugehören. Er ſoll ſeine innere Selbſtſtändig⸗ 
keit beſchützen. 

Und dies zu können, gibt es nur ein einziges, aber mächtig 


— 205 — 


wirkendes Mittel — dies iſt die Einſamkeit! — Er muß ſich 
zuweilen, er muß ſich oft dem Strome der Sorgen und der Zer⸗ 
ſtreuung entreißen, und mit ſich allein ſein können. Nur in der 
Einſamkeit, wo gleichſam die ganze Welt von ihm abfällt, ge⸗ 
hört er ſich ſelbſt an, lebt er in ſich und für ſich. Nur in der 
Einſamkeit ſteht er, wie vom großen Schauplatz abgetreten, als 
Zuſchauer des Getümmels, in welchem er mitwirkt; nur von da 
aus betrachtet er ruhiger jenes Getümmel und dann ſich ſelbſt; 
beurtheilt ſeine Rolle in demſelben, und antwortet unbefangener 
auf die natürliche Frage: Was kommt dabei heraus? 

Die Welt hat keinen großen Mann, kein erhabenes, edles 
Weib hervorgebracht, welche nicht durch die Einſamkeit gleichſam 
erzogen, und zu ihrem hohen und ehrwürdigen Beruf eingeweiht 
und vorbereitet worden ſind. Es iſt kein Chriſt in ſeiner Religion 
ſtark und in feinem. chriftlichen Lebenswandel ausgezeichnet vor⸗ 
trefflich geworden, der nicht in der Abgeſchiedenheit oft Be⸗ 
trachtungen ſeiner ſelbſt halten konnte. — Selbſt Jeſus Chriſtus, 
der Götttiche, wie oft entriß er ſich plötzlich dem Gewühl der 
Menſchen, um die Einſamkeit zu ſuchen, und da ſich ſelbſt an- 
zugehören!. 

Der Hang zur Einſamkeit iſt im Menſchen natürlich; ſelbſt 
Kinder zeigen ihn ſchon in den Jahren, wo man an mancherlei 
Zerſtreuungen das lebhafteſte Vergnügen zu finden gewohnt iſt. 
Dieſer Hang iſt nichts Anderes, als eine Sehnſucht der Seele, 
ſich einmal ſelbſt wiederzufinden; die Freude, mit ſich ſelbſt und 
keinem fremdem Weſen in Geſellſchaft zu ſein. Es iſt eine Sehn⸗ 
ſucht nach Ruhe, nach Herſtellung des wohlthätigen Gefühls von 
Frieden, der im Gedränge des Lebens leicht verſchwindet; es iſt 
eine Sehnſucht nach einer Erholung von äußern Erſchütterungen; 
ein Streben, unſer ganzes Weſen, das durch die Berührung mit 
der Welt überreizt wird, ausruhen zu laſſen. Einſamkeit iſt für 
das müde, vielbewegte Herz eine ſtärkende Erquickung, wie es 
der Schlaf für den ermatteten Körper iſt. 

Wenn du dich einmal dem gewöhnlichen Treiben und Draͤngen 
des alltäglichen Lebens entziehſt, wenn irgend ein Zufall dich auf 
mehrere Stunden gleichſam von der Welt abſchneidet, wie ganz 


— 206 — 


anders wird es dir in der feierlichen Stunde des Allein 
ſeins! Wie werden deine Gedanken größer und tiefwirkender! 
Wie in ganz anderm Lichte erblickſt du da die Welt und dich ſelbſt, 
weil alle deine Leidenſchaften ruhen, und den Blick in die Zukunft 
nicht verdunkeln! Wie oft haft du da nicht gefühlt das Verächt⸗ 
liche und Kleinliche in dem Zwiſt und Hader der Menſchen unter 
einander; wie oft, wenn du da dein eigenes Betragen beurtheilteſt, 
haſt du dir wegen deines Mangels an Beſonnenheit, Edelmuth 
und chriſtlicher Seelengröße Vorwürfe gemacht! Wie edle Ent⸗ 
ſchlüſſe haſt du nicht oft aus den ſtillen Ueberlegungen in der 
Einſamkeit gewonnen! Ach, daß du ſie wieder im Sturme des 
Lebens, zu dem du zurückkehren mußteſt, dir entreißen ließeſt, 
war nur Schuld, weil du dich ſcheuteſt, wieder bald zur ruhigen 
Beſonnenheit und zur Einſamkeit zurückzukehren. N 
Wenn dich, getrennt von Menſchen, irgend einmal die dunkle 
Einöde der Nacht überraſchte und zu ernſten Betrachtungen deines 
Lebens einlud; — oder wenn du, entfernt von dem alltäglichen 
Gewühl des Stadt- und Dorflebens, auf abgeſchiedenen Spazier⸗ 
gängen einſam wandelteſt, und die einförmige Schönheit der 
Natur und die Stille, welche in ihr wohnt, in deine Bruſt ſich 
ſenkte; — oder wenn du in der ruhigen Einöde eines Gebirges 
emporſtiegeſt über das Getümmel der Sterblichen, über ihre 
Nahrungsſorgen und Begierden, und dein Herz ſich gleichſam 
dem Himmel näher fühlte, als der Erde; — oder wenn du in 
der grünen Dämmerung eines Waldes ruhteſt, wo rings umher 
Alles ſchwieg, und Alles dich zur Betrachtung deiner ſelbſt zu 
führen ſchien, und nichts dich ſtören wollte: wie ward dir da? 
Erinnerſt du dich noch des erſten angenehmen Schauders, der 
dich in der Abgeſchiedenheit durchzitterte? — des wollüſtigen 
Friedens, in welchem deine Seele wohnte? — der Wünſche, 
ewig ſolcher ruhigen, menſchenfreundlichen, wohlwollenden 
Stimmung genießen zu können? War dir nicht in ſolchen heiligen 
Augenblicken, da mit den Menſchen auch alle bittern Erinnerun⸗ 
gen, alle Leidenſchaft von dir entfernt war, du ſeieſt plotzlich ein 
beſſeres Weſen geworden? — Siehe, das war der Zauber der 
Einſamkeit! 


| 
| 
| 
| 


| 
r 
j 


= Be 


Warum erneuerteſt du dieſe Gefühle nicht öfter in dir? 
Warum vergaßeſt du die Einſamkeit aufzuſuchen, die dich ſo 
glücklich, die dich edler und kraͤftiger machen konnte? — Auch 
Jeſus Chriſtus, von des Lebens Noth und Mühe bedrängt, 
ſuchte im Schooſe ruhiger Abgeſchiedenheit neue Kräfte, neuen 
Muth. N 

Es iſt damit nicht geſagt, daß des Menſchen Hauptziel ſein 
ſolle, ſich von der Welt abzuſondern, und ſeine Tage ſo einſam 
als möglich zuzubringen. Nein, Gott ſchuf uns für dieſe Welt, 
darum ſollen wir mit ihr, in ihr leben. Gott gab uns den Trieb 
und die Pflicht zur Geſelligkeit, darum ſollen wir die Geſellſchaft 
nicht meiden. Nur im Gewühl des Lebens kann ſich unſere 
Tugend in ihrer ganzen Kraft entwickeln. Der Einſame im 
Kerker, dem alle Gelegenheiten zum Sündigen fehlen, iſt darum 
noch kein Heiliger. Jeſus ſelbſt wohnte unter den Menſchen, 
arbeitete unter ihnen, ſandte ſeine Schüler unter ſie — er wollte 
nicht, daß fie abgelegene Einöbden ſuchen, ſondern daß fie unter 
den Sterblichen leben und Gutes wirken ſollten. 

Eine beſtändige Abgeſchiedenheit von der menſchlichen Ge— 
ſellſchaft macht den Menſchen zu einem unnützen Gliede der Ge— 
ſellſchaft, — macht ihn einſeitig im Urtheil über die Handlungen 
der Sterblichen; — macht ihn aus Mangel gemeinnütziger Be⸗ 
ſchäftigung oft zum traͤumeriſchen Schwärmer; wenigſtens ent⸗ 
zieht ſie ihm hundert vortreffliche Gelegenheiten, den Willen 
Gottes auf Erden zu vollſtrecken. Er kann ſich freilich rein hal⸗ 
ten von den Irrthümern der Welt; aber er ſinkt dafür in die 


Irrthümer der Einſamkeit. Wie überall, alſo auch hier iſt Ueber⸗ 


treibung ein Fehltritt. 

Wir ſollen die Einſamkeit ſuchen, ohne der Welt 
ganz zu entſagen. Wir ſollen die Einſamkeit ſuchen, damit 
wir für unſer Herz neue Kräfte ſchöpfen, um im bunten Ge⸗ 
wühl und Lärmen des alltäglichen Lebens mit edler Selbſtſtaͤndig⸗ 
keit auszudauern. — Wir ſollen in gefchäftlofen Stunden d 
Einſamkeit ſuchen, um uns wieder zu unſerm beſſern Selbſt 
zurückzufinden, das ſonſt unter Zerſtreuungen, Mühen und 
Arbeiten verloren geht, und uns fremd wird. 


— 208 — 


Die Einſamkeit iſt gleichſam ein Bad der Seele, in welchem 
ſie untertaucht und allen Unrath von ſich abwäſcht, der ihr aus 
dem gemeinen Wirkungsleben anklebt. Sie vergißt, abgeſondert 
von demſelben, was ſie bedrängt, belaſtet. Sie iſt freier. Ihre 
Empfindſamkeit wird durch nichts gereizt; alle ihre Gefühle wer⸗ 
den daher ſanfter. Sie kommt zu ſich ſelbſt, wie in der Ruhe 
nach einem Sturm, oder wie in der Geneſung nach einem Rauſche. 

Wer die Einſamkeit ſucht, um dieſe wohlthätigen Folgen zu 
genießen, muß daher Alles von ſeinen Augen entfernen, was 
ihn an das Gewöhnliche wieder erinnert. Er muß ſich nicht bloß 
in ſeine Kammer verſchließen, ſondern ganz aus dem Kreis ſeines 
Alltagslebens hinaustreten. Er muß nicht ſein Haus, nicht ſeine 
Stadt, nicht ſein Dorf ſehen; — erſt in der vollen Einſamkeit, 
wo ihn nichts mehr aus der gewöhnlichen Welt erreicht und 
berührt, erſt da iſt er frei, erſt da gehört er nur der Gottheit und 
ſich an, erſt da empfindet er die heilſamen Wunder der ſtillen 
Abgeſchiedenheit. 

Daher entſpringt das Vergnügen eines einſamen Spazier⸗ 
ganges, weil, wo wir nichts vom Gewöhnlichen erblicken, ſon⸗ 
dern überall nur die Ruhe der ſchönen Natur und ihre ewige 
Ordnung wahrnehmen, unſer Geiſt gleichſam mit ihr zuſammen⸗ 
ſchmilzt. Daher ſind die meiſten Menſchen ſelbſt ſchon auf Reiſen 
andere Menſchen, ſanfter, freundlicher, duldſamer, edelmüthiger, 
heiterer, als im Haufe. — Suchſt du für dein wundes Herz den 
Balſam der Einſamkeit, ſuche ihn auf einſamen Spaziergängen, 
im Schooſe der ewig ſchönen Natur. Jeſus ſtieg auf einen Berg, 
um allein zu ſein, oder ging in die Gebüſche abgelegener, von 
Menſchen ſelten beſuchter Gärten. Da überließ er ſich den hohen 
Betrachtungen, da der begeiſternden Andacht des Gebets. 

Einſamkeit gewährt uns nicht nur Erquickung nach dem Ge— 
ſchaͤftsgetümmel; ſie heilt uns nicht nur manche Seelenwunde, 
die uns die Welt ſchlug, ſondern fie gibt uns ein unſchaͤtzbares 
Mut, für das Leben — nämlich: Selbſtkenntniß und richtige 
Kenntniß der Welt.“ 

So lange wir im Kampfe mit den alltäglichen Mühſeligkeiten 
ſtehen, oder im Taumel der Zerſtreuungen ſchweben, ſehen wir 


„ 


nur jene Mühſeligkeiten, nur jene Zerſtreuungen, nicht uns 
ſelbſt. Es iſt unmöglich, wir kommen nicht zum vollkommen 
ruhigen Nachdenken. Wir ſchwanken immer im Gedränge! Leid 
und Wolluſt, Furcht und Hoffnung, Haß und Freundſchaft, 
Sorge und Glück hält uns in immerwährender Bewegung, das 
Herz in unaufhörlicher Gährung. Leidenſchaften beſtechen unſer 
Gefühl und unſer Urtheil. Wir werden, ſo lange wir unter den 
Menſchen ſind, zuletzt, ohne daß wir es bemerken, ohne daß wir 
es glauben, ſo ſchwach, ſo kleinlich, ſo fehlervoll, wie die Men⸗ 
ſchen, welche wir verachten. 

Aber wenn die heitere Ruhe der Einſamkeit in unſer Gemüth 
dringt, wenn uns im Schooſe der Abgeſchiedenheit nichts zur 
Freude, nichts zum Zorn reizt — dann erſt erhebt ſich der Geiſt 
zu ſeiner Beſonnenheit; er wird von den Ketten der Welt frei, 
und das Treiben der Menſchen erſcheint ihm anders, als da er 
mitten unter ihnen ſtand. So ſieht der Feldherr, wenn er im 
Gewühl der Schlacht mitſtreitet, von ſeinem eigenen Heere nichts, 
oder wenigſtens nur einen kleinen Theil. Aber er zieht ſich in 
einige Entfernung und Stille zurück; hier erſt überſieht er das 
Ganze des Kampfes; hier bemerkt er erſt die Fehler der feindlichen 
Macht, und die Schwächen ſeines eigenen Heeres; hier erſt kann 
er in erforderlicher Ruhe die beſten Verfügungen anordnen. 

Suche von Zeit zu Zeit die Einſamkeit, und du wirſt 
jedesmal beſſer, ruhiger, kräftiger, entſchloſſener aus 
ihr zu den Menſchen zurückkehrenz du wirſt deine Bekann⸗ 
ten, deine Mitbürger, deine Umſtände, dein Schickſal gleichſam 
aus einem andern Geſichtspunkte ſehen lernen, und du wirſt dein 
eigenes Betragen in der Welt richtiger beurtheilen. 

Einſamkeit erhebt die Kraft unſers Gemüthes. Es 
iſt unmöglich, daß der Menſch, wenn er oft in ſtiller Ueberlegung 
ſich ſelbſt beobachtet, und die Quellen und Folgen feiner Hand⸗ 
lungen ruhig prüft — es iſt unmöglich, daß er nicht beſſere Ent⸗ 
ſchlüſſe faſſen, Geſinnungen ändern, Meinungen berichtigen ſollte. 
Jede aufmerkſame Selbſtbeobachtung, die wir mit unbefangenem 
Sinn anſtellen können, iſt ein Schritt zu unſerer Veredelung. 
Wir verlaſſen ſie nicht ohne einen beſſern, ſtaͤrkern Willen. Wir 


— 210 — 


treten nicht in das Weltgetümmel zurück ohne größere Aufmerk- 
ſamkeit auf uns ſelbſt, ohne angeſtrengtere Vorſicht. Aber jede 
Uebung einer Kraft erhöht die Kraft. 

Indem wir aus der Einſamkeit den Wechſel der Dinge, 
der Unglücksfälle und Glücksfälle, wie aus der Ferne bes 
trachten, wird der Geiſt gefaßter. Er überläßt ſich minder grenzen⸗ 
loſem Schmerz und ausgelaſſener Freude über das, was ihm als 
unabänderliches Naturgeſetz und Gang der Weltordnung erſcheint. 
Ihn reizt hier weniger das Gaukelſpiel der Leidenſchaften, da er 
die Vergänglichkeit deſſen, was Ehre, was Ruhm heißt, wahr⸗ 
nimmt. Viele Widerſprüche löſen ſich vor ſeiner ruhigen Ueber⸗ 
legung auf, und aus der Vernichtung der Tauſchungen erhebt 
ſich ein größeres, freieres Gemüth, das ſich inniger anſchließt an 
das Ewiggute, Ewigwahre, Ewigſchöne — an die dauerhaften 
Freuden der Religion. 

Einſamkeit macht, durch die Empfindungen und Betrach- 
tungen, welche fie einflößt, den Menſchen chriſtlicher, den 
Chriſten göttlicher. Für Augenblicke gleichſam in allen Ver⸗ 
bindungen mit der Welt unterbrochen, ſucht der Einſame nichts 
mehr als ſich ſelbſt, als die Schöpfungen Gottes, als die unend— 
liche Gottheit! — Dies ſind die feierlichſten Augenblicke — es 
ſind die Himmelsſtunden auf Erden! — Ganz neue Gefühle 
erwachen. Der Menſch, herausgeriſſen aus dem Lebensgewühl, 
iſt Niemanden nahe, als Gott. Er ſteht vor Gott, deſſen 
Schöpfung ihn umringt. Ein geheimer Zwang bemaͤchtigt ſich 
der Seele; ſie muß ſich zum Höchſten des Weltalls erheben. Sie 
muß ſeiner gedenken, durch den ſie da iſt, durch den ſie ſein 
wird. Und dieſer Gedanke wird zum Gebet! Und das Gebet in 
der Einſamkeit, das Gebet in der freien Natur, in den Einöden 
des Gebirges, in der Dunkelheit des Waldes, in der ruhigen An⸗ 
muth des Thales, in der freundlichen Stille eines Gartens: wie 
ganz anders iſt dieſes Gebet von dem gewöhnlichen! — So beten 
Engel. Hier iſt freies Gefühl, hier iſt Inbrunſt, hier Demuth 
und die Majeftät Gottes größer. 

O auch ich, auch ich habe dieſe Himmelsſtunden ſchon ge— 
lebt; warum ſollte nicht oft meine Sehnſucht wieder nach ihnen 


— 211 — 


erwachen? — Ja, mein Jeſus, ich will Dir nachfolgen in das 
Schweigen der Einſamkeit, wo Du Deine Werke betrachteteſt und 
die Menfchheit, und dann Dich betend auf den Flügeln der An⸗ 
dacht zu Gott zurückſchwangeſt. Dort will ich mich heiligen, dort 
will ich mich vollenden. — Oft will ich das Geräufch der Welt 
fliehen, um in der Einoͤde mich einer fremden ſchönen Welt an- 
zuvermählen, wo Seelenfrieden und ſtiller Heiterſinn wohnen. 
Dort wird die einförmige Ruhe, das Schweigen der Natur meine 
Leidenſchaften beſänftigen, meine Begierden mildern. — In der 
Welt und ihrem Getümmel ſehe ich nur das kleine, verdorbene 
Trachten der Menſchen, ihr Jauchzen um nichts, ihr Jammern 
um das Unmögliche; ich ſehe nur die Eitelkeit der Dinge. In 
der Einſamkeit aber erblicke ich mich ſelbſt, und Dich, o Gott, 
o Vater! Dich, wie mich, vergaß ich oft unter den nichtigen 
Sorgen und Bemühungen, unter den thörichten Wünſchen und 
Freuden des gewöhnlichen Lebens. Nur wenn ich allein ſtehe, 
finde ich Dich und mich wieder. 


24. 
Die Kunſt, glücklich zu werden. 


1. Tim. 6, 6. 


Du gibſt, daß ich nicht Mangel leide, 
Was nöthig iſt, auch mehr als Brod; 

Gibſt zu Bedürfniß auch noch Freude 
Für einen jeden Sinn, o Gott; 

Wie iſt zum Wechſel im Genuß 

So reich, ſo groß Dein Ueberfluß! 


Drum will ich mäßig im Genuſſe 
Der Gaben Deiner Güte ſein, 

Will gern von meinem Ueberfluſſe 
Auch noch Bedürftige erfreu'n. 

Bei ſo viel Segen, ſo viel Huld, 

Bin ich nicht froh, iſt's meine Schuld. 


Dieſe Erde iſt ein blumenreicher Schauplatz mannigfaltiger 
Freuden; die Hölle wohnt nur in der Bruſt derer, die fie hin⸗ 
einlegen wollen. Durch die Unerſäͤttlichkeit ihrer Wünſche zer- 


— 212 — 


ſtören fie ihre Geiſtesruhe, durch Unmaßigkeit im Genuſſe ihres 
Leibes Geſundheit. Um der Ungeduld willen, mit welcher ſie 
auf die Zukunft, auf Glücksgüter hoffen, die ihnen noch fehlen, 
verlieren ſie die Freude des gegenwärtigen Augenblicks, und den 
Genuß der Güter, die ihnen gehören. 

Aus der ungeſtümen Sehnſucht nach dem Beſſern ſteigen 
die meiſten Leidenſchaften hervor, die uns quälen: die Sorge, 
welche den Geiſt von der Luſt der Gegenwart entfernt; der Geiz, 
welcher ſich aus Angſt für die Zukunft des vorhandenen Glücks 
beraubt; die Verſchwendung, welche nach immer beſſern Genüſſen 
haſcht, und nie Befriedigung findet; die Ehrſucht, welche nicht 
ruhen läßt, und mit gerechter Achtung des Verdienſtes nicht ge⸗ 
ſaͤttigt werden kann; der Neid, welcher Jeden als Räuber eines 
Glückes haßt, das er nicht beſitzt; die Verleumdung, des Neides 
dienſtfertige Schweſter, und ſo das ganze Gefolge von Laſtern 
aller Art. Denn wer auch nur eine Sünde liebt, hat, ohne es 
zu wollen und zu wiſſen, allen die Hand dargeboten. 

Daher der Klagen und der Thränen und Seufzer und Feind⸗ 
ſchaften ſo viele! Daher der Jammer über dieſe Welt, daß ſie 
eine Leidensſchule, ein Ort des Jammers ſei! 

Der Gerechte, der Weiſe, der Chriſt, ſelig in Gott, genüg- 
ſam in dem, was ihm vom himmliſchen Segen zu Theil ward, 
iſt voll ungeſtörten Glückes und Friedens. Er nennt dieſe Welt 
kein Jammerthal, weil er den allgütigen Schöpfer nicht anklagen, 
nicht läſtern will. 

Um durchaus glücklich zu ſein, bedarf man wenig. Jeſus 
Chriſtus, unſere Seligkeit wollend, wies uns den Weg zum 
Glück, ſelbſt ſchon auf Erden genießbar. Warum wollen wir 
ihn nicht verſtehen? Warum weichen wir von ſeiner Hand ab? 
Warum ſtreben wir mit unnatürlichen, vermeſſenen Begierden 
und Lüſten den ewigen Ordnungen der Natur entgegen? 

Wer durch Schwelgerei, Trunkenheit, Wolluſt und andere 
Ausſchweifungen ſeine Geſundheit zerrüttet: warum klagt er über 
die Welt, ſtatt feine eigene Thorheit anzuklagen, welche ihn ſtraft? 
Wer ſich in feinen eigenen Empfindungen verzärtelte; ſich ſelbſt 
gegen alle Eindrücke von außen zu reizbar machte; ſich keine 


— 18 — 


Mühe gab, ſich ſelbſt gegen alle Anfechtungen des Lebens maͤnn⸗ 
lich abzuhärten: warum ſchilt er das ſchwere Verhaͤngniß, die 
Gefühlloſigkeit der Menſchen? Warum ſchickt er ſich nicht, wie 
die heilige Schrift ſagt, in die Zeit und in die Welt? Warum 
verlangt er in ſeinem Wahnſinn, daß das Weltall ſich nach ſeinen 
Launen ändere, ſtatt ſich nach dieſem zu richten, und die Men⸗ 
ſchen zu behandeln, nicht wie er fie ſich wünſcht, fordern wie fie 
wirklich nun einmal ſind? 

Wohnt unter dem Himmel viel Uebels: wer hat es geſchaffen? 
Hat der allweiſe Schöpfer gefehlt, oder fehlt der kurzſichtige 
Menſch? Wenn das eigenſinnige Kind weint, weil es nicht im⸗ 
mer erhalten kann, was es begehrt, oder gleichgültig verachtet, 
was ihm zu Theil wird: iſt es der vorſichtigen Aeltern Schuld, 
oder die Thorheit des Kindes? 

Nein, was Gott gethan, iſt wohlgethan! Gott gibt, lerne 
du nur mit Weisheit annehmen. Gott verweigert, lerne du 
nur mit Weisheit entbehren. Gott verheißt, lerne du nur mit 
Weisheit dich der Verheißung werth machen. Gott ſteckt das 
Ziel aus, lerne du nur mit Weisheit deine Kraft anſtrengen, es 
zu erreichen. 

Du warſt bisher nie ganz glücklich? Wohlan, muſtere deinen 
Lebenslauf, deine Schickſale; woran lag es? Du hatteſt es nicht 
immer ſo, wie du wollteſt; aber warſt du auch immer ſo, wie du 
ſollteſt? Du wurdeſt von liebloſen Menſchen hart behandelt; aber 
wenn du deine Pflichten alle vollbracht, warſt du nicht ſelbſt 
unter jener liebloſen Behandlung froh? Es fehlte dir mancher 
Genuß, manche Freude, die Andere Deinesgleichen hatten? aber 
hatteſt du auch jo manchen Verdruß, jo manche Verlegenheit und 
Noth, die fie erduldeten? Dein Vermögen vergrößerte ſich nicht 
ſo ſchnell, als du wünſchteſt; du litteſt wohl manchen Unfall; 
aber du hatteſt doch bisher genug, um leben zu können, und wohl 
noch mehr, um dir ein Vergnügen zu bereiten: warum ſetzteſt du 
dein ganzes Glück in den Gewinn einer Sache, die nie von dir 

abhing, die dem Wechſel mannigfaltiger Umſtände unterworfen 
iſt? Du warſt von vermeinten Freunden und Freundinnen falſch 
und treulos behandelt; du irrteſt dich in ihrer Denkart; es iſt dir 


— 214 — 


ſchmerzlich: aber der Irrthum war auf deiner Seite; warum be⸗ 
klagſt du thörichter Weiſe deine Täuſchung, und genießeſt nicht 
vielmehr die hohe Freude des edeln Selbſtgefühls: du habeſt 
keinen derer betrogen, die dich Freund hießen? 

Gott wollte: glücklich ſoll der Menſch fein; auch auf 
Erden ſoll er es nach Maßgabe ſeiner Kräfte ſein! Gott walter 
es, denn der Allgütige will nur das Gütigſte. 

Glücklich ſoll jeder Sterbliche ſein, doch nur — wenn er 
es ſein will. Den freien Willen gab uns der göttliche Vater, 
weil wir ſelbſtſtändige Weſen, geſchaffen nach ſeinem Bilde, ſein 
ſollten, keine todten Werkzeuge, keine willenloſen Geſtalten, un⸗ 
fähig zum Guten und Böſen. 

Glücklich zu ſein, haͤngt alſo von jedes Menſchen Willen ab. 
Das Glück, welches nicht von mir ſelbſt und durch eigene 
Kraft erworben werden kann, iſt kein wahres Glück, weil, was 
mir Andere geben, auch Andere eben ſo leicht wieder nehmen 
können. Gott würde uns nicht zur Glückſeligkeit geſchaffen haben, 
wenn dieſelbe nicht in der Macht jedes einzelnen Menſchen lage, 
ſondern von fremder Gunſt und unzuberechnenden Umſtänden 
abhinge. 

Und welches iſt nun die Grundlage alles Glücks? Welches 
iſt das unfehlbare Mittel, welches jeder Sterbliche in ſeiner Ge⸗ 
walt haben kann, froh und heiter zu werden? O, wie oft ward 
es ſchon zu uns geſprochen, wie ſelten haben wir den rechten 
Sinn davon begriffen! — Dieſes Mittel iſt: zufrieden ſein, 
zufrieden machen. Erwirb dir die feſte Gemüthsſtimmung: 
mit unbefangener Seele den gegenwärtigen Augenblick zu 
genießen, ſo wie die Luſt, welche er dir bringt; erwirb dir die 
erhabene Stärke des Herzens, das muthig zu entbehren, was 
dir vom Schickſal noch verweigert iſt. 101 

Uebe dich, zufrieden zu fein mit Gott! — Du erſchrickſt? 
Du glaubſt nie gegen das höchſte Weſen eine Unzufriedenheit 
gehegt zu haben? Du glaubſt, nichts ſei leichter, als mit dem 
gütigſten, weiſeſten Schöpfer zufrieden zu ſein? — Aber woher 
denn oft dein Unmuth über mancherlei Schickſale, die dich ohne 
dein Zuthun betrafen? Du ſprichſt: ich war nur mit dieſen 


— 215 — 


Schickſalen unzufrieden. Aber kamen ſie nicht von Gott? Waren 
ſie nicht das Werk ſeines Willens? Du klagteſt die Thaten Got⸗ 
tes an; wider Gott, o Blödſinniger, ſchrie deine Unzufriedenheit! 

Woher dein Unmuth, wenn deine Lieblinge dir hinwegſtarben; 
wenn Freunde durch ein fremdes Verhängniß von dir geriſſen 
wurden; oder wenn du über die Lage murrteſt, in die du verſetzt 
wareſt; oder wenn dein Wohlſtand fich verlor; oder wenn An- 
dern Reichthum zufiel, ohne ihr Verdienſt, oder Anſehen und 
Ehre, ohne Würdigkeit ihnen zu Theil wurde, wahrend du im 
Schweiße deines Angeſichts thätig und redlich arbeiteteſt, und 
dennoch nicht weiter kamſt? — Dieſes Mißvergnügen, welches 
du empfandeſt, dieſe Unzufriedenheit — wen klagteſt du damit 
an? Den Gang der Welt, die Ungerechtigkeit des Zufalls und 
des Glücks, wie du es nannteſt. Aber weſſen Hand zeichnet der 
Welt ihren Gang, dem Zufall ſeinen Lauf, dem Glück ſeinen 
Weg vor? Iſt es nicht die Hand Gottes? Oder iſt noch ein Höherer, 
als der Allerhöchſte? 

Sei zufrieden mit Gott, das heißt, zufrieden mit den Glücks⸗ 
umſtänden, mit den Verhältniſſen, mit dem Looſe, welches er 
dir in dieſer Welt ertheilet hat. Warum er dir dieſes Loos und 
kein anderes bereitet und gegeben hat, iſt ihm, dem weiſeſten und 
dem gütigſten aller Weſen, allein bekannt. Aber es iſt für deine 
Seele, für ihre Kraft, für ihre Art zu wirken und zu ſein, für 
ihre Beſtimmung ohne Zweifel das Beſte geweſen. 

Sei zufrieden mit Gott! Deine Unzufriedenheit ändert den 
Lauf der Dinge nicht; fie iſt Läſterung der höchften Weisheit; 
ſie iſt Verbrechen. Gab der Schöpfer Andern andere Mittel zur 
Selbſtbeſeligung; gab er ihnen andere Vorzüge, mehr äußere 
Schönheit, größere Reichthümer, vortheilhaftere Gelegenheit, 
Anſehen zu erwerben, mächtigere Verbindungen — zu allem 
Guten legte er das heilſame Gegengewicht. Du irrſt, wenn du 


unter Purpur und Seide die dauerhafte Freude, in den goldenen 


Paläſten die ſüße Ruhe des Gemüths, des Lebens höchiten Ge⸗ 
nuß ſuchſt. Es iſt kein Licht; es wird von einem Schatten be⸗ 
gleitet. Du würdeſt, könnteſt du tauſchen, es verfchmähen, das 


* 


— 216 — 


werth haͤltſt; du würdeſt es vorziehen, der zu bleiben, welcher 
du biſt. 

Sei zufrieden mit deinem Gott — und biſt du es, ſo iſt die 
Hälfte deines Glücks ſchon gemacht! Du wirſt dankbar froh das 
ſchätzen und mit Innigkeit genießen, was dir zu Theil ward. 
Du wirſt im Vertrauen auf die Weisheit des göttlichen Weltre⸗ 
gierers heiter entbehren lernen, was du noch nicht empfangen haſt. 
Du wirſt Andere nicht beneiden. Du wirſt ihren Stolz belächeln, 
mit dem ſie ſich aus Geiſtesſchwäche brüſten, weil ſie Vorzüge 
zu haben glauben, die dir mangeln. Du wirſt eine Reihe kühner 
und ungeſtümer Wünſche aufgeben, die dir die Ruhe rauben, 
und den Schritt der Zukunft um nichts beſchleunigen. Nur wer 
die meiſten Wünſche in ſeiner Bruſt nährt, der iſt der Aermſte; 
der Genügſame wünſcht wenig, eben darum iſt er reich, darum 
glücklich. Wahrlich, es iſt wohl der höchſte Gewinn, wer in Gott 
ſelig iſt und läſſet ihm genügen. (1. Tim. 6, 6.) 

Sei zufrieden mit dir ſelbſt! Darunter aber iſt nicht jene 
Selbſtzufriedenheit der Menſchen zu verſtehen, die nur Eitelkeit 
und eingebildetes Weſen iſt, daß Alles vortrefflich und gut ge⸗ 
macht ſei, was fie thun. Sei zufrieden mit dir ſelbſt, heißt: ſtelle 
die innere Uebereinſtimmung mit dir ſelbſt her, daß nie zwiſchen 
deinen Handlungen und Worten ein Widerſpruch ſtattfinde mit 
deinem Pflichtgefühl. Handle ſo, daß du vor dir ſelbſt Achtung 
haben könnteſt; daß dich dein Bewußtſein jederzeit vor Gott, vor 
dir, vor allen Menſchen rechtfertiget. Man iſt nur ganz mit ſich 
zufrieden, wenn man ſich keines Vorwurfs, keiner Schuld be⸗ 
wußt iſt, ein reines Herz und eine Erinnerung von rechtſchaffenen 
Thaten hat. 

Wer ſo mit ſich zufrieden ſein kann, der hat die Schöpfung 
ſeines Glückes vollendet. Tiefe Ruhe, unzerſtörbare Heiterkeit, 
eiſerner Muth im Trübſal ſind das Eigenthum des Tugendhaften. 
Die ſtille Seligkeit, welche dich erquickte, wenn du ein gutes 
Werk vollbracht hatteſt, von welchem vielleicht außer dir Nies 
mand als Gott wußte, gedenke ihrer, wie ſie deine ganze Seele 
füllte! Hätteft du damals dieſe reine Wolluſt des Gemüths, dieſe 
Weihe zum Himmel gegen andere Luſtharkeiten, gegen alle Wire 


— 


— 217 — 


den und Schätze der Menſchen vertauſchen mögen? Siehe, Für⸗ 
ſten ſtürzen von ihren Thronen, Kriege zerrütten den Wohlſtand 
von tauſend Familien, Verleumdung und Haß bringen um Ruhm 
und Ehrenſtellen — aber wer taftet den Himmel an, den die 
Tugend dir in dein Herz ſenkt? 

Sei zufrieden mit dir ſelbſt! Handle ſo, daß du nie 
Urſache haſt, dich ſelbſt zu verachten, und du wirſt, wenn dir 
auch manche andere Glücksgüter fehlen, unter den Sterblichen 
einer der Glücklichſten ſein. Du wirſt nicht den Reichen beneiden, 
der mitten in ſeinen koſtbaren Zerſtreuungen elend iſt, weil er 
über ſein Inneres nicht froh ſein kann; du wirſt den Gewaltigen 
nicht beneiden, welcher auf dem Throne ſchaudernd dem Tode 
entgegenblickt; du wirft die Schönheit nicht beneiden, welche nach 
wenigen Jahren verblüht iſt. Deine Seligkeit verblüht nicht; dein 
Reichthum folgt dir in die Ewigkeit hinüber; dein Schatz iſt, wie 
die heilige Schrift ſpricht, im Himmel. Denn was du dir er— 
warbſt, find Vorzüge und Hoheiten, nicht die du irdiſch dem ver— 
weslichen Leibe erwarbſt, ſondern dem unſterblichen Weſen, das 
dieſen Leib, als todtes Werkzeug, beſeelt. 

Sei zufrieden mit den Menſchen! Fordere fie nicht voll— 
kommener, als ſie ſind. Verachte ihre Thorheiten, ihre Laſter, 


ihre Schwächen; trage, wo du kannſt, dazu bei, ſie zu verbeſ— 
ſern, — aber dieſe Menſchen, haſſe ſie nicht ſelbſt, wegen ihrer 
Unvollkommenheiten, ſondern ertrage ſie. Gott duldet ſie auch! 


Sei zufrieden mit den Menſchen, nimm und behandle ſie mit 


Schonung und Klugheit, wie ſie nun einmal ſind. Deine Un— 


zufriedenheit, dein Murren, dein Zürnen, dein Tadeln ändert 
ſie ſchwerlich, wenn deine Güte und Klugheit ſie nicht beſſert, 
ſondern macht die Stolzen nur ſtolzer, die Halsſtarrigen nur 
halsſtarriger, die Betrüger und Heuchler nur liſtiger und heim— 


tückiſcher. Kein Menſch iſt von Grund aus verdorben und ohne 


alle guten Sitten; aber kein Menſch iſt auch vollkommen und 
ohne Fehler. Siehe bei jedem Menſchen nur auf das, was wirf- 


lich ſchätzbar an ihm iſt, ſo wirſt du ihn lieben lernen, ſeine 


Fehler werden dir weniger anſtößig; er wird, wenn er fühlt, daß 
du ihn achteſt, und warum du es thuſt, die Liebe mit Liebe ver⸗ 
III. 10 


— 218 — 


gelten, und in feine guten Eigenſchaften noch höhern Werth ſetzen 
und ſie nicht verſäumen. > 

Sei zufrieden mit den Menschen, mit welchen du ein⸗ 
mal in Verbindung lebſt, und fordere nicht, daß ſie alle deines 
Sinnes werden, alle nach deinen Begriffen handeln, alle ge 
ſtimmt ſeien, wie du geſtimmt biſt. Wie würden ſolche An⸗ 
maßungen, ſolcher Eigenſinn neben der Achtung beſtehen, welche 
du für dich ſelbſt haben ſollſt? Fühlſt du, daß dich gewiſſe Ver⸗ 
bindungen drücken: verſuche es anhaltend, durch jedes gerechte 
Opfer, durch jede Mühe und Beſſerung von deiner Seite ihnen 
mehr Annehmlichkeit zu verſchaffen. Wenn edler, uneigennütziger 
Sinn Hand in Hand mit Klugheit wandelt: ſelten kann dieſen 
widerſtanden werden. Und iſt auch das Aeußerſte vergebens: dann 
lerne Verbindungen dieſer Art entbehren. Je unabhängiger, ges 
nügſamer und anſpruchloſer, je glücklicher iſt der Menſch. 

Zufrieden ſein mit Gott, mit dir, mit Andern; aber auch — 
zufrieden machen! — Wie wärſt du glücklich in dir ſelbſt, 
wenn du eine Seele wüßteſt, die durch deine Schuld nicht ganz 
glücklich wäre? Es ſteht zwar nicht in unſerer Macht, Jeden zu 
beglücken; wohl aber ſteht es in unſerer Macht, zu verhüten, daß 
kein guter Menſch durch uns Ruhe, Freude und Frieden verliere. 
Und dies iſt ſchon viel gethan! Und was wir dem Geringſten 
unſerer Brüder thun, das haben wir uns ſelbſt gethan. Wer 
fremden Kummer ohne Rührung ſieht, den er doch mildern könnte, 
bereitet ſich ſelbſt Kummer, und bringt fein eigenes Herz um eine 
Wolluſt. 

Zufrieden machen! — Das Glück, welches wir Andern 
bereiten; die Freude, welche wir unſern Bekannten gewähren, 
find nur Ausſaaten unſers eigenen Glückes, die früher oder fpäter 
wiederum uns ſelbſt mit goldener Aernte belohnen. Das Gute, 
welches wir ſtiften, es ſei auch noch fo klein, ſtroͤmt immer wieder 
auf uns zurück. 

Zufrieden machen! Es iſt nicht möglich, daß ein Sterb— 
licher vollkommen glücklich ſei, einſam, ohne den Anblick allge— 
meiner Zufriedenheit. Wer möchte ſich an allgemeiner Trauer er— 
göͤtzen, wer fröhlich fein, wo unzufriedene Geſichter uns umringen. 


— 219 — 


Zufrieden fein, zufrieden machen! Dies fei fortan mein Wahl⸗ 
ſpruch. Denn auch ich bin ja von Dir, o Gott der Liebe, zum 
Glück berufen, und in meiner Bruſt pocht Sehnſucht nach dem 
Glück, Verlangen nach Freude. Ich ſuchte dieſe bisher nicht im— 
mer auf dem einzig richtigen Wege. Mich verführte oft das Bei— 
ſpiel der Menge. Ich ſuchte mein inniges Wohlſein in Er⸗ 
reichung von Wünſchen, deren Erfüllung nie ganz von mir 
abhing; bald in Zerſtreuungen, bald in Erwerbung eines freund- 
lichen Herzens, bald im Gewinn von Geld und Gut, bald im 
Gewinn von Ruhm und Anſehen. Ueberall, ach nur zu oft, fand 
ich mich getäuſcht. 

Wohlan, ich will entbehren, mäßig fein im Genuſſe deſſen, 
was Deine wohlthätige Hand mir Gutes zuſtreuet, mich begnügen, 
wenn des Lebens erſte Nothwendigkeiten befriedigt find, gewalt⸗ 
ſam meine traͤumeriſchen Wünſche unterdrücken, zufrieden fein, 
zufrieden machen. Wenn Du dann, o Vergelter, o Vater, meine 
Arbeiten ſegneſt, wenn Du mir dann auch Erdengüter zufallen 


lläſſeſt, an die ich nicht dachte — dankbar will ich fie von Deiner 


Vaterhand empfangen. Du gibſt ſie mir, mein Glück zu ver⸗ 
mehren, indem Du mich in den Stand ſetzeſt, mehr Zufriedenheit 
um mich her zu verbreiten, als ich es jetzt noch vermag. Wenn 
wir Nahrung und Kleider haben, ſo laſſet uns genügen, ſprach 
Jeſus Chriſtus. Und ich habe noch etwas mehr, als nur dies. 
Wie ſollte ich klagen? Warum unzufrieden ſein? — Wenn ich 
bisher nicht ganz ſo glücklich war, als ich es ſein konnte: nicht 
Deine Schuld war er, o mein unendlich gütiger Vater im Him⸗ 
mel, ſondern die Schuld meines verkehrten Sinnes, meiner um⸗ 
herſchweifenden Wünſche, meines Leichtſinns, meiner Leiden⸗ 
ſchaften. Ich will beſſer werden, jo wird's beſſer fein! 


— 220 — 


25. 
Das Mißfallen am Gegen wärtigen. 


Spr. Sal. 20, 14. 


Sollt' ich das von Gott nur loben, 
Wo auch ich ſchon Weisheit ſeh? 
Iſt's nicht ein Geſchenk von oben, 
Wenn ich ſeinen Weg verſteh'? 
1 Jeder frevelt, welcher klagt, 
Daß ihm Gott mehr Licht verſagt. 


Hier in meinem Pilgerſtande 

Sei mein Theil Zufriedenheit; 

Dort in meinem Vaterlande 
Wohnt die wahre Seligkeit; 

Leere Einbildung zerſtört 

Hier oft meines Lebens Werth. 


Wandelſt du auf rauhen Wegen, 
Meine Seele, klage nicht; 
Nur dein Tugendmuth gibt Segen, 
Nur dein Gleichmuth wird zum Licht, 
Und ich faſſe Gottes Sinn, * 
Wenn ich ganz vollendet bin! 


Bo ſe, böfe, ſpricht man, wenn man's hat; aber wenn's 
weg iſt, ſo rühmet man es dann! (Spr. Sal. 20, 14.) Wer 
lieſet dieſe Worte der heiligen Schrift, ohne von der Wahrheit 
derſelben tief getroffen zu werden? Jeder hat davon die Er⸗ 
fahrung an ſich ſelbſt gemacht; und Jeder findet darin zugleich 
auch einen Vorwurf gegen die Unbeſtändigkeit ſeiner Urtheile, 
gegen die Falſchheit ſeiner Anſichten, die er von mancherlei Dingen 
und Begebenheiten ſeines Lebens hatte. 

Man möchte es bei verſchiedenen Menſchen faſt für eine wirk— 
liche Seelenkrankheit halten, daß fie unablaͤſſig über ihre gegen- 
wärtigen Berhältniffe und Umftände klagen. Sie haben beſtaͤndig 
Leiden, ungeachtet ſie ſich ſehr wohl zu befinden ſcheinen. Aber 
wie heute, ſo hörte man ſie auch ſchon vor Jahr und Tag klagen. 
Dies unzufriedene Murren und Seufzen iſt ihnen zur Gewohn— 
heit, durch die Gewohnheit zum Bedürfniſſe, durch das Bedürfniß 
zu einer gewiſſen Art von Vergnügen geworden. Ihnen wäre 
nicht wohl, wenn fie nicht irgendwo etwas zu beſeufzen und an “ 


— 221 — 


ihrer Lage zu tadeln fänden. Ja, es iſt nichts Ungewöhnliches, 
daß man eben dieſe Leute jetzt eben jene Tage mit großem Ber- 
gnügen noch preiſen hört, als vorzüglich glückliche, in welchen 
wir ſie am unzufriedenſten geſehen hatten. Sie gleichen denjenigen 
bedauernswürdigen Perſonen, die bei vollen Leibeskräften immer⸗ 
dar krank in ihren Einbildungen ſind. 

Ueberhaupt aber bemerkt man, daß die wenigſten Menſchen 
mit ihrem Geiſte in der Gegenwart wohnen, ſondern entweder 
ſich mit den Erinnerungen aus der Vergangenheit laben, oder 
mit ihren Hoffnungen beſtändig in der Zukunft leben, für welche 
ſie nicht müde werden, Pläne zu machen. 

Am meiſten hört man von Erwachſenen das Glück ihrer Ver— 
gangenheit, die Tage ihrer Kindheit mit wehmüthiger Freude 
rühmen. Sie thun dies nicht ſelten in ſolchem Uebermaße, daß 
ihnen darüber ihr gegenwärtiger Zuſtand unangenehm wird. Im⸗ 
mer vergleichen ſie allzugern, was jetzt geſchieht, mit dem, was 
ſonſt geſchah, die Freuden von heute mit den Freuden ihrer 
frühern Jahre; und das Geweſene wird dabei auf Koſten des 
noch Vorhandenen erhoben. — Oft aber iſt ihre eigenfinnige 
Vorliebe für die verlornen Freuden doch nur zuletzt eine von all- 
zulebhafter Einbildung bewirkte Selbſttäuſchung. Die Einbil- 
dungskraft der Menſchen hat aber bei dem, was nahe iſt, wenig 
Beichäftigung. Sie ſchwärmt deſto ungebundener in Gegenden 
und Zeiten, je entfernter dieſe ſind. 
| Mit welcher Sehnſucht, mit welchem Entzücken hört man 
nicht zuweilen das Paradies des kindlichen Alters und der ganzen 
Jugendzeit rühmen! Selbſt die kindlichen Irrungen und Thor⸗ 
heiten werden mit Vergnügen noch erwähnt; jedes Spielplatzes, 
jedes kleinen Zufalls wird mit Luft gedacht, gleichſam als wäre 
die ganze Wonne des menſchlichen Lebens in den engen Raum 
jener Entwickelungszeit zufanimengevrängt geweſen. 

Und doch iſt Alles, oder das Meiſte davon, nur Betrug un- 
ſerer Einbildungskraft, die in der Ferne Alles mit zauberhaftem 
Glanz verſchönert. Sehet doch die Kinder um euch her an: ſind 
ſie denn in ihrem Paradieſe wirklich fo hochbeklügt und beneidens⸗ 
würdig? Auch ſie haben ihren Kummer, ihren Schmerz, ihre 


— 222 — 


Thränen, ſo vielfach, als Erwachſene. Ihr Leichtſinn, der ſie 
manches Unangenehme ſchnell vergeſſen lehrt, führt ſie auch eben 
ſo ſchnell wieder zu neuem Leid. Sie zittern bald vor der Strenge 
ſie erwartender Strafen, bald vor Uebeln, bei welchen ſie als 
Erwachſene nur lächeln würden. Sie lieben ihre Kinderjahre 
nicht; ihr höchſter, theuerſter Wunſch iſt, bald erwachſen und 
dann unabhängiger zu ſein. Sind ſie zu Jünglingen und Jung⸗ 
frauen angereift, ſo wird ihr Wunſch nach Unabhängigkeit und 
einem eigenen Herde nur lauter. Ihre Leidenſchaften und Ge⸗ 
müthsbewegungen ſind nur ſtürmiſcher. In keinem Alter, als 
im Jugendalter, iſt es dem Menſchen leichter, das Leben gering 
zu achten, oder ſterben zu können. So ſtreben ſie, unzufrieden 
mit der gegenwärtigen Abhängigkeit von Aeltern und Verwand⸗ 
ten, unzufrieden mit mancher bittern Täuſchung ihres unerfahr⸗ 
nen Herzens, oft wirklich elend durch den Ueberreiz ihrer allzu- 
lebhaften Empfindungen, nur nach dem Glück und der Ruhe des 
maͤnnlichen Alters, deſſen Annehmlichkeiten ihnen wohlthätig 
entgegen glänzen, deſſen Sorgen ſie aber nicht ſehen. 

Wie wenig das Kindheits- und Jugendleben das beneidens⸗ 
würdigſte Lebensalter ſei, erhellt wohl daraus, daß ſelbſt die⸗ 
jenigen, welche es mit ſchwärmeriſcher Beredſamkeit rühmen, 
dennoch verſchmähen würden, ganz und in allen Stücken es noch 
einmal zu durchleben, wie es war, wenn man ihnen freiſtellte, 
es zu konnen. 

Viele preiſen die ehemaligen Freunde und Freundinnen, welche 
fie nicht mehr haben; aber fie denken nicht mehr daran, wie manch⸗ 
mal ihnen dieſelben gleichgültig, oft ſogar läſtig geweſen ſind. 
Sie werden auch ihre jetzigen Freunde mit Thränen rühmen, 
wenn fie von denſelben erſt getrennt ſind. 

Viele preiſen die heitere Ruhe, den ſtillen Frieden mancher 
Jahre, die vergangen ſind; aber ſie denken nicht mehr daran, wie 
oft ihnen dieſe Ruhe doch Langeweile machte, und wie ſehr ſie 
ſich damals mißvergnügt oft mehr Thätigkeit oder einen anſehn⸗ 
lichern Wirkungskreis wünſchten, und wie lebhaft ſie arbeiteten, 
um Veränderung zu bewirken. 

Viele gedenken noch mit ſeligen Empfindungen der Tage, 


— 223 — 


wo ſie in Luſtbarkeiten aller Art ſchwammen; denken aber nicht 
mehr daran, wie ſie endlich dennoch oft von denſelben ermüdet 
wurden; oder wie ſich höchit unangenehme Ereigniſſe in den 
Jubel jener Zeiten einmiſchten, die Alles nur zu ſehr verbitterten; 
oder wie fie ſich endlich, hätte das Schickſal nicht früh geändert, 
nach einem Wechſel der Dinge geſehnt haben würden, des ſüßen 
Einerleis ſatt. 

Immerdar trachtet der Sterbliche nach dem Beſſern, und 
wenn er dies nicht wüßte, nach etwas Anderm und Neuem, 
wäre es auch ſchlimmer. Dies unruhige Streben liegt in der 
menſchlichen Natur, es liegt darin von Gott ſelbſt eingepflanzt. 
Dies iſt der geheime Sporn, welcher den Menſchen aus der 
Trägheit hervorjagt, durch Licht und Nacht, unter mancherlei 
Irrungen endlich höhere Wahrheit, höhere Weisheit, Vollkom— 
menheit des Geiſtes zu finden. 

Daher kommt es, daß, obwohl Viele an den ſchönen Bildern 
vergangener Tage hängen, doch noch weit Mehrere den gegen— 
wärtigen Augenblick verachten, um desjenigen willen, den ſie 
noch erwarten. Der größte Theil der Sterblichen lebt in der 
That nie für heute, ſondern für morgen; und iſt morgen erlebt, 
fo gehört fein Gedanke ſchon wieder dem folgenden Tage. 

Die Gegenwart mißfaͤllt, man ſchwelgt in Hoffnungen, baut 
Luftſchlöſſer für die Zukunft, und täuſcht ſich von einem Jahre 
zum andern. Man findet das Wirkliche nie fo ſchoͤn, als das 
Mögliche, was ſchoͤner fein könnte. Man zertritt, was man hat, 
um auf den Ruinen des wirklichen Glückes zu einem Genuſſe 
emporzuſteigen, den man nicht kennt, und verachtet das gewiſſe 
Gut für das ungewiſſeſte. 

Menſchen, welche es endlich in ſich zur Gewohnheit gemacht 
haben, immer mit ihrem Geiſte in der Zukunft oder in der Ver⸗ 
gangenheit zu leben, ſind in der That im Begriff, unglücklich zu 
werden. Das Mißfallen an der Gegenwart nimmt überhand; 
die Unzufriedenheit ſchlägt in ihrem Herzen unaustilgbare Wur— 
zeln. Sie können nie glücklich werden, weil ſie verlernt haben, 
eine Gegenwart zu genießen. Sie gleichen dem Wanderer, welcher 
vor Durſt verſchmachtet, indem er am Ufer eines hellen Baches 


— 224 — 


entlang lauft, und immer eine bequemere Stelle zum Trinken 
ſucht, oder die vorübergegangenen bereut, nie aber die — 
legenſte gut genug findet. 

Wie ſchon geſagt, trägt zu dieſem ſo gemeinen Uebel die be⸗ 
trügeriſche Einbildungskraft das meiſte bei. Sie ſpielt am lieb⸗ 
ſten mit dem, was abweſend iſt; denn bei dem, was unſere Sinne 
wirklich fühlen, hört alle Einbildung mehr oder weniger auf. 
Aus dieſer Urſache kann uns ſelbſt die Erinnerung an überſtan⸗ 
dene Gefahren aus den Tagen unſerer Vergangenheit noch ein 
großes Vergnügen haben, obgleich wir ſie im Ernſte für uns 
nicht zurückwünſchen würden. 

Sogar die natürliche Schwachheit unſers Gedächtniſſes wirkt 
mit dazu, uns die verfloſſenen Zeiten lieblicher darzuſtellen, als 
wir ſie wirklich hatten. Denn nur die lebhafteſten Eindrücke, 
welche wir empfanden, nur die ſchönſten, lichtvollſten Augen⸗ 
blicke prägten ſich aus dem verſchwundenen Leben unſerm Ge— 
dächtniſſe ein, aber viele Tauſend weniger wichtige Gefühle, Ge- 
danken und Vorfälle dazwiſchen ſind vergeſſen und verloren. 
Wir hangen alſo mit unſerer Erinnerung nur noch an einzelnen, 
theuern Stellen der Vorzeit — alles Uebrige iſt Nacht, und dieſe 
erhebt mit ihrem Schatten deſto mehr den Glanz des in dem 
Gedächtniſſe gebliebenen Guten. 

Zudem ſehen wir in der Gegenwart uns oft in Ereigniſſe 
und Schickſale verwickelt, deren Ausgang wir nicht kennen, und 
die daher unſer Gemüth mit heimlicher, immer reger Furcht und 
Sorge erfüllen. Schon dadurch ſcheint uns die gegenwärtige 
Stelle des Lebenslaufes minder ſchön, als das Vergangene. 
Aber war dies nicht in der verfloſſenen Zeit ebenfalls ſehr haufig 
unſere Lage? Und doch preiſen wir ſie als vorzüglicher. Sehr 
natürlich! Was damals uns dunkel ſchien, iſt jetzt hell; der Aus— 
gang der Dinge, vor welchem wir damals heimlich bebten, iſt 
jetzt aufgeflärt. Wir ſehen jetzt erſt ein, wie gut es war, daß 
manche unſerer Wünſche, die damals in uns glühten, unbe— 
friedigt blieben: was wir zu jener Zeit gar nicht glaubten. — 
Jetzt leiden wir von der gleichen Noth. Es mipfällt uns die 
gegenwärtige Lage, weil wir darin noch ſo manchen friſchen 


— 225 — 


Schmerz leiden, noch ſo manche Furcht über das Gelingen oder 
Mißlingen unſerer Wünſche haben. Aber Geduld! es wird wie— 
der für uns ein Tag kommen, wo wir die heutigen Räthſel alle 
wiederum herrlich durch die Hand der göttlichen Vorſehung gelöfet 
ſehen werden. 

Rühme darum Niemand mehr mit Uebertreibung die Tage 
verfloſſener Jahre; und verachte darüber den Genuß der Gegen⸗ 
wart. Es werden Zeiten kommen, wo wir uns auch des heutigen 
Tages als eines ſchöͤnen rühmen. So preiſen wir und lieben wir 
erſt innig einen Todten, den wir während ſeines Lebens nicht 
ſelten gleichgültig behandelten. 

Eben die Einbildungen, welche unſere Vergangenheit ver— 
ſchönern, ſchmücken täuſchend auch unſere Zukunft mit den ge⸗ 
faͤlligſten Farben. Die Hoffnung zeigt uns im Hintergrund der 
bevorſtehenden Tage immer prangende Roſen; aber deren Dornen 
erkennen wir noch nicht in ſolcher Ferne. 

Sollten wir, durch zahlloſe Erfahrungen belehrt, nicht end⸗ 
lich weiſer werden, und uns überzeugen konnen, daß die zu— 

künftigen Jahre ſelten fo reizend find, als wir fie uns traͤumten? 
Sollten wir nicht endlich wiſſen, daß Gottes Vaterhuld und 
Weisheit jedem Tag, jedem Alter, jedem Stande, jedem Ge— 
ſchlechte ſeine beſondern Freuden und Leiden zugemeſſen habe? 
Sollten wir nicht endlich wiſſen, daß es die beſte Lebensweisheit 
ſei, des Tages mit Dank und Freude herzlich zu genießen, den 
der ewige Vater uns gab, unbekümmert und ohne peinigende 
Sehnſucht wegen des folgenden, von dem wir keine Burgſchaft 
haben, was er neben dem Guten auch Böfes bringen werde? — 
Wie thöricht iſt dies Mißfallen an dem, was wir wirklich haben, 
leben und find! Wie thöricht unſer Vergöttern deſſen, was ver⸗ 
loren iſt, oder deſſen, was kommen ſoll! 

Das Mißfallen und die Klage über das Gegenwaͤrtige iſt aber 
nicht immer eine bloße Folge unſerer allzugefchäftigen Ein⸗ 
bildungskraft, ſondern wohl auch eine Wirkung von verſchiedenen 
in uns wohnenden Fehlern anderer Art! — Warum ſind wir 
| heute nicht ſo glücklich, als wir es den äußern Umſtänden nach 

ſein könnten? — Vielleicht weil wir weniger chriſtlich weiſe, 


— 226 — 


weniger tugendhaft in unſerm Wandel, weniger ergeben und 
zuverſichtvoll auf die Führungen Gottes ſind. 

Glaubſt du, in den kommenden Tagen, wenn etwa dieſer 
oder jener deiner Wünſche erfüllt, oder dieſes oder jenes Ziel 
deines Strebens erreicht iſt, werdeſt du froher athmen und des 
Lebens dich recht erfreuen können? Kurzſichtiger, du ſiehſt dich 
in der ſchön geträumten Zukunft zwar von manchen Beſchwerden 
frei, die dich heute drücken; denkſt aber nicht daran, daß deine 
Fehler dir auch dort neue Beſchwerden und verdrießliche Ereig⸗ 
niſſe herbeiführen! — Du biſt es, der ſein Elend, wie an der 
Kette befeſtigt, uberall mit hinnimmt. Du biſt es, der den Himmel 
zerſtört, der dich gern überall empfangen möchte. 

Warum beweineſt du das verlorne Glück, welches deine 
Thränen nicht wieder zurückkaufen? Warum vergiſſeſt du die 
heutige Gabe über die, die dir entriſſen ward? Warum die noch 
lebenden Freunde über die verſtorbenen? Du ſprichſt: kann ich 
Herr meines Schmerzes ſein? Ich ſage, du kannſt es ſein, du 
ſollſt es ſein, und deine unchriſtliche Schwachheit abthun. Du 
ſollſt es, denn deine Geſundheit, das Glück der Deinigen fordern 
es, Religion und Gott gebieten es. 

Warum verſchmäheſt du die Gegenwart um die Hoffnungen, 
die dir eine ungewiſſe Zukunft vorſpiegeln! — Du willſt glück⸗ 
licher werden? Wohlan, warum willſt du das erſt in Tagen 
ſein, von denen du nicht ſicher biſt, ob du ſie erleben wirſt, und 
warum willſt du es nicht eben ſo gut ſchon heute werden, wo 
du deines Daſeins gewiß biſt? 

Was hindert dich an deiner Zufriedenheit, an deiner Ruhe? — 
O prüfe Alles genau, deine äußerlichen Umftände, deine Ver⸗ 
hältniſſe mit Freunden und Bekannten, deine gegenwärtigen Ge— 
ſchäfte und Pflichten; prüfe aber auch dein Inneres, deine Auf— 
führung, die Art und Weiſe, wie du dich gegen deine Hausge— 
noſſen, gegen Verwandte, gegen Widerſacher, gegen dich ſelbſt 
beträgſt — — prüfe Alles genau, und du wirft Dich, vielleicht 
gegen deinen Willen, lebhaft überzeugen, daß das Ungemach 
deines Zuſtandes zum Theil in deinen Einbildungen, zum Theil 
in der Unmäßigkeit und Ungeduld deiner geheimen Wünſche, 


1 


zum Theil in der Fehlerhaftigkeit deines Lebenswandels gegründet 
iſt. Du wirſt dich, vielleicht wider deinen Willen, überzeugen 
können, dur fönnteft weit angenehmer, heiterer leben, weit glück 
licher ſein, wenn du anders ſein könnteſt, als du biſt. 

Und warum, wenn um dieſen Preis ein Erdenleben voll 
ſtiller Seligkeit, eine Gegenwart voll ſchönen Genuſſes zu er— 
kaufen iſt, willſt du nicht anders werden? Dein Hausweſen, iſt 
es zerrüttet durch eigene oder fremde Schuld, warum verſchaffſt 
du dir von dem wahren Zuſtande deines Vermögens nicht eine 
klare Anſicht? Warum haſt du nicht Muth, dich durch Ein— 
ſchränkung aller Art und verdoppelten Fleiß zu retten? — Und 
wenn es dennoch auf dieſe Art unmöglich ſein ſollte, wenn dich 
die Sorge um manche Schuldenlaſt zu Boden drückt: wohlan, 
rechne, Haushalter, mit deinen Gläubigern! Habe den Muth, 
arm zu ſein, aber ehrlich. Gib deinen falſchen Wohlſtand auf, 
aber rette dein reines, ſchuldenfreies Gewiſſen vor Gott und den 
Menſchen. Gott wird nicht dich, nicht die Deinigen verlaſſen. 

Du haſt Gegner, deren Schadenfreude dein Glück überall zu 
ſtören ſucht? — Was hat fie denn zu deinen Feinden gemacht? 
Dein ſpröder Stolz, dein unkluger Eigenſinn, dein unnachgiebiges 
Weſen, deine Unfreundlichkeit, dein vielleicht im Uebermuth gegen 
ſie geäußerter Spott, deine gehäſſigen Bemerkungen über ſie, oder 
die Zweideutigkeit deines Benehmens in manchen Fällen, wo— 
durch du ihr Vertrauen einbüßteſt. So gehe denn hin, beſiege 
deine Feinde durch ein vorſichtigeres, edelmuͤthigeres Betragen, 
durch heuchelloſe Dienſte der Freundſchaft, und ſie werden auf— 
hören, dich zu fliehen oder zu kränken. Gehe hin, beſiege deinen 
eigenen Trotz und Stolz, und du wirſt den Trotz und Stolz 
deiner Widerſacher bezähmen. 

Oder biſt du in deinen häuslichen Verhältniſſen nicht glück⸗ 
lich; harte Verwandte, laſterhafte Freunde, ungerathene Kinder, 


zwietrachtvolle Ehe verbittern deine Tage? — Wohlan, wenn du 


hier nichts ändern kannſt, ſo erhebe dich mit Chriſtenmuth in 
deiner Stärke, faſſe deinen Entſchluß für die ganze Zukunft, ſei 
du ſelbſt ſtreng, edel, klug, gerecht, und laß dich das nicht mehr 
in deiner Gemüthsruhe ſtören, was du zu ändern unfähig ge⸗ 


— 228 — 


worden biſt. Aber durch dein feſtes, edles, gleichmüthiges und 
beſonnenes Betragen flöße denen, die dich jetzt quälen, wenigſtens 
Achtung und Ehrfurcht für dich ein. Sie werden endlich ſcheu 
werden, dich zu betrüben, und dieſe Scheu iſt der erſte Schritt 
zu ihrer eigenen Beſſerung. 

So iſt kein Uebel der Gegenwart, welches der chriſtliche 
Weiſe mit erhabenem Vertrauen auf die Macht der Tugend und 
auf die Vaterhand Gottes nicht endlich überwinden, oder wohl 
gar in ein Gutes verwandeln könnte. Wer da verzweifelt an 
Rettung, der hat noch nicht die Tugend in ihrer Kraft erkannt, 
noch, nicht die Religion in ihrer beſeligenden Macht, noch nicht 
die Vorſehung in ihrer bewundernswürdigen Weisheit. Und 
wer ſie nicht erkennen, nicht den Muth haben will, ſich alſo zu 
erheben, der verdient unterzugehen. Er macht ſich keiner Rettung 
werth. ö ö 

Es iſt keine Lage im menſchlichen Leben ſo ganz traurig und 
hoffnungslos, daß nicht auch neben dem Uebel, fo wir darin er⸗ 
blicken, ein Gutes hingeſtreut wäre durch Gottes väterliche Für— 
ſorge. Lernen wir nur immer dieſes Gute ſuchen und auffinden! 
Gewöhnen wir uns nur, und ſollte es anfangs auch mühſam 
ſein, allen Dingen, die uns umgeben, die beſſere Seite abzuge— 
winnen; ſo wird uns der Anblick derſelben beſtändig froh machen. 
Suche alle Vortheile und Annehmlichkeiten deines gegenwärtigen 
Zuſtandes auf, habe nur ſie vorzüglich im Auge, und du wirſt 
deine Lage liebgewinnen lernen und preiſen. Suche an deinen 
Freunden, ja noch mehr, ſuche an denen, die dir ſogar zuwider 
ſind, die guten, lobenswürdigen Eigenſchaften auf, die ſie zieren — 
und jeder Menſch, ſelbſt der verdorbenſte, hat dergleichen! — 
und du wirſt aufhören, manche Perſonen zu haſſen, und viele 
Feindſchaften werden enden, die jetzt dein Leben trübe machen 
konnen. 5 

Entferne unter allen deinen Leidenſchaften und eigenthüm— 
lichen Neigungen zuerſt die gehaſſigen, bittern, unfriedlichen. 
Verwandle aus Grundſätzen deine mürriſche Lanne in freundliches 
Schweigen, dein jähzorniges Auffahren in ſtillen, feſten Gleich- 
muth, deine Klageſucht in unſchuldiges Scherzen; gewöhr“ dich, 


— 229 — 


zu lächeln bei dem, was dich ſonſt zum Unmuth ſtimmte: und 
du wirſt auf die Vergangenheit mit ruhigem Wohlgefallen, auf 
die Zukunft mit einem Blick ohne Furcht und ohne Sehnſucht 
ſehen. Du wirſt die Gegenwart lieben und genießen: mit 
einem Worte, du wirſt erſt dann wahrhaft leben, und dich 
deines Daſeins und des erhabenen Gebers aller guten und voll⸗ 
kommenen Gaben erfreuen können. 


A* 26. 
Stilles Glück. 


A p. Geſch. 1, 14. 


Laß in meines Herzens Gründen 
— Mich die heil'ge Stille finden, 
10 Die der Quell der Wonne iſt, 
Und worin beim Weltgewühle 
Aller Leidenſchaften Spiele 
Gern der reine Geiſt vergißt. 


Wer iſt's, der nicht das ſtille Häusliche Glück des Leben das 
beneidenswürdigſte Gut nennt? — Dafür legten Feldherren 
freudig ihr Schwert und ihre Lorbeerkränze nieder; dafür ſtiegen 
Fürſten von ihren Thronen, und wer im Gewühl der öffentlichen 
Geſchäfte ehrenvoll glänzte, ſuchte die Einſamkeit auf. 

Und Jedem, der nur Sinn dafür hat, liegt das Glück offen 
und bereit. Dies zit erobern bedarf es keiner Heere, keiner Tonnen 
Goldes, keines Ruhmes, keiner Würde, keiner hohen Gelehrſam⸗ 
keit. Ein einfaches, anſpruchloſes Gemüth, weiſe genug, den 
Schein vom Weſen, das Falſche vom Aechten zu unterſcheiden, 
findet es in ſich, findet es in ſeinem hausgenöſſiſchen Kreiſe. 

O ihr Sterblichen, wie wenig habet ihr zu euerm Glück von⸗ 
nöthen, und wie ſelten beſitzet ihr's! Es koſtet euch nur die Mühe, 
eine Hand darnach auszuſtrecken, und — ihr rennet vergebens 
darnach die lange Lebensbahn hinab, wie Blinde, und ſuchet in 
der Ferne, was euch ſo nahe geboten worden iſt. 

Stilles Glück beſteht im zufriedenen Genuſſe deſſen, was 
uns das Schickſal gab, und in der Heiterkeit eines guten Herzens. 


— 230 — 


Stilles Glück hat ſeine Quellen nirgends, als in unſerer eigenen 
Bruſt: es iſt daher unabhängig vom Wohl- oder Uebelwollen 
anderer Menſchen, in fo fern wir nur ſelbſt uns nicht durch 
mancherlei Begierden von ihnen abhängiger machen, als wir ſein 
ſollen. Stilles Glück bereitet ſich in einem genügſamen, geſun⸗ 
den, fröhlichen Herzen, durch einen einfachen, geſunden, richtig 
blickenden Verſtand. 

Geräuſchvolles Glück iſt kein wahres Glück — denn 
wir finden es nicht in uns, nicht in dem Geſchmack und in der 
heitern Anordnung deſſen, was uns zunächſt umgibt, ſondern in 
dem Aufſehen, welches es bei den Leuten erregt. Wir geben es 
uns nicht ſelbſt, wir empfangen es erſt durch die Meinung oder 
durch den Beiſtand von Andern. Wir tragen es nicht unerſchütter⸗ 
lich mit uns in unſern Grundſätzen, ſondern wir können es jeden 
Tag verlieren durch Umſtände und Veränderlichkeit des Menſchen⸗ 
ſinnes, von welchen wir uns abhängig machten. 

Es kann geraͤuſchvolles Glück uns einen Tag lang berauſchen, 
entzücken, nicht anhaltend beſeligen. Luſtbarkeiten aller Art 
können, jo lange fie dauern, vergnügen; aber Ckel folgt dem 
übermäßigen Genuſſe, und Leere zieht hintennach, wenn fie vor⸗ 
über find. Ruhm und Ehre können eine Zeit lang unſerer Eitel- 
keit ſchmeicheln. Aber balb wird man ihrer gewohnt werden; 
dann ergötzen ſie nicht mehr. Die Zeit ſtreift alle Roſen davon, 
und läßt nur die Dornen zurück. Wir empfinden nur die 
Läſterungen des Neides, des Grolles, der Nebenbuhlerei, und 
der Verdruß währt länger, als die erſte Luſt. 

Geraͤuſchvolles Glück hat jederzeit ſeine Nachwehen. 
Denn im Getümmel äußerer Freuden vergißt man nur zu oft 
ſich ſelbſt, vergißt die Vorſätze der Klugheit; öffnet mancher Un⸗ 
beſonnenheit das Herz, und überläßt ſich mancher Begierde, die 
man nachher bereut. Der uns dargebotene Becher der Luſt be— 
rührt ſüß die Lippen, aber die Hefen ſind bitter. Ach, wer hat 
dies im Leben noch nicht erfahren? Und wie kommt es, daß der 
Menſch, nachdem er fo oft und grauſam getäufcht worden, ſchwach 
genug iſt, den Taumel zu wiederholen, der ihm nur Schmerzen 
hinterlaſſen hatte? 


. u Be 


Geräuſchvolles Glück macht uns mit unfern beiten 
Freunden fremd, und gewöhnt uns, die Menſchen überhaupt 
nur als Werkzeug und Mittel unſerer Vergnügungen anzuſehen. 
Man hat in ihnen keine Freunde, nur Geſellſchafter; keine Ver⸗ 
trauten, nur Mitgenoſſen. Nehmt vielen Reichen ihr Vermögen, 
vielen Großen ihre Würden, vielen Schlemmern ihre Tafel, und 
ſehet, wo bleibt der Schwarm ihrer Bewunderer, der jetzt noch 
ihre Thürſchwellen belagert? Man liebt nicht, was ſie ſind, ſon⸗ 
dern das, was ſie haben; nicht ihr Herz, nicht ihren Verſtand, 
ſondern ihr Geld, ihr Amt. Und wie mag ein Sterblicher ſich 
des ächten Glückes rühmen, den Keiner um ſeines Selbſtes willen 
ehrt, den Keiner mit Innigkeit liebt? 

Geräuſchvolles Glück macht uns mit uns ſelbſt 
fremd. Wir leben mehr außer uns, als in uns und mit uns. 
Wir ſind ſo arm, daß wir ſelbſt uns nicht mehr genug ſind, 
ſondern froh ſind, wenn wir Andere finden, mit denen wir um⸗ 
gehen können. Wir leben nicht in uns, ſondern in dem Tand, 
in den Spielen, in den Meinungen, die uns von außen um⸗ 
gaukeln. Ein Wechſel des Schickſals, ein Umſchwung unſerer 
Verhältniſſe, ein Verluſt unſerer Ehrenſtellen, ein Verſchwinden 
unſers Wohlſtandes — und unſer ganzes von Außendingen ab⸗ 
hängiges Glück iſt dahin, nein, wir ſelbſt ſind vernichtet, wir 
gelten Andern nichts mehr, und uns ſelbſt nichts. Daher erklärt 
ſich die wahnſinnige Verzweiflung vieler Selbſtmörder, die, weil 
ſie ihren alten Einfluß und Glanz, oder ihr Vermögen verloren 
hatten, ſich ſelbſt für unwerth hielten, läuger zu leben. 

Geräuſchvolles äußeres Glück mag ein behaglicher Sinnen⸗ 
kitzel, ein Taumel, eine Luſtbarkeit, Zerſtreuung ſein — aber 
wahrlich, es iſt kein Glück. 

Wahres Glück blüht nur in der Stille häuslichen Lebens, 
wo wir vielleicht minder ſogenannte Genüſſe haben, aber deſto 
innigere und dauerhaftere; wo uns weniger Schmeichler umrin⸗ 
gen, aber dafür Freunde, die an Wohl und Weh Theil nehmen, 
wie es uns begegnet; wo man ſich nicht vor uns heuchleriſch 
beugt, und unſerm Gelde, unſerm Stande falſche Verehrungen 
zollt, ſtatt deſſen mit Zärtlichkeit an unſerm Herzen hängt und 


— 232 — 


ihm treue Liebe gibt; wo wir nie einſam ſind, weil wir uns ſelbſt 
genug ſein können; nie verlaſſen werden, weil unſer Gemüth ſich 
ſelbſt nicht treulos wird. 

Es iſt das ſtille Glück des häuslichen Lebens darum das be⸗ 
neidenswürdigſte, weil es dasjenige iſt, was wir ununterbrochen 
am längſten genießen können. Geräuſchvolles Vergnügen, welches 
vom guten Willen der Umſtände herſtammt, verſchwindet mit ihnen, 
und iſt nur ein fremder Gaſt, der uns mit Höflichkeiten über— 
ſchüttet, aber kein bleibender Hausfreund, der da ſpricht: Wo 
fehlts? Kann ich helfen? 

Stilles Glück iſt das theuerſte, weil es nicht erkauft, ſondern 
nur durch eigene Kraft und Seelengüte in der Eingezogenheit be— 
reitet wird. Da ruht es verborgen, wie die Perle in der Muſchel 
des Meeresgrundes; es bleibt von Läſterungen unangefochten, 
und wird vom Neid nicht verfolgt, weil es feinen Blicken unbe⸗ 
kannt blüht. 3 

Stilles Glück iſt das edelſte, denn du verlierſt dich nicht ſelbſt, 
wie in geräuſchvollen Freuden, ſondern du gewinnſt dich; du ges 
hörſt dir ſelbſt an; du wirft in dir ftärfer, kräftiger, unabhaͤn⸗ 
giger, weiſer; es erhebt dich über die Thorheiten des gewöhnlichen 
Lebens, deren Stacheln dich nie verletzen können, und gewährt 
dir harmloſe Stunden, ſchuldloſe Ergötzungen, ohne Reue und 
wehen. 

Willſt du dieſes — wie leicht iſt es zu empfangen! Dein 
Wollen reicht hin, es in Beſitz zu nehmen. Beſchränke dich 
genügſam auf den Genuß deſſen, was du durch eigene 
Kraft dir gewinnen kannſt, ohne es der Gunſt Anderer 
danken zu müſſen. 

Das iſt das weſentlichſte Mittel, ſo reich zu werden, daß du 
einer ganzen Welt entbehren kannſt. Was dir dann noch von 
Zeit zu Zeit von außen zufällt — nimm die Freuden mit, aber 
rechne ſie nicht zu den wahren Geſpielen deines Herzens. Nur 
was du dir gibft, dies iſt die wahre Freude; alles Andere iſt 
flüchtiges, oft theuer verzinſetes Darlehn. Sei genügſam mit 
dem, was du haft, aber nie mit dem, was du biſt. Sei genüg— 
ſam mit deinem Vermögen, mit deinem Stande, deinem Anſehen; 


— 1 


aber begnüge dich nie damit, nur ſo gut, ſo beſcheiden, ſo redlich, 
ſo arbeitſam, ſo wohlwollend zu ſein, als du jetzt biſt. Je edler 
du in und außer dem Hauſe handelſt, je zufriedener wird dein 
Herz mit ſich ſelbſt ſein; je zufriedener ſiehſt du auf die Welt 
hin; je heiterer blickſt du in den Himmel, je unerſchrockener und 
beherzter in die Zukunft — je freudiger ſprichſt du auch in einer 
ſtillen, heiligen Stunde mit deinem Gott. 

Und dieſen milden Sinn des Friedens, der Genügſamkeit und 
einfacher Freuden — verbreite ihn über deine Hausgenoſſen ins- 
geſammt! — Wäre auch einmal deine Laune trübe, lächle ihnen 
zu. Kein finſterer, mürriſcher Blick, kein hartes, rauhes Wort, 
keine kränkende, bittere Anſpielung! Gehe ihnen mit deinem 
Beiſpiel voran; ſie können nicht anders, ſie werden dich ſchaͤtzen 
müſſen. Der Himmel iſt da, den du wollteſt; und da waltet gern 
der Segen des Herru. 

Ziehe die ſtille Eingezogenheit des häuslichen Le— 
bens dem Getümmel fremdartiger Luſtbarkeiten und 
Zerſtreuungen vor. Erſt dann biſt du wahrhaft in deiner Woh— 
nung einheimiſch, und nicht ein beſuchender Fremdling darin. 
Je weniger du dich eng mit vielerlei Menſchen und Verhältniſſen 
einläſſeſt und verknüpfeſt, je weniger Sorgen, Beleidigungen, 
Kränkungen, falſche Beurtheilungen und andere Gehäſſigkeiten 

haſt du zu befürchten; je beſſer kannſt du Alles, worauf du dich 
beſchränkſt, überſehen und verrichten; je herzlicher wirſt du deinen 
Freunden angehören; je ungetheilter werden auch fie dir ihre Liebe 
bringen. — Darin fehlen die meiſten Menſchen, daß ſie ſelten ſo 
glücklich ſind, als ſie es zu ſein verdienen, indem ſie mehr über— 
nehmen, als ſie Kraft haben zu leiſten; mehr anfangen, als ſie 
vollenden konnen. Sie leben für allzuviel Dinge zu gleicher Zeit, 
und leben daher keinem ganz und mit voller Seele. Daher ent- 
ſpringt dann Unzufriedenheit mit ſich ſelbſt, und gerechter Tadel 
oft von Andern. 
Mache deine Verhältniſſe, in welchen du mit An— 
dern lebſt, fo einfach als möglich. Je beſſer du dieſelben 
überblickſt, je mehr wirſt du ihnen leiſten. Gib allen Menſchen, 
wie Du es vermagſt, deine Hilfe; nicht allen deinen Umgang, 


— 231 — 


noch weniger dein Vertrauen. Je eingezogener und unbekannter 
du lebſt, je weniger haſt du von den Quälereien und ſchaden⸗ 
frohen Launen der Unedeln zu beſorgen. 

Fürchte nicht, daß dich die Einförmigkeit des ſtillen häus⸗ 
lichen Lebens endlich ermüde; — geſchieht es aber, ſo haſt du die 
Kunſt zu leben noch nicht gelernt! obgleich vielleicht ſchon die 
Hälfte deiner Tage verfloſſen. Suche an Allem, was dich zu⸗ 
naͤchſt berührt, die anmuthige Seite auf: ſuche Anmuth über 
Alles zu verbreiten, was in deinem häuslichen Kreiſe 
daſteht und geſchieht, und erinnere dich, wie vielen Verdrieß⸗ 
lichkeiten du in deiner Eingezogenheit entronnen biſt, während 
andere Menſchen ihr Daſein nur damit hinbringen, ſich gegen⸗ 
ſeitig zu ärgern und zu peinigen. | 

Wie wenig bedarf es, dem Genügſamen, fein Hab und Gut 
ſchön und behaglich zu finden; wie wenig, um durch Kleinig⸗ 
keiten ſeine Freuden vermehrt zu ſehen! Die rührendſten, tief— 
ſten aller Freuden ſind aber immer die Früchte unſerer 
nützlichen Thätigkeit. In dem, was du gethan und gearbeitet 
haſt, ſpiegelt ſich die Kraft deiner Seele ab. Je mehr du die 
Früchte deines Fleißes ſiehſt, je mehr Achtung gewinnſt du für 
dich ſelbſt. Wo wohnſt du ſchöner, als in deinen Schöpfungen? 
Gott ſelbſt iſt ſelig in ſeinen Werken. Die einzelne Blume, welche 
du im Geſchirr am winterlichen Fenſter erziehſt, während draußen 
Stürme, Schneeflocken und Regenſchauer vorübertreiben, erfreut 
dich inniger, als eine ganze Wieſe voller Blumen, die ohne dein 
Zuthun prangt und nicht dein Eigenthum heißt. 

Spare dir immer eine kleine Freude, eine Hoffnung 
für den folgenden Tag auf, die deine Gedanken angenehm 
bejchäftigt: fo wirft du jeden neuen Morgen fröhlich und erwar- 
tungsvoll begrüßen. Du wirſt nie einſam ſein; du wirſt nie die 
geräuſchvollen und dornenreichen Luſtbarkeiten der übrigen Welt 
vermiſſen; du wirſt den Tag ſegnen, da du dich entſchloſſen, ge— 
nügſam zu fein mit Wenigem, thätig zu fein in Vielem; Freund 
und Vertrauter zu ſein Wenigen, aber Bruder und Beiſtand zu 
ſein Vielen. Du wirſt die geheime Kraft zu leben ergründet 


— 235 — 


haben, und in dem ſtillen Glück dein Höchftes finden. Du wirft 
unabhängig von der Welt dir ſelbſt gehören und Gott. 

Was wäre Glück, ohne Gott? Wer könnte in ſich ſelig fein, 
ohne frohen Hinblick auf den erhabenen Lenker unſerer Schick— 
ſale, auf den Beherrſcher der Ewigkeit? — das Bewußtſein, durch 
redliche Erfüllung aller Pflichten Gottes Beifall zu haben; in 
Gott einen ewigen Freund und Beſchirmer zu haben, iſt es, was 
das ſtille Glück des häuslichen Lebens krönt. Denn auch in 
uuſerer Anſpruchloſigkeit, in unſerer Eingezogenheit können uns 
Unfälle treffen, die unſer Wohlſein erſchüttern. Es iſt ja irdiſch, 
das heißt, vergänglich! — Auch im kleinſten der häuslichen 
Kreiſe find ſchmerzhafte Veränderungen möglich. Aber ein Geiſt, 
der mit Gott innig vertraut und verwandt iſt, ſichert damit auch 
gegen die furchtbarſten Stürme den Frieden des Gemüths. Er 
kann Vieles verlieren — aber ſeinen Gott, ſeinen Vater nicht. 
Und wer ihn hat, der hat nichts verloren. 

Ohhne Dich, mein Vater im Himmel, Vater der Meinigen, 
| Vater der Welt, iſt alles Erdenglück gefährliche Selbſttäuſchung 
und Traum. Nur in Dir, mit Dir, durch Dich iſt eine wahr- 
hafte Seligkeit möglich. Darum halte ich feſt an Dir. Und wenn 
mich Alles verläßt, Du willſt mich nicht verlaſſen. 

. Darum will ich auch alle Lebensfreuden als nichts Anderes, 
denn als Geſchenk von Dir genießen; meine Geliebten nur als 
Begleiter meines Lebens betrachten, die du mir auf längere oder 
kürzere Zeit gabſt. Vielleicht rufſt Du ſie aus meinen Armen 
früh zurück; zwar die Thräne meiner Liebe und Sehnſucht wird 
ihnen folgen — aber ſie eilten nur zu Dir, Vater unſer Aller! 
Einſt empfange ich ſie wieder. Du trennſt die Seelen nicht, die 
Du verbandeſt. Was bei Dir im Ewigen wohnt, iſt mir nie 
entriſſen. 

4 


27. 
Die Gaben des Glücks. 


1. Petri 4, 10. 


Nicht um Reichthum „nicht um Ehre, 
Bitt ich, Gott, mein Vater, Dich. 
Wenn ich Weltbeſitzer wäre, 
Ohne Gott, wie arm wär ich! 
Weisheit nur, Dich zu erkennen, 
Gib mir, und ein frommes Herz, 
Das Dich kindlich Vater nennen 
Darf in Freuden und in Schmerz: 
Kraft und Muth in bangen Stunden, 
Demuth in des Glückes Schoos, 
Mitgefühl bei Freundeswunden — 
Wer dies hat, iſt reich und groß! 


Warum theilte die göttliche Vorſehung auch ihre irdiſchen Ge 
ſchenke fo ungleich aus? Warum mußten die größten Glücksgüt 
oft in der Hand des Unwürdigſten liegen? Warum fehlte es 
oft der tugendhafteſten Familie an ihren nothwendigſten Mitteln 
Warum muß der Weiſe und Einſichtsvolle vielmal in Dürftigke 
ſchmachten, im Dunkeln leben? Warum kann der unwiſſend 
Thor, der unnütze Müßiggänger in Herrlichkeit und Glanz woh 
nen, und die höchſten Ehrenämter bekleiden? — Warum hat de 
Himmel ſo oft den guten Willen des Menſchenfreundes ohr 
Kraft gelaſſen? Warum warf er die ſchönſten Gaben und Güte 
ſo oft in die Hand des ungerechten Böſewichts? Welch ein Him 
mel würde die Erde fein können, wenn die Tugend, die Frömmig 
keit, die Weisheit auch ſchon hienieden mit der möglichiten en 
ſeligkeit vereint wäre! 

Solche Fragen thut der Sterbliche oft, wenn er das Saft 
auf dem Throne, die Tugend im Staube der Niedrigkeit erblick 
Solche Fragen wiederholt noch öfter der Menſch, wenn er in eine 
Anwandlung von Unzufriedenheit ſein Schickſal, ſein Vermögen 
ſeinen Stand mit der Lage anderer Perſonen vergleicht, von dene 
er überzeugt iſt, daß fie ihn weder an Güte des Herzens, noch a 
Eigenſchaften des Geiſtes übertreffen. Er klagt mit dieſen Fra 
gen, oft ohne es zu wollen, die Weisheit der Vorſehung an, ode 


* 


=: 2 
| 


beſeufzt wenigſtens, daß fie ihn nicht fo ſehr, denn viele Andere, 
begünſtigt habe. 

Aber iſt denn die Vorſehung in Vertheilung ihrer Glücks⸗ 
gaben wirklich ſo ganz ungerecht geweſen? Wer iſt denn auf Erden 
ſo ſehr ihr Liebling, ihr vor allen Andern Begünſtigter, den du 
vorzugsweiſe beneiden könnteſt? 

Sammle dein Gemüth; prüfe einmal die Werke der Vor⸗ 
ſehung mit Aufmerkſamkeit und Ernſt, in ſo weit das Auge des 
kurzſichtigen Menſchen fähig iſt, die Weltregierung zu über— 
ſchauen. — Eine jede ernſte Betrachtung derſelben wird dich von 
deiner Ungerechtigkeit überführen; wird dich überzeugen, daß nicht 
deine beſſere Vernunft, ſondern deine Habſucht, dein Ehrgeiz, 
dein Hang zum Wohlleben aus dir ſprachen; wird dich mit den 
Anordnungen der göttlichen Weisheit ausfühnen. 

Dau beſchwerſt dich unzufrieden über die ungleiche Vertheilung 
der irdiſchen Glücksgüter? Das heißt, du beflagft dich am Ende 
nur, daß dir nicht ſo viel Vermögen, Wohlſtand und Anſehen 
zu Theil geworden ſei, als Andern, die davon mehr als du be- 
ſitzen. Es iſt nicht dein Erbarmen mit Andern, die viel ärmer 
ind als du: es iſt dein Neid gegen Vermögendere, welcher dir die 


große, ſchöne und zur Veredlung des Menſchengeſchlechts höchſt 
wohlthätige Mannigfaltigkeit der Stände und Schickſale; du ſelbſt 
w ürdeſt nicht in einem Lande oder in einer Welt leben mögen, 
wo dir an Talent, Vermögen und Anſehen Alle gleich wären; 
wo Keiner des Andern nöthig hätte; wo Keiner fein Talent, Ver⸗ 
mögen und Anſehen erweitern könnte; wo Alles im ewigen Einerlei 
uhen müßte, nicht vorwärts rückte; wo ſich Niemand um dich 
bekümmern möchte, weil Alle ſo unabhängig von dir ſind, als 
du von ihnen biſt. | 

Wenn du dann alſo nur der Vorſehung deinetwillen Bor- 
vürfe über die ungleiche Vertheilung der Erdengüter machſt: 
warum willſt du derer vergeſſen, die noch nicht ſo viel davon 
haben, als du ſchon beſitzeſt? die vielleicht des Glücks ſo würdig 
und noch würdiger find, als du? Soll die Weltordnung ſich denn 
ilſo verkehren, deiner kleinlichen Eitelkeit recht wohl zu thun? 


Klage auspreßt. Du ſelbſt würdeſt ſie nicht zerſtören wollen, die 


— 298 — 


Deine Forderungen waren die Forderungen eines frechen Ueber⸗ 
muthes, eines Wahnſinnes aus Selbſtſucht; Menſchen würden, 
wenn du ſie laut äußerteſt, fie und dich verachten; glaubſt du, 
der Allweiſeſte ſoll ſeine Allmacht zur Dienerin deiner Thorheiten 
machen? | 
Du ſprichſt: Aber warum mußten auch die irdiſchen Glücks⸗ 
güter oft in der Hand des Unwürdigſten liegen? — Wen nennſt 
du den Unwürdigſten? Denjenigen, welcher von den ihm verlie⸗ 
henen Gaben keinen nützlichen Gebrauch zu machen verſteht. Biſt 
du aber zuletzt der unparteiiſche und wohlwiſſende Richter deſſen, 
den du den Unwürdigſten nennſt? Biſt du der Eingeweihte in die 
Geheimniſſe der großen Weltordnung, daß du den Vortheil und 
Schaden dieſer Einrichtungen genau zu beſtimmen vermagſt? Wer 
iſt dir Bürge dafür, daß Millionen andere Menſchen mit den 
ihnen verliehenen Glücksgütern edler handeln, als Derjenige, den 
du verdammſt? Du bemerkſt nur dieſen Einzigen, weil ſein An⸗ 
ſehen, ſeine Macht, ſein Reichthum dich blenden; aber du kennſt 
das Thun und Laſſen jener Millionen nicht, weil ihr Wirkungs⸗ 
kreis viel kleiner iſt. Biſt du dir ſelbſt Bürge, daß du unter an⸗ 
dern Verhältniſſen eben fo denken, fo handeln würdeſt, wie jetzt 
in deiner beſchränkten Lage? Wie oft haft du nicht, je nachdem 
ſich nur im Kleinen deine Umſtaͤnde änderten, deine Sprache und 
dein Betragen, oft ſogar deine Abſichten und Grundſaͤtze verän⸗ 
dert? Wie oft erging es dir nicht wie dem Jünger Jeſu, der erſt 
in der Begeiſterung der Freundſchaft ſchwur, für den göttlichen 
Lehrer hundertmal das Leben zu laſſen, und ihn nachher in der 
Stunde der Angſt dreimal verläugnete, ehe der Hahn zweimal 
kraͤhte. — Richte nicht, fo wirft du nicht wieder gerichtet! Bere 
damme nicht den Mann, der unter andern Verhältniſſen, mit an- 
derer Erziehung, mit andern Anſichten und Leidenſchaften anders 
handelt, als du. Hätte, ſtatt deiner Mutter, dich eine Fuͤrſtin ges 
ſaͤugt; hätte dich, ſtatt des ſchlichten Gewandes, ein Purpur be⸗ 
kleidet; wäre dein Stuhl ein Thron, dein Freund ein ſchmeichelnder, 
aus Heuchelei und Eigennutz dich vergötternder Höfling geweſen: 
kannſt du wiſſen, was du dann wäreft? | 
Und wie? bift du auch in deinen eingeſchraͤnkten Glücksum⸗ 


* oe mm nn 


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— 239 — 


ſtänden der Würdigſte, fie zu genießen? Kannſt du ſagen, von 
ihnen jederzeit den weiſeſten Gebrauch gemacht zu haben? O wie 
viel Andere, die nicht das beſitzen, deſſen du dich rühmen kannſt, 
würden damit edler, wohlthätiger, gemeinnütziger für die Welt 
geweſen ſein! Warum verdammſt du nun Andere, und dich nicht 
zuvor? 

Du ſprichſt: Warum ließ die Vorſehung ſo oft den guten 
Willen des Menſchenfreundes ohne Kraft, und ſtattete das Laſter 
mit Mitteln aus? — Biſt du gewiß, daß die Familie, welche 
heute in ihrer vermeinten Armuth tugendhaft und folglich inner- 
lich beglückt iſt, Tugend und Seelenglück kennen würde, wenn 
ſie mit Reichthümern, mit den Verführungen des Wohllebens 
umgeben geweſen wire? Blödſinniger Sterblicher, du beklagſt 
oft das Schickſal, aus welchem, dir unbewußt, Glück und Heil 
quellen, und möchteſt dafür Glanz und Jammer wünſchen. Und 
ward das Laſter auf Erden wirklich mit großen Mitteln ausge» 
ſtattet: ſo war die Wirkung nothwendig, daß die Tugend in ſich 
ſelbſt deſto größere Kraft entwickle, dem Laſter zu widerſtehen. 
Tauſend herrliche Talente würden unbekannt und nutzlos ſchlum- 
mern, wenn die Noth ſie nicht erweckt hätte. Tauſend wohlthaͤ⸗ 
tige Erfindungen und Entdeckungen wären noch verborgen, wenn 
Armuth und Bedürfniß fie nicht aus der Dunkelheit hervorge- 
riſſen Hätte! 

Siehe um dich, welches ſind die Gaben des Glücks? Und 
wurden ſie in der That mit ſo großer Ungleichheit vertheilt, als 
du in deiner Unzufriedenheit meinſt? 

In der Welt iſt kein Ungemach, welches nicht durch irgend 
einen Vortheil wieder vergütet worden waͤre; kein Mangel, den 
nicht irgend ein Gutes begleiten ſollte. Kein Land iſt dem an— 
dern an Naturgaben gleich, aber jedes hat ſeine eigenthümlichen 
Reize und ſeine beſondern Annehmlichkeiten. Da uns nun Ge- 
wohnheit ſehr leicht mit manchen Uebeln ausſöhnt, findet jeder 
Einwohner fein Vaterland vorzüglicher als alle andere Länder. 
So iſt es auch mit dem einzelnen Menſchen. 

Jene Familie iſt reich an mancherlei Gütern, aber fie iſt un⸗ 
glücklich durch die Schickſale ihrer Mitglieder! fie beneidet dit 


— 240 — 


Liebe, die Eintracht, die ewige Heiterkeit in einer viel ärmern Fa⸗ 
milie. — Beklagenswerth iſt Jener, der einen beſchränkten Ver⸗ 
ſtand hat, und immerdar unter der Leitung Anderer abhängig 
leben muß. Aber er hat Vermögen, und iſt vor Hunger und 
Elend geborgen. — Dieſer dort könnte im vollen Ueberfluſſe leben, 
aber von ſeinem Reichthum genießt er wenig, denn er ringt un⸗ 
aufhörlich mit Kränklichkeit des Leibes. — Dort ein Anderer iſt 
ohne Reichthum, er lebt dürftig; aber er hat genug, weil er ar⸗ 
beitſam iſt, und dieſe Arbeitſamkeit ſchützt ſeine Geſundheit. — 
Wieder ein Anderer iſt ohne Anſehen, ohne Ehrenſtellen, ohne 
Einkünfte, aber in ihm wohnt ein heller Geiſt; feine Kenntniſſe 
erheben ihn über tauſend Andere; er würde nicht ſeine Einſicht 
gegen ihr todtes Gold vertauſchen. 

So hat die weiſe Vorſehung die irdiſchen Glücksgüter zuletzt 
nicht ſo ungleich vertheilt, als es beim erſten Anblick oft den 
Schein haben mag. — Es iſt auf Erden Niemand der Reichſte, 
Niemand der Aermſte; Jeder hat noch Etwas, das er als Vorzug 
an einem Andern beneiden möchte und ſich wünſcht; Jeder hat 
Vorzüge, die vielen Andern fehlen. Nicht Einer beſitzt Alles; 
Alle haben Einiges. Jeder iſt von Gott auf beſondere Weiſe 
beſchenkt worden; Jeder iſt als Haushalter von einer beſondern 
Gabe Gottes anzuſehen, die ihm verliehen wurde. Darum die— 
net einander Jeglicher mit der Gabe, die er empfangen hat. 
(1. Pet. 4, 10.) | 

Darum klage nicht mehr über die von dir ungleich gehaltene 
Vertheilung der Glücksgüter. Sieh nicht auf diejenigen, welche 
dem Anſchein nach mehr empfangen haben, als du, ſondern auf 
die, welche nicht ſo viel Gutes genießen, als du. Erinnere dich, 
daß auch der, den du beneideſt, Eigenſchaften und Vorzüge an 
dir finden kann, die er nicht beſitzt und ſich vergebens wünſcht. 
Du beneideſt ſeinen Reichthum, er deine Geſundheit, du wün— 
ſcheſt dir ſeine Einſichten, er ſich deine Heiterkeit, deine Harmloſig— 
keit; du wünſcheſt dir ſeine Ehre, ſeinen Ruhm, er ſich deine 
ſorgloſe Lage in glücklicher Unbekanntheit, wo ihn keine Feinde 
und Neider verfolgen. Keinem fehlt Alles, aber Allen 
fehlt Einiges. 


— 241 — 


Je laͤnger wir die Vertheilung der Gaben des Glücks unter 
den Menſchen betrachten, je mehr werden wir darin mit der hohen 
Weisheit und Liebe Gottes vertraut; je zufriedener werden wir 
zuletzt mit demjenigen ſein, was er uns davon als unſern Theil 
zufallen ließ. — Denn es iſt Keiner auf Erden, der Urſache hätte, 
ſein Schickſal zu verwünſchen, es wäre denn, daß er es ſich ſelbſt 
durch eigene Schuld ſchrecklich und unerträglich gemacht hatte. — 
Und wer iſt zuletzt der Aermſte in der Welt? — Es iſt der Unzu⸗ 


friedenſte! — Wer iſt der Unabhingigfte und Reichſte? — Es 


iſt der Genügſamſte! — 

Um genügſam zu ſein mit den Gaben des Glücks, die dir 
Gottes Vaterhuld zuwandte, mußt du niemals die große und 
ewige Wahrheit vergeſſen: Das Glück der Menſchen iſt un- 
abhängig von Gütern der Erde. Nicht welcher das Beſte 
hat, ſondern welcher der Beſte iſt, der iſt ein Glücklicher. 

Hinge die menſchliche Glückſeligkeit von Glanz, Reichthum, 
Ehrenſtellen und großen Talenten ab: ſo würde der arme Tag⸗ 


| löhner jedesmal unglücklich, und der in Purpur gehüllte Fürſt 
der Glücklichſte ſein. Ach, wie oft findet das Gegentheil ſtatt! — 
Wie viele große und berühmte Menſchen ſind das Opfer der 
Sorge und des Kummers geworden, während der Niedrige und 
Unbekannte die Frucht ſeiner ſauern Arbeit mit Freudigkeit genoß! 


Du ſuchſt das Glück — du glaubſt es, von deinen Begier⸗ 


den geblendet, in glänzenden Mitteln zu finden. Aber nicht die 
Mittel ſind das Glück; ſie können ſelbſt nicht zu deinem Glück 


beitragen, weil Tauſende dennoch unglücklich ſind, welche jene 
Güter beſitzen, nach denen du ſeufzeſt. Suche nicht dein Heil in 


außerm Gute: ſuche es in der Güte deines Herzens, in der Weis- 
heit, die dich über das, was nur Staub war und iſt und bleiben 


wird, erhebt. Nicht wer das Beſte hat, ſondern wer der Beſte 


iſt, der iſt ein Glücklicher. 


Um genügſam zu ſein und glücklich mit dem Looſe, welches 


die Vorſehung dir gab, mache dich mit den Vortheilen und 


Vorzügen deiner Lage recht bekannt; lerne den Werth dei⸗ 
ner Verhältniſſe, in welchen du ſtehſt, ſchätzen, und zertritt nicht 


das Gute mit Füßen, fo dir zu Theil ward, um mit Unerfätt- 


III. 11 


— 2 


lichkeit immerdar nach dem zu haſchen, was du nicht haſt. Deine 
Ungenügſamkeit, die dich ſelbſt zum Tadel der Vorſehung, alſo 
zum Wahnſinn verleitet, iſt eine Folge deiner Sinnlichkeit, welche 
mächtiger als Vernunft und Religion in dir ſein will; iſt ein 
Beweis von der Kränklichkeit deines Gemüths, von der Schwäche 
deines Geiſtes. Heile dich, o Kranker, und du wirft dein Schickſal, 
dein Verhältniß ſegnen, wenn du es mit der Lage von Millionen 
deiner jetzt lebenden Nebenmenſchen vergleichſt. — Es iſt wahr, 
du haſt auch in deiner gegenwärtigen Lage manche Unannehm⸗ 
lichkeit. Aber prüfe dich wohl, ob du nicht auch durch deine 
Schuld beigetragen haſt, daß dieſe Uebel dich drücken; prüfe dich 
wohl, ob du auch ſchon alle in dir liegenden Mittel mit Ernſt 
verſucht haſt, dich von dem zu befreien, was dir Kummer verur⸗ 
ſacht. Iſt aber das Mangelhafte, das Unangenehme eine Folge 
deiner eigenen Schwäche, ein Beweis deiner eigenen Schuld: 
warum forderſt du von der Gottheit ein Wunder zum Beſten 
deiner Trägheit, oder deiner Vergehen? — Werde beſſer, ſo wird 
es beſſer ſein. 

Um genügſam mit den Gaben des Glücks zu ſein, die dir Got⸗ 
tes Güte verlieh, veredle Alles, was du haſt, und du biſt 
reich! Veredle dein Herz durch Tugenden, die dir noch fehlen; 
veredle deinen Verſtand durch Kenntniſſe und Erfahrungen. Ver⸗ 
edle deine Beſitzungen durch Fleiß, Thätigkeit, Ordnungsliebe, 
Sparſamkeit; ſetze an die Stelle des Goldes und der Pracht hohe 
Reinlichkeit und geſchmackvolle Einfalt; an die Stelle des Blen⸗ 
denden das Nützliche. Veredle deine Hausgenoſſen durch das 
Beiſpiel der Liebe, Achtung und Milde, welches du ihnen gibſt 
und von ihnen fordern kannſt; entferne allmälig den Ton der 
Rohheit aus den Geſprächen, den Geiſt der Liebloſigkeit aus allen 
Handlungen. Veredle deine Verhältniffe zu deinen Mitbürgern 
und Vorgeſetzten; meide unſittliche Geſellſchaften, erwirb dir 
durch Anmuth und Dienſtfertgikeit des Betragens die Freundlich” 
feit und Zuneigung der Bewohner deines Ortes; ſei der Erſte, 
der Hilfe anbietet, der Letzte, der Hilfe begehrt; werde in deiner 
gegenwärtigen Lage der Beſte, fo wirft du das Beſte haben: 


1 


Seelenruhe, Zufriedenheit mit Gott und deinem Schickſal, der 
Menſchen Gunſt, der Vorſehung Segen! 

Glücksgaben find aber jederzeit Gottesgaben, und 
Gott gibt dir ſo viel an äußern Gütern, als dir zu deinem und 
Anderer Beſten wohlthätig ſein können. O du, des Staubes 
Wurm, meiſtere die Allweisheit nicht in den Maßregeln, die ſie 
zum Heil ihrer Welt ergriff; zweifle nicht an der Unendlichkeit 
ihrer Liebe; wanke nicht in deiner Zuverſicht an ihre Fürſorge, 
die deiner ſchon gedacht hat, ehe du warſt. 

Sei mit dem, was dir die Gottheit aus der Fülle ihres Se- 
gens zukommen ließ, ein weiſer Haushalter, und über das We— 

nige getreu, welches ſie dir anvertraute. Es wird der Tag der 
Rechenſchaft, es wird der Tag deines Lohnes kommen. Es wird 
unvermuthet dein freudiges Schickſal dir erſcheinen und ſagen: 
Der Herr ſpricht zu dir, du frommer und treuer Knecht, du biſt 
über Wenigem getreu geweſen, ich will dich über Viel ſetzen. Gehe 
ein zu deines Herrn Freuden! (Matth. 25, 23.) 

Sei mit den Gaben des Glücks ein treuer Haushalter, be- 
wahre ſie vor Mißbrauch. Zerrütte deine Geſundheit nicht durch 
Wolluſt, Weichlichkeit und Uebermuth; zerrütte dein Vermögen 
nicht durch Verſchwendung, Unordnung und traͤges Leben; ver⸗ 
ſchwende deine Verſtandeskräfte nicht zu unnützen, thörichten 
Dingen, aus denen kein Heil entſpringt; gebrauche dein Amt, 
dein An ſehen, deinen Einfluß nicht bloß, um vor der Welt in 
Stolz und Eitelkeit zu glänzen: ſondern was du des Guten em⸗ 
pfangen haſt, ein Jedes ſei ein Pfund, mit dem du zum Wohl der 
Welt, zur Freude deiner Familie, deiner Mitbürger wuchern ſollſt. 
UUrquell aller guten und vollkommenen Gaben, gnadenvoller, 
an Güte und Barmherzigkeit unendlicher Gott, weiſer Ordner 
der Welt, Vater der Welten, Vater aller Völker, o mein Vater! 
Keines Deiner Gefchöpfe haft Du vergeſſen; Jeglichem gabſt Du 
das Vermögen, ſich ſelbſt und Andere zu beglücken. Wunderbar 
mannigfaltig ſind die Gaben, die Du vertheilteſt; aber eben durch 
dieſe Mannigfaltigkeit knüpfteſt Du Völker an Völker, Menſchen 
an Menſchen; dadurch haft Du fie alle für einander zum Be⸗ 
dürfniß gemacht, und die Sterblichen zu gegenſeitiger Freund— 


— 244 — 


ſchaft und Verpflichtung geleitet. Die Gaben des Einen ſind des 
Andern Bedürfniß; und wo Einer Noth leidet, kann der Andere 
helfen. Keiner hat Alles, Keiner iſt vollkommen, Keiner ſoll des 
Andern entbehren können. Und indem Jeglicher dienet dem An⸗ 
dern mit der Gabe, die er empfangen hat, iſt die Wohlfahrt Aller 
angeordnet. 

Genügſam mit dem, was Du auch mir und den Meinigen 
gewährt haſt, wollen wir, fern von jedem Mißbrauch Deiner 
Gaben, den höchſten Gewinn daraus ziehen: Beförderung allge⸗ 
meiner Zufriedenheit und Glückſeligkeit. Was hilft uns die höchfte 
Fülle von Glücksgütern, wenn wir ſie nicht mit Weisheit zu be⸗ 
nutzen verſtehen! Auch mit Wenigem können wir reich ſein. Wer 
aber Dich im Herzen hat, o Gott, iſt reich, ohne Untergang! 


28. 
Das ÜUrtheil der Welt. 


Epheſ. 4, 22 — 32. 


Die Menſchen richten nach dem Schein, 
15 Nach eigner Leidenſchaften Reize; 
Die heut' ein Hoſtiannah ſchrei'n, 
Sie ſchleppen morgen dich zum Kreuze. 


In unſerm eignen Buſen wohnt 
Ein Richter, welcher, unbeſtochen, 
Schon oft den frommen Sinn belohnt, 
Oft meiner Luſt den Stab gebrochen. 


Und wird auch kein Gewiſſen laut, 
Ein Andrer lebt, ein Andrer richtet, 
Der durch der Herzen Tiefen ſchaut, 
Und die geheimen Thaten ſichtet. 


Du biſt's, o ew'ger Richter, Gott! 
Könnt' ich vor Dir unſträflich leben, 
Dann dürft' ich vor der Menſchen Spott, 
Wohl mir! dann ſelbſt vor Dir nicht beben! 


r — 


Mancher, der aus Erfahrung weiß, wie wankelmüthig und 


unzuverläſſig das Urtheil des großen Haufens iſt, trägt kein Be— 


* 


1 


denken, fich ſtolz über daſſelbe hinwegzuſetzen, und zu thun, was 


d 
* 


7 


4 


| 


a 


— 245 — 


ihm beliebt, ohne ſich um Anderer Meinung von ihm zu bekuͤm⸗ 
mern. Noch mehrere aber, und gewiß die Meiſten, ſetzen wieder 
in das Urtheil der Welt einen allzugroßen Werth, find allzuem- 
pfindlich gegen die gute oder üble Meinung, die man von ihnen 
hegt, und thun am Ende mehr, um Andern zu gefallen, als ihnen 
ſelbſt heilſam iſt. 

Dies iſt nun eine Hauptquelle von mancherlei Unzufrieden- 
heit unter den Menſchen. Die Ruhe vieler Einzelnen und das 
Glück vieler guten Familien iſt dadurch geſtört. Noch täglich ent- 

ſpringen aus unſerer allzugroßen Empfindlichkeit gegen die Ur- 
theile über uns Spannungen, Streitigkeiten und gramvolle Augen- 
blicke. 

Wir würden manche bittere Stunden des Lebens weniger 
gehabt haben, und noch jetzt weniger leiden, wenn wir uns von 
dem Urtheile der Welt einen richtigen Begriff gemacht hätten. 

Allein leider geſchieht zu allgemein das Gegentheil! Und jo 
viel unangenehme Tage wir uns auch durch unſere Empfindlich— 
keit zugezogen haben, bringen wir doch ſelbſt den Kindern in 
früher Jugend ſchon eine allzuhohe Vorſtellung vom Werthe der 
öffentlichen Meinung bei. Was thun wir? Ach, wir bereiten 

auch unſern Kindern unvorſichtig genug eine böfe Zukunft, und 
leiten ſie, gewiß gegen unſern Willen, auf falſche Wege. Täglich 
hören wir hie und da zu Kindern ſagen: „Was werden die Leute 
davon denken?“ Selten oder nie flüftert eine gute Mutter ihrem 
Kinde zu: „Was wird der allwiſſende Gott von dir urtheilen?“ 

Dieſe Redensart: Was werden die Leute ſagen! hat ſich von 

Kindheit an unſeres Gemüthes bemächtigt. Daher kommt es, 
daß es uns noch mehr darum zu thun iſt, gut zu ſcheinen, 
als gut zu ſein; daß wir neugieriger auf den Ausſpruch der 
Welt, als auf die Stimme unſers Gewiſſens horchen; daß wir 
uns ſchon beruhigen, wenn die Menſchen vortheilhaft von uns 
denken, unbekümmert, ob wir auch mit dem himmliſchen Richter 
eben ſo gut ſtehen. | | 

Elender Nothbehelf ſchwacher Seelen! — Einſt an unjerm 
Sarge verſtummen die Urtheile der Sterblichen, aber das Urtheil 

des Weltrichters verſtummt nicht. Das gute Zeugniß der ſich 


| 
| 


— 246 — 


leicht blendenden Menſchen hilft uns nichts vor dem, der die 
Herzen prüft, und deſſen furchtbare Allwiſſenheit von keiner Täu⸗ 
ſchung hintergangen werden kann. Das Urtheil der Welt gründet 
ſich bloß auf den Anblick der äußern Dinge; denn wie mag 
das Auge der Menſchen in die Geheimniſſe der Herzen ſchauen? 
Es richtet nur den Schein, und zieht Folgerungen aus dem⸗ 
ſelben. Wie oft kann es da betrogen werden! Die Menſchen 
machen immer nur ihre eigenen Einſichten, ihre eigenen 
Neigungen zum Maßſtab, womit fie die Handlungen Anderer 
meſſen. Wie unzuverläſſig ift dieſer Maßſtab! 
Wenn man alſo weiß, aus welchen unlautern Quellen das 
Urtheil der Welt fließt: kann man demſelben einen ſo hohen 
Werth beilegen? Wie oft iſt nicht ſchon der tugendhafteſte Menſch 
von ſeinen Mitbürgern ſchmerzlich verkannt worden? Wie oft 
haben nicht die Zeitgenoſſen einen Mann verläſtert und verachtet, 
dem die dankbaren Nachkommen Ehrenſäulen auf dem Grabe 
errichteten? Wie oft iſt nicht ein Anderer noch bis zum Sterbe⸗ 
bette hochgeprieſen worden, von dem erſt nach dem Tode die 
Schandthaten eines vollendeten Böſewichts offenbar wurden? 
Palmen ſtreute das Volk einſt dem göttlichen Erlöſer, und mit 
feierlichen Geſängen begrüßte es ſeinen Einzug in Jeruſalem; und 
eben dieſes Volk ſchrie dann wieder das gräßliche: „Kreuzige! 
Kreuzige ihn!“ auf ihn herab. — Wie manche Unſchuld hat 
nicht ſelbſt durch die Kurzſichtigkeit der Richter auf Erden im Ge⸗ 
fängniſſe verſchmachten, und ſtatt der Ehrenkrone das Blutgerüſt 
ſehen müſſen? 
Aber da es ebenfalls ſehr gefährlich iſt, uns mit ſtolzer Ver⸗ 
achtung in allen Fallen über die Meinungen Anderer von uns 
hinwegzuſetzen; da es uns nie gleichgültig ſein darf, bei unſern 
Mitbürgern in gutem oder böſem Rufe zu ſtehen, indem wir oft 
nur dann erſt Gutes thun und nützlich wirken können, wenn man 
uns das Gute zutraut — ſo wird dem Chriſtrn die Frage wichtig: 
Wie ſoll ich mich bei dem Urtheile der Welt verhalten, 
es gehe nun über Andere oder mich? 
Zuerſt will ich bedenken, was ich als Chriſt zu thun 
habe, wenn die Welt über meine Freunde, Verwandten 


PR: 


und Bekannten ihr Urtheil fällt. Denn derſelben Wohl 
und Wehe iſt mir nicht gleichgültig; ich lebe mit ihnen in Ver⸗ 
bindung, und leide mit ihnen, wenn ſie leiden müſſen. 

Wenn über einen deiner Bekannten eine gewiſſe Meinung 
herrſchend wird, die feinem guten Namen Gefahr bringen kann, 
fo forſche erſt nach, wer der Urheber der übeln Gerüchte ſei. Haft 
du einmal die Quelle entdeckt, ſo wirſt du leicht wiſſen, ob ſie 
lauter oder unrein ſei; aber meiſtens iſt dies ſchwer zu errathen. 
Meiſtens ſind ungünſtige Urtheile nur elende Nachſprechereien 
müßiger und geiſtloſer Menſchen, welche ſchadenfroh, oder um 
ſich wichtig zu machen, dasjenige wieder ſagen, was ſie irgendwo 
gehört oder übel verſtanden haben. Meiſtens iſt es der verſteckte 
Haß, oder der geheime Neid, oder die verächtliche Spottſucht 
ſchlecht erzogener Leute, oder die Schadenfreude, welche von Die— 
ſem oder Jenem etwas Böſes gemuthmaßt hat, und die pöbel- 
hafte Leichtgläubigkeit gibt mit geſchwätziger Zunge die unanſtaͤn⸗ 
dige Vermuthung als eine Wahrheit wieder aus. 

Darum hüte dich, blindlings in das Urtheil der 
Welt einzuſtimmen, um dich ihrer Schuld nicht theilhaftig 
zu machen. Richte nicht, Gott wird dich wieder richten, und mit 
dem Maße, mit welchem du miſſeſt, wird dir wieder gemeſſen 
werden. (Matth. 7, 2.) Höre das Urtheil der kurzſichtigen Men⸗ 
ſchen, aber glaube ihm nicht ſogleich, und noch weniger hilf das- 
ſelbe ausbreiten, wenn du nicht ein verächtliches Werkzeug der 
Verleumdung zu ſein Luſt haſt. Schweige nicht, wo man ſich 
mit lachender Miene oder voll ſcheinheiligen Bedauerns nachthei- 
lige Meinungen über den Nächten erlaubt. Nein, ſchweige nicht, 
ſondern rede das Gute, das Lobenswürdige, was du irgend von 
ihm weißt. Sei du, ſo viel du es ſein kannſt, ſein Fürſprecher, 
der ihn entſchuldigt, wenn er ihn nicht ganz rechtfertigen kann. 
Siehe, deine Sanftmuth, deine Güte wird den Verleumder ſelbſt 
für dich einnehmen, indem er fühlt, du werdeſt bei anderer Ge- 
legenheit auch ihm das Wort reden. Du wirſt die dankbare Liebe 
deſſen erregen, der durch dich mitten unter Läfterungen jcho- 
nungsvoll behandelt und geehrt ward. | 

Ach, wie unzuverläſſig iſt das liebloſe Urtheil der Menſchen, 


— 248 — 


und wie bitter iſt die Thräne des Grams, welche aus dem Auge 
verleumdeter Unſchuld fällt! Daß du doch in deinem Leichtſinn 
nie an ſolchen Geſprächen den ſchlechten Theil genommen hätteſt; 
daß keine jener Thränen auf deiner Seele brennen möge! 

Aber auch denjenigen prüfe, den das Urtheil der 
Welt ſo hart richtet. Erforſche, wodurch er in ſeinem Betra⸗ 
gen zu der ungünſtigen Meinung Anlaß von ſich gegeben habe. 
Iſt er dein Freund, dein Bekannter, gehe zu ihm, mache ihn ſelbſt 
mit zarter Schonung aufmerkſam auf die Welt und auf ſich. 
Und findeſt du ihn unſchuldig, ſo habe Muth genug, der Be⸗ 
ſchirmer ſeiner Unſchuld zu werden. Tritt hervor und vernichte 
die Verleumdung, doch ſchone liebreich des Verleumders, wenn 
es die Umſtände geſtatten. Ziehe die Wahrheit an das heitere 
Tageslicht, und berichtige du das Urtheil der Welt. 

Findeſt du eine verleumdete Unſchuld, eine verkannte Tugend, 
ſei, wo du es kannſt, der Retter ihrer Ehre, zerſtreue die falſche 
Meinung. Richte dich nicht nach dem Urtheile der Welt, und 
bleibe dem Verkannten treu. So that Jeſus Chriſtus. „Er 
geht mit Zöllnern und Sündern um!“ ſprach verächtlich die Welt. 
Jeſus aber hörte die Stimme ſeines Vaters, nicht die Stimme 
der Welt. 

Vorſichtig aber vermeide auch den Umgang desjeni— 
gen, der unter ſeinen Mitbürgern allgemein in übelm 
Rufe ſteht, und welchen du nicht genauer kennſt. Und 
hindern dich deine Verhältniſſe, daß du dieſem Umgang nicht aus⸗ 
weichen kannſt, ſo ſcheue dich vor nähern Verbindungen. Denn 
böſe Geſellſchaft verdirbt unbemerkt gute Sitten, und traue dei— 
ner Tugend nicht allzugroße Kraft zu, verführeriſchen Beiſpielen 
und Worten lange zu widerſtehen. Fliehe die Verſuchung; wer 
ſich ſelbſt in Gefahr begibt, kommt leicht darin um. | 

Siehſt du, daß deine Bekannten und Freunde Unanftändig- 
keiten lieb gewinnen und das Gerede der Welt werden; ſiehſt du, 
daß deine Bitten, deine Warnungen fie nicht zurückbringen: dann 
habe Muth genug, dich von ihnen loszuſagen. Dies iſt die erſte 
Strafe ihrer Thorheit, daß fie ſich von guten Menſchen verlaſſen 


— 249 — 


ſehen. Sprich, wie David: ich will nicht ſitzen, wo die Spötter 
ſitzen und die Ungerechten. (Pſ. 1, 1. 2.) 

Nicht nur wirſt du dein eigenes Herz retten, ſondern auch 
deinen guten Ruf, der dir ſo heilig ſein muß, als du ohne ihn 
deinen Mitbürgern nicht nützlich ſein kannſt. Es iſt dir Pflicht, 
ohne die wichtigſten Gründe nie deine Ehre aufzuopfern. Es iſt 
dir Pflicht, den Namen, welchen du von deinen Vätern enn 
rein und ohne Tadel zu bewahren. 

Darum aber kannſt du auch nicht gleichgültig bleiben, wie 
du dich zu verhalten haſt bei dem Mrihee der Welt über 
dich ſelbſt. 

Vor allen Dingen erinnere dich, wenn du ſonſt ein reines 
Gewiſſen haft, beftändig daran, wie unbeſtändig die Menſchen in 
ihren Meinungen ſind; wie ſie morgen eben das loben können, 
was ſie heute verachten; wie ſie nur immer vom Schein geblendet 
werden, und ſelten auf das Weſen der Sache ſehen. Mache alſo 
das Urtheil der Welt nie zu deinem Abgott, ſondern nimm es 
für das, was es iſt, und nicht für mehr, ſo wirſt du dir manchen 
geheimen Verdruß erſparen, und nie der Spielball fremder Lau⸗ 
nen werden. 

Biſt du in dir ſelbſt von der Redlichkeit deines Sinnes, von 
der Rechtlichkeit und dem guten Zweck deiner Unternehmungen 
überzeugt, ſo laß die Menſchen immerhin ſchreien und tadeln. 
Gehe muthig deinen Weg fort, begleitet von Gottes Beifall und 
einem fröhlichen Gewiſſen. Mag dich auch die ganze Welt ver- 
kennen, Gott verkennt dich nicht. Mußt du auch um der gerechten 
Sache willen Hohn, Verfolgung, Spott und Verleumdung leiden: 
laß dich Alles nicht anfechten; ohne Kampf iſt kein Sieg! Der 
Beifall Gottes und deines Gewiſſens hält dich ſchadlos für die 
Bosheit deiner Neider, deiner Verfolger. 
| Wie viele ſegensvolle Werke, wie viele nützliche Einrichtun⸗ 
gen, wie viele preiswürdige Stiftungen würden wir noch am 
heutigen Tage entbehren, wenn die edeln und ſtandhaften Män⸗ 
ner, denen wir ſolche zu verdanken haben, ſich hätten durch das 
Geſchrei der unwiſſenden Menge leiten laſſen! Spotte des Urtheils 


— 


der Welt, und blicke voll hohen Muthes auf Gott, wenn du das 
Gute thun willſt. 

Nur kleinmüthige Seelen laſſen ſich von dem Urtheil der Welt 
verführen, nicht ſo viel Gutes zu ſtiften, als ſie ſich oder Andern 
ſtiften könnten. Nur ſchwache Menſchen, ohne Vertrauen auf die 
göttliche Vorſehung, ohne Vertrauen auf eigene Kraft, wollen 
lieber den blinden Sterblichen, als dem allſehenden Auge Gottes, 
gefallen. 

Und dieſer Unglücklichen ſind Viele, denen das Urtheil der 
Sterblichen wichtiger, als das Urtheil Gottes iſt. Hier erröthet 
ein Irrender, ſeinen begangenen Fehler einzugeſtehen, eine andere 
Lebensart anzufangen, und beharrt aus Stolz auf einem böſen 
Wege, der ihn früh oder ſpät zum Abgrunde führt. Er will vor 
der Welt nicht lächerlich werden, er will einigen ſeiner Feinde den 
Triumph nicht gönnen über ſich, und lieber den Fluch ſeines 
Gewiſſens und die Reue der Ewigkeit tragen. Er geht hin und 
verübt eine neue Untreue, um den erſten Fehltritt zu verheim⸗ 
lichen; er geht hin und ſtreckt die Hand zu einem Verbrechen aus, 
um die begangene Untreue zu verhüllen, und verwickelt ſich in ein 
Netz von Vergehungen, aus dem er nie wieder hervortritt. Er 
fürchtete den Spott der Welt, und machte ſich nun zu ihrem 
Abſcheu. 

Dort treibt ein Anderer, um eine günſtige Meinung für ſich 
zu behalten, einen Aufwand, der den Kräften ſeines Vermögens 
nicht angemeſſen iſt. Er will mehr ſcheinen als er iſt. Er opfert 
dem Urtheile den Welt den Wohlſtand und das Glück feiner Fa⸗ 
milie auf, opfert ihm ſeine eigene Zufriedenheit und innere Ruhe 
auf, bis ſeine Kraft erliegt, und er die Verachtung und das Mit⸗ 
leiden Aller iſt. 

Wie manchen Unglückſeligen, dem von Jugend auf die Mei⸗ 
nung der Meuſchen allzuwichtig gemacht worden, hat die Furcht 
vor derſelben zur Verzweiflung, ja zum blutigen Selbſtmorde 
getrieben! 

Nein, mein Herz, ſo lange du Gottes Blick nicht zu ſcheuen 
haft, zittere nicht vor dem Blick der Menſchen. Auch den Edelſten, 


— 31 — 


du weißt es ja, hat die Verleumdung getroffen; und vor ge- 
ſchwätzigen Läfterzungen iſt keine Unſchuld geborgen. 

So ſchwankend und unbeftändig aber immer auch das fein 
mag, was die Welt von dir ſpricht, biſt du darum doch nicht 
verpflichtet, geduldig Ungerechtigkeiten zu tragen, wenn ſie dir 
die Achtung der Menſchen rauben könnten. Du biſt es ihnen, du 
biſt es dir, du biſt es den Deinigen ſchuldig, deinen guten Ruf 
zu retten, wenn er durch Verdaͤchtigungen von Verbrechen und 
Laſtern angegriffen wird. Stillſchweigen würde einem Geſtaͤndniß 
gleich gelten, als ob das Gerücht von dir die Wahrheit verkünde. 

Der gute Name iſt ein Vermächtniß, welches du von den 
Vorfahren erhalten haft, und deinen Enkeln unentweiht hinter- 
laſſen ſollſt. Er iſt es, der für dich ſchon um das Vertrauen der 
Fremdlinge wirbt, ehe du ſie ſelbſt angeredet haſt. Er ſchreckt die 
Laſterhaften aus deinem Kreiſe, und führt dir die Freundſchaft 
der Edeln zu. Er gewinnt dir das Zutrauen deiner Mitbürger, 
und macht dich, wenn du ſchwach biſt, maͤchtig, wenn du un⸗ 
glücklich biſt, zum Gegenſtand allgemeiner Theilnahme. Die 
Ehre eines unbefleckten Namens iſt ein Kleinod, Föftlicher als jeder 
Reichthum. Der iſt ein Bettler mitten unter Schätzen, welchen 
die Schande bedeckt. (Spr. Sal. 22, 1.) 

Ueberhaupt aber ſorge auch dafür, daß du dich ſelbſt nicht 
dem Urtheil der Welt bloßſtelleſt. Wohl dem, der unbemerkt in 
ſtiller Dunkelheit leben kann, und deſſen Name nur von wenigen 
treuen Freunden genannt wird! Denn nur zu gern ziſcht die gif⸗ 
tige Zunge des Neides in hundert Winkeln dem entgegen, welchen 
eigenes Verdienſt, oder ein glücklicher Zufall emporhebt. 

Die meiſten Menſchen denken und ſagen noch lieber Uebles 
von uns, als daß ſie uns ſelbſt Böſes anthun. Darum biete 
durch dein Betragen auch nicht dem Urtheil deiner Mit⸗ 
bürger Hohn, und verachte nicht, was ihnen ehrwürdig ſcheint. 
Stelle dich ihnen gleich, und ſei kein Sonderling, der ſich muth⸗ 
willig zum Gerede Aller macht. Du wirſt das Urtheil der Welt 
über dich mildern, wenn du gegen unſchaͤdliche Vorurtheile ſcho⸗ 
nend handelſt. | 

Prüfe dich ſelbſt, wenn du fühlſt, daß die Herzen 


— 252 — 


deiner Mitbürger gegen dich erkalten, ob du einen Fehler 
trägſt, der dir in ihrer Achtung ſchadet. Und entdeckſt du 
ihn, wohl, dann ſei muthig genug, ihn abzulegen. Jeder Fehler 
befleckt dich; und muthwillig die Achtung des Mitbürgers, das 
Vertrauen und die Gewogenheit der Beſſern im Volke zurück⸗ 
ſtoßen, iſt ein Hauptfehler. Du beraubſt dich eines großen Mit⸗ 

tels, Gutes zu ſtiften und froh unter guten Menſchen zu leben. 

Wiſſe, das Urtheil der Welt, wenn es gegründet iſt auf einen 
deiner Fehler, ändert ſich nie, und pflanzt noch Schandſäulen 
auf deinen Grabhügel. Wiſſe, daß auch Könige ſich vor der Ge⸗ 
walt der öffentlichen Meinung beugen müſſen, wenn die Wahr⸗ 
heit aus dem Munde derſelben ſpricht. Wiſſe, daß in dieſem Falle 
das Urtheil der Welt die furchtbarſte Richterin der Tirannen, die 
ehrwürdigſte Rächerin der Tugend, und die ſchwerſte Geißel über 
dem Haupte desjenigen Bürgers iſt, der Ungerechtigkeiten übt, 
die keinen andern Richterſtuhl finden. 

Beſiege deine Fehler, deine anſtößigen Gewohnheiten, deine 
unerlaubten Neigungen; dann erſt haſt du deine Feinde beſiegt, 
und die Zungen der Welt werden von dir ſchweigen. . 

Und weißt du es nicht, wodurch du die Achtung der beſſern 
Menſchen verlorſt, wodurch du die Herzen deiner Bekannten zu⸗ 
rückſtießeſt: fordere deinen rechtſchaffenſten Freund auf, daß er dir 
ſage, was man von dir halte und warum man dich tadle. Und 
fürchtet er, dich zu kranken, taͤuſcht fich ſeine Freundſchaft ſelbſt, 
ſo höre die Worte deines Feindes; er wird die Wahrheit reden, 
wenn gleich mit Vergrößerung deiner Fehler. 

Nie fühlt die Unſchuld heller ihren Werth, o mein Gott, 
als wenn ſie verkannt iſt, und dem Kummer preisgegeben wird. 
Ach, daß ich vor Dir, Allwiſſender, nur rein und ſchuldlos ſein 
möchte, wie ſüß ſollte mir dann der Kelch des Leidens ſein! 

Es ſind Menſchen, die mir nicht wohlwollen. Auch der Ge— 
ringſte unter ihnen kann mir ſchaden, auch den fchwächften Feind 
ſoll man nicht verachten. Aber wie, habe ich denn mir auch ſchon 
Mühe gegeben, die Achtung meiner Feinde zu verdienen? Habe 
ich ſchon Schritte zur Ausſöhnung gethan? Muß ich nicht ſelbſt 


ar Be 


vor Dir, o Allwiſſender, bekennen, daß mein Herz nicht ganz 
frei von Haß und Zorn gegen ſie ſei? 

Hinweg mit dieſen laſterhaften Empfindungen aus einem 
Herzen, das ich Dir geheiligt habe, Du Alleinheiliger! Erſt will 
ich gut und edel ſein, dann durch Großmuth und Güte diejenigen 
entwaffnen, die mich haſſen. 

Dazu hilf mir, o mein Gott! Dein heiliger Geist durchdringe 
mein Inneres, und das Bild des ſchuldlos leidenden Jeſus er⸗ 
hebe meinen Muth! 

Wehe! über mein Sterbebette rauſche nie der Fluch eines 
Unverſöhnten; meinem Sarge ſchleiche die Thräne keines Men⸗ 
ſchen nach, den ich im Leichtſinn oder aus Schadenfreude ver⸗ 
kleinert und verleumdet hätte. N 

Herr, mein Gott, mein Richter einſt! ſchonend will ich die 
Schwächen meines Nächſten betrachten, ſanft verbeſſern, nicht 
erbittern. — Richte gnädig einſt über mich! Amen. 


29. 


Vorurtheil für und wider Neues. 
1. Theſſ. 5, 21. 


Die Welt iſt Gottes Werk und gut, 
Und ſeine Huld auf allen Wegen; 
Er liebet uns, und was er thut, 
Wird ſelbſt im Schmerze unſer Segen, 
Der Schmerz erhebt uns und die Noth 
Vom Irdiſchen empor zu Gott. 


Der Pflanze gab er Wunderkraft, 
Dem Erdengrunde zu entblühen: 
Dem Thiere ohne Wiſſenſchaft 
Geheimen Trieb, Gefahr zu fliehen. 
Nackt ſteigt der Menſch aus Gottes Hand; 
Ihm gab er höheren Verſtand. 


Verſtand, der Alles forſchend prüft, 
Die Hilfe ſelber zu erfinden, 
Und, wie im Balſam, auch im Gift 
Des Schöpfers Weisheit zu ergründen, 
Und überall, in Luſt und Weh'n, 
Des Vaters Liebe zu verſteh'n. 


Als der Meſſias aus ſeiner Verborgenheit nach langen Vor⸗ 
bereitungen auf ſein großes Unternehmen hervortrat, um die 
Menſchen von den Feſſeln des Irrthums und der Sünde loszu⸗ 
ketten, ward er von den Leuten als eine ganz fremdartige Perſon 
angeſtaunt, und mit ſehr verſchiedenen Empfindungen aufge⸗ 
nommen. Anfangs war es die Neugier überhaupt, welche ihn 
immer mit einer zahlreichen Menge Zuhörer umringte. Dann 
kamen die, welche als Freunde ihres von den Römern unterjochten 
Vaterlandes glaubten, er habe den Entwurf, eine größere Staats⸗ 
umwaͤlzung vorzubereiten, ſich an die Spitze des verzweifelnden 
Volkes zu ſtellen, das Reich Juda und Iſrael wieder frei zu 
machen, und den erloſchenen Glanz des alten Jeruſalems zu ver⸗ 
jüngen. Er ſchien mächtig in That und Wort. Seine wunder- 
baren Heilungen der Kranken erregten eben fo großes Anſfehen, 
als ſeine heiligen Lehren. Viele Leidende von nahe und fern 
kamen herbei, von ihm Rettung zu erbitten. Der große Haufe, 
ergötzt durch das überraſchende Schauſpiel, achtete weniger ſeiner 


— 1 


Predigt, als feiner Thaten, und wollte nur immer neue Wunder 
von ihm ſehen. Als er aber den Einen erklärte, daß ſein Reich 
nicht von dieſer Welt ſei; den Andern bedeutete, daß ihre Be⸗ 
gierde, Zeichen und Wunder zu erblicken, ihm mißfalle, weil ſie 
dennoch ohne Glauben blieben, veränderte ſich die öffentliche 
Stimmung, und das Vorurtheil erhob ſich gegen die Göttlichkeit 
ſeiner Sendung und ſeiner Lehre. 

Die Ausleger des moſaiſchen Geſetzes, Phariſäer und Schrift⸗ 
gelehrte, betrachteten ihn ſogleich als ihren perſönlichen Gegner 
und als den Feind der Religion, ohne nur Inhalt und Werth 
ſeiner Lehre zu kennen. Es war umſonſt, daß Chriſtus ihnen 
wiederholt ſagte: Ich bin nicht gekommen, das Geſetz Moſis auf⸗ 
zulöſen, ſondern es zu erfüllen; ſie blieben ſeine Gegner und 
ihren vorgefaßten Meinungen treu. — Andere fingen an, mit 
gleichem Vorurtheil ſeine Wunderwerke zu beurtheilen. Voll des 
alten jüdiſchen Aberglaubens, waͤhnten ſie, er ſei mit dem Teufel 
im Bunde. Es war umſonſt, daß er ihrer Vernunft den Wider⸗ 
ſpruch deutlich machte, indem er ſagte: Ich treibe die Teufel aus, 
wie mag ich mich mit ihnen verbinden? — Noch Andere hatten 
ſchon aus dem Grund ein Vorurtheil gegen Jeſum, weil ſie ſeine 
geringe Herkunft anſtößig fanden, und ihn vielleicht aus ſeiner 
Jugend kannten, da er ihnen nichts Außerordentliches zu ver⸗ 
heißen fchien“ „Iſt dieſer nicht des Zimmermanns Sohn von 
Nazareth?“ fragten ſie. 

Die Macht des Vorurtheiles war ſo groß, daß Jeſus Chriſtus, 
ungeachtet ſeiner lichtvollen Offenbarungen, ungeachtet ſeines 
tugendvollen, wohlthätigen Lebens, ungeachtet aller Wunder, 
die er gethan, am Ende ſeiner Laufbahn nur ſehr wenige treue 
Anhänger und Bekenner behielt. 

Nicht minder ſchädlich wurden nachmals die Vorurtheile der 
Juden ſowohl, als der Heiden, einer ſchnellen Verbreitung der 
göttlichen Lehre des Herrn. 

Wenn das Herrliche durch das Vorurtheil ſo viel zu leiden 
hatte: dürfen wir uns wundern, wenn auch das geringere Gute 
und Nützliche immer darin ſeinen ſtärkſten Widerſacher findet? 
Der Menſch ändert ſeine Natur nicht, und wie er vor Jahrtauſen⸗ 


— 2563 — 


den geweſen, iſt er noch heute; mehr durch den Eigenſinn einer 
ſelbſtſüchtigen Neigung, oder durch Anhänglichkeit an feine Ge⸗ 
wohnheiten, als durch grünpliche Ueberzeugung von gewiſſen 
Wahrheiten geleitet. 

Was iſt ein Vorurtheil? — Jede Meinung iſt es, die ich 
vom Werth oder Unwerth einer Sache faſſe, bevor ich dieſelbe 
kenne. Vernünftiger Weiſe ſollte man nicht eher etwas loben, 
bis man vom Lobenswürdigen hinlänglich unterrichtet iſt, und 
ſollte nichts verwerfen, bis man vollen Grund dazu hat. Aber 
das war von jeher der Menſchen Schwachheit, zu preiſen und zu 
verdammen, zu lieben und zu verachten, nicht nach dem, was Er⸗ 
fahrung und Wirklichkeit lehrten, ſondern was eigene Einbildung 
vorſpiegelte. Der Eigennutz vertritt nur allzuhäufig die Stelle 
des Rechts, und blinde Gewohnheit erſetzt den verſäumten Ge⸗ 
brauch des Verſtandes. 

Wohl tadle ich dieſe Verirrungen; aber bin ich denn ſelbſt 
von ihnen frei? Geſchieht es nicht zuweilen, daß ich gegen irgend 
eine Sache ſchon deswegen eingenommen bin, weil fie Sache 
dieſes oder jenes Menſchen iſt? Begegnet mir es denn nicht, daß 
ich zuweilen wider die eine oder die andere mir faſt unbekannte 
Perſon geſtimmt bin, ohne daß ich dazu die geringſte Urſache 
habe? Bin ich auf dieſe Weiſe nicht ſelber der Sklave einer vor⸗ 
gefaßten Meinung, und kann ich nicht Gefahr laufen, das Opfer 
eines großen Irrthums zu werden? Gott gab mir den Verſtand, 
warum verläugne ich ihn? 

Denn jedes Vorurtheil iſt Schwäche oder Mangel des Ver⸗ 
ſtandes, und folglich ſchon dadurch für den Menſchen entehrend. 
Das Thier handelt nach Eingebung dunkler Gefühle und Nei— 
gungen; ihm gebricht die Kraft, zu forſchen, zu prüfen, zu über- 
legen und zu wählen. Das Thier handelt nach angenommenen 
oder ihm durch Menſchen beigebrachten Gewohnheiten, es wird 
dadurch gewiſſermaßen zu einer Maſchine, die willenlos ihren 
bezeichneten Gang verrichtet. Darf der Menſch, durch Verzicht— 
leiſtung auf das Licht des Verſtandes, dem Thiere gleich werden, 
ohne 2 an ſeinem Schöpfer zu verſündigen? 

So entehrend jedes Vorurtheil für die menſchliche Würde 


* 


— 257 — 


it, jo verderblich kann es oft werden, wenn wir uns durch das⸗ 
ſelbe zu Handlungen verleiten laſſen. Vorurtheil iſt Verſtandes⸗ 
abweſenheit: ohne Verſtand, nach leeren Einbildungen handeln, 
kann es erſprießlich ſein? Viele nützliche Dinge, die uns Vortheil 
mancher Art bringen, die uns oder den Unſerigen das Leben retten 
würden, verwerfen wir aus Vorurtheil, und wählen das 
Schlechtere. Manche rechtſchaffene Perſon, deren Verbindung mit 
uns viel Gutes geſtiftet haben würde, ward vermieden und zu- 
rückgeſtoßen aus Vorurtheil; dagegen haben wir zu Gunſten 


Anderer vorgefaßte Meinungen, und bringen uns durch ſie in 


Schaden. 

Jeder Menſch wird haufiger durch ſich ſelbſt be⸗ 
trogen, als durch Andere. Weniger Feindſchaften würden 
in der Welt ſein, weniger Freundſchaften gebrochen werden; 
weniger Ungerechtigkeiten gegen Unſchuldige begangen werden, 
wenn wir uns mehr durch verſtändige Ueberlegungen, als leicht⸗ 
ſinniger Weiſe durch die erſte beſte, böſe oder gute Einbildung 
vom Werth der Perſonen leiten ließen, mit denen wir in Be— 
rührung kommen. Das Vorurtheil iſt demnach eine Quelle von 
mancherlei Sünden, und Sünde ſelbſt. — Irren zwar iſt menfch- 
lich, und Fehlen aus Irrthum verzeihlich vor Gottes Augen. 

Auch nach ſorgfältigen Ueberlegungen können wir, von ir 
gend einem Schein geblendet, oder indem wir irgend einen kleinen 
Umſtand überſahen, in Irrthum gerathen. Aber nicht überlegen, 
und dennoch urtheilen und handeln, dies iſt ſträflich. Davor 
warnt die heilige Schrift, davor die eigene Vernunft. 

Borurtheil offenbart ſich in der abſprechenden 
Meinung von Dingen, die wir noch nicht hinlänglich 
kennenz folglich am meiſten bei Allem, was neu iſt. Ein großer 
Theil von Menſchen, gefeſſelt von feinen einmal angenommenen 
Begriffen und Gewohnheiten, und zu bequem, das ihm Unbe⸗ 
kannte genau zu unterſuchen, iſt ſchon deswegen voller Vorur⸗ 
theile gegen alles Neue, weil es neu iſt, und gegen alles Fremde, 
weil es fremd iſt. Leute dieſer Art pflegen gewöhnlich die Weis⸗ 
heit der Alten zu preiſen, nicht weil ſie davon, und daß deren 
Einrichtungen wirklich beſſer als neuere ſind, überzeugt wären, 


— 258 — 


ſondern weil ſie ihrer Trägheit im Selbſtdenken eine Lobrede 
halten möchten. Sie wünſchen neben dem verhehlten Mangel 
eigener Einſicht zugleich den Ruhm der Einſicht zu genießen, und 
tadeln und verfolgen den, der das Neue annimmt, weil jeder der⸗ 
ſelben ihrem Verſtande einen Vorwurf zu machen ſcheint. 

Man darf jedoch auch nicht glauben, daß die, welche Neuerun⸗ 
gen irgend einer Art mit Begierde ergreifen und bekennen, dabei 
immer vorurtheillos ſind. Sie werden nicht ſelten eben ſo blind 
von vorgefaßten Meinungen geleitet, als die trägen Anhaͤnger 
des Herkömmlichen. Es gibt viele Menſchen, die das Neue lieben, 
weil es neu iſt, oder die es annehmen, um ſich damit vor dem 
großen Haufen auszuzeichnen, oder ſich das Anſehen der Vor- 
urtheilloſigkeit und des freien Selbſtdenkens zu geben. Indem 
ſie nun dem Neuen ſchon geneigt ſind, ehe ſie ſich noch durch 
hinreichende Erfahrungen über den Werth deſſelben belehrt haben, 
ſind ſie dem Vorurtheil, deſſen Schein ſie meiden wollen, ſo 
blindlings hingegeben, als es viele ihrer Gegner find. So er- 
blicken wir in der Welt häufig den Streit erhitzter Parteien über 
Gegenſtände, die beiden Parteien in Werth und Folgen noch ſehr 
unbekannt ſind. Sie fechten nicht um die Sache, ſondern um 
ſelbſtgemachte Einbildungen von derſelben; bieten allen Scharf— 
ſinn und Witz zur Vertheidigung ihrer vorgefaßten Meinung 
auf, und können ſehr natürlich ihre Widerſacher weder eines 
Beſſern belehren, noch eines Beſſern von ihnen belehrt werden. 

Obgleich ein Irrthum ſo verderblich als der andere ſein kann, 
iſt doch derjenige noch leichter zu entſchuldigen, welcher aus Liebe 
zum Bekannten und Gewohnten entſpringt. Wiewohl damit die 
Einführung und Verbreitung manches Vortrefflichen ſehr ver— 
hindert, und der Genuß manches Nützlichen verfpätet wird, fo iſt 
doch verzeihlich, wenn man nicht leicht das Gewiſſe für das Un- 
gewiſſe hingibt. Zudem hat nicht Jeder Muth, Vermögen oder 
Kenntniſſe genug, die Erfahrungen über das Neue und deſſen 
Werth ſelber anzuſtellen. Es iſt alſo ein bedächtiges Erwarten 
der Folgen von Verſuchen billig, die von Andern angeftellt wer— 
den; es iſt loͤblich, wenn dieſes Treuverbleiben beim Herköͤmm— 


u u A a a nn 


— 259 — 


lichen nicht blindes Vorurtheil gegen alles Neue, ſondern nur ein 
Zurückhalten des eigenen Urtheils iſt. 

Prüfet Alles, und das Gute behaltet! (1. Theſſ. 5, 21.) 
jagt das göttliche Wort, und der Chriſt empfängt damit die ihm 
angemeſſenſte Stellung in Beurtheilung fremder Gegenftände: 
erſt Prüfung, dann Urtheil und Wahl. 

Es gibt Vorurtheile, welche theils durch Alterthum, theils 
durch große Verbreitung das Anſehen unbezweifelbarer Wahrheit 
empfangen haben. Denn, wer könnte es läugnen: Irrthümer 
vererben ſich ſo leicht, als Wahrheiten. Dergleichen herrſchende 
Vorurtheile find am gefährlichiten,. weil fie nicht mehr für Vor⸗ 
urtheile, ſondern für erlernte Wahrheiten geachtet werden, als 
Grundſätze gelten, immer zu neuen Trugſchlüſſen leiten, und das 
Emporkommen der Wahrheit und alles Beſſern dauerhaft hindern. 
Es gibt wenige Wiſſenſchaften, wenige Künſte und Handwerke, 
in welchen ſich nicht irgend ein auf Treu und Glauben ange— 
nommener Irthum, ein aus bloßer Achtung für das Alterthum 
beliebter falſcher Satz, ein wirkliches Vorurtheil eingeſchlichen 
hätte. Selbſt an religiöfen Vorurtheilen gebricht es nicht. Um 
ſo wichtiger wird die Pflicht, daß wir überall den uns von Gott 
verliehenen Verſtand anwenden, ſelber der Wahrheit nachforſchen, 
wo wir Erfahrung oder Kenntniß genug beſitzen, und nur in 
ſolchen Fällen auf das Urtheil Anderer uns verlaſſen, wo wir 
Ueberzeugung haben, daß ſie gründlichere Einſichten haben, als 
wir. Prüfet Alles, und das Gute behaltet! 

Kaum ſollte man es glauben, daß auch Menſchen dann noch 
ihren Vorurtheilen anhängen, wenn ſie von der Irrigkeit derſelben 
hinlänglich überführt find. Und dennoch iſt dieſe Art der Wider- 
ſinnigkeit keine große Seltenheit. Bald übt Gewohnheit ihre ſchwer 
zu berechnende Gewalt gegen ihre geſunde Vernunft aus, bald 
ein thörichter Eigenſinn, bald eine andere Leidenſchaft. Aber iſt 
nicht jede Leidenſchaft Quelle des Unſinns? 

Eine ſolche Selbſtverhaͤrtung gegen das Wahre und Beſſere 
iſt eins von den ſchwerſten Verbrechen an der Natur und an 
unſerer eigenen Würde; iſt geiſtige Selbſtverſtümmelung und 
Sünde wider den heiligen Geiſt, der vergebens auf uns zu unſerm 


— 260 — 


Heil einwirkt. Das Verbrechen waͤchſt, je klarer die Erkenntniß 
des Irrigen, je hartnäckiger deſſen Vertheidigung, je ſchaͤdlicher 
für uns und Andere deſſen Erfolg iſt. Gott iſt ein Gott der 
Wahrheit, und wir ſollen ihm ähnlich werden. Gott iſt ein Gott 
der Wahrheit, wer ihn liebt, der liebt auch die Wahrheit, denn 
ſie ſtammt von ihm. So iſt es des Chriſten Pflicht, die Wahr⸗ 
heit und das Licht zu befördern, auch dann, wenn dieſelben unſern 
eigenen leiblichen Vortheilen zum Schaden gereichen ſollten. Jeſus 
Chriſtus verkündete die Wahrheit, und duldete darum der Welt 
Verfolgungen und den Kreuzestod. Es iſt des Chriſten Pflicht, 
herrſchende Vorurtheile zu vernichten, und richtigere Erkenntniſſe 
zu verbreiten, ſelbſt auf die Gefahr hin, ſich damit der Menſchen 
Haß, ſtatt ihres Dankes, zu verdienen. Denn wahrlich, der iſt 
Jeſu Jünger nicht, welcher recht und gut n will um irdiſchen 
Gewinnes willen. | 

Inzwiſchen ſoll auch hier mit jener Bedächtlichkeit von uns 
gehandelt werden, die zu allen Zeiten das unterſcheidende Kenn⸗ 
zeichen wahrhaft weiſer Menſchen iſt. Die beſte Sache wird 
durch übereilten Eifer vernichtet. Es kann kein wahrhaft frommes 
Werk vollzogen werden, ohne reifere Erwägung der obwaltenden 
Verhältniſſe, der Zeitumſtände und der Bedürfniſſe. Nichts iſt 
im wirklichen Leben überall und unbedingt gut. Du kannſt mit 
Unbeſonnenheit auch die Menſchenliebe zur Mörderin, und die 
heilſamſte Arznei zum Gift machen. Hier iſt es, wo Jeſu goldene 
Lehre gegenwärtig fein ſoll: Seid klug, wie die Schlangen, aber 
ohne Falſch, wie die Tauben. 5 

Werde nicht Bekämpfer herrſchender Vorurtheile, ſo lange 
du dich nicht überzeugt haft, daß die, welche von den Vorur⸗ 
theilen befangen ſind, noch zu unmündig ſind, die Wahrheit 
ſelbſt zu faſſen und auszuſprechen. Ja, es gibt auch wohl— 
thätige Vorurtheile, heilſame Irrthümer, ſo lange ſie 
diejenigen nützlichen Wirkungen haben, welche in vollerm Maße 
die Wahrheit bei denen hat, die da fähig ſind, ſie zu begreifen. 
Reiße nicht etwa Mindernützliches nieder, wenn du keine Sicher— 
heit haſt, das Beſſere wirklich aufbauen zu können. 

Glaube auch nicht, daß du mit wiſſentlichem Betruge die 


— 261 — 


Menſchen täuſcheſt, wenn du ihnen ungeſtört gewiſſe Meinungen 
laͤſſeſt, die nach deinen beſſern Einſichten falſch ſind. Zwar dir 
iſt Pflicht, das Reich der Wahrheit zu verbreiten, doch nur da, 
wo du ſie zu verbreiten Kraft und Möglichkeit haſt. Aber zer⸗ 
ſtören heißt noch keineswegs aufbauen, und einen Irrthum nie⸗ 
derreißen, heißt noch nicht Wahrheiten aufrichten. 

Allerdings haben Kinder viele irrige, oft höchſt unwürdige 
Vorſtellungen von Gott und den Schickſalen der Seele nach dem 
Tode. Allerdings haſt du bei deinen reifern Kenntniſſen und 
Erfahrungen Begriffe, die der Wahrheit näher ſtehen mögen. 
Biſt du aber im Stande, deine Verſtandesreife plötzlich den Kin⸗ 
dern einzufloͤßen? Warum ſoll ich dich deshalb tadeln, oder einen 
wiſſentlichen Betrüger deiner Kinder ſchelten, wenn du ihnen 
Vorſtellungen von Gott und Ewigkeit laͤſſeſt, die zwar nicht deinen 
beſſern Einſichten, wohl aber ihren geringen Vorkenntniſſen an⸗ 
gemeſſen ſind? Genug, daß bei ihnen die kindiſchen Einbildungen 
von Gott eben das Gute bewirken, was bei dir die beſſern Er⸗ 
kenntniſſe. — Siehe, ſo ſind auch Erwachſene oft den Kindern 
gleich: es gibt mancherlei Stufen der geiſtigen Ausbildung, und 
was für dich Irrthum und Vorurtheil iſt, kann für Andere, nach 
Maßgabe ihrer Erziehung und Erfahrung, wohlthuende Wahr- 
heit, das heißt, genaue Uebereinſtimmung mit ihrem ganzen 
Weſen, fein. Vielleicht wäre es dir wohl möglich, bei ihnen, 
was dir Vortheil iſt, zu zerſtören: aber biſt du verſichert, daß ſie 
auch fähig find, mit ihrem ungeübten Verſtande deine höhere 
Wahrheit zu erfaſſen? Darum ſei behutſam, und entreiße dem 
Schwachen nicht die Krücke, ehe er Kraft gewonnen, ohne ſie 
allein zu gehen. Kommt ihm die Kraft, wird ihm die Krücke von 
ſelbſt läſtig. Entwickelt ſich der unmündige Verſtand, wirft er 
beim erſten Schimmer beſſerer und hoherer Einſicht den Irrthum 
von ſelbſt zurück. Wer möchte wagen, Jeſum, den göttlichen, 
den liebevollen Lehrer, einen Volkstauſcher zu nennen, weil er 
nnicht alle und jede bei dem abergläubiſchen jüdiſchen Volke wal⸗ 
tende Vorurtheile bekämpfte; oder weil er ſogar, um nur von 
ihnen begriffen zu werden, zuweilen in der Sprache ihrer Vor⸗ 
urtheile redete? 


— 262 — 


Am behutſamſten vor Allem ſollen wir in religiöſen Dingen 
ſein, wenn wir bei Andern Irrthum und Vorurtheil wahrzu⸗ 
nehmen meinen. Denn jedes Alter, vom Kinde bis zum Greiſe, 
geſtaltet ſich ſeinen Glauben von göttlichen Sachen unvermerkt 
anders. Selbſt das Temperament der Menſchen, ſelbſt der Him⸗ 
melsſtrich, unter welchem die Völker der Erde wohnen, gibt ihren 
veligiöfen Meinungen gleichſam eigene Farben. Gefahrloſer ift 
es, Vorurtheile oder Irrthümer, die nicht ſo tief mit dem Inner⸗ 
ſten des Menſchen, mit ſeiner ganzen Glückſeligkeit verflochten 
ſind, zu zerſtören, auch dann, wenn man außer Stand wäre, 
die den Irrthum erſetzende Wahrheit begreiflich zu machen. 

Ungebildete Menſchen ſehen leichter das Nützliche, 
als die Wahrheit einer Sache ein. Jenes offenbart ſich 
den Sinnen; die Wahrheit will erſt durch Anſtrengung des 
Geiſtes erkannt werden. In ſolchen Fällen wird allezeit rath⸗ 
ſamer ſein, das Vorurtheil der Menge, die ſich nicht leicht von 
einmal gefaßten Einbildungen trennen läßt, durch Anſchauung 
des Nützlichen im Neuen zu untergraben. Der ungebildete Menſch, 
wie das Kind, fürchtet, was er noch nicht kennt, betaſtet es nur 
ſchüchtern, will ſich erſt durch langen Anblick daran gewöhnen, 
und folgt nur dem Vorgang und Beiſpiel vieler Andern. 

So ſehen wir in unſern Tagen, daß beim gemeinen Mann 
lange und mächtig geweſene Vorurtheile gegen die wohlthätige 
Erfindung der Blitzableiter allgemach verſchwinden; unfaͤhig ein⸗ 
zuſehen, wie die Eiſenſtange Kraft habe, den zermalmenden 
Strahl, indem er an der menſchlichen Wohnung hinfaͤhrt, anzu= 
ziehen und unſchädlich dem Erdboden zuzuführen, fürchtete der 
Unwiſſende, mit ſolcher Anſtalt gegen die Allmacht Gottes zu 
freveln. Er baute gegen verwüſtende Ströme Dämme, um ſeine 
Hütte wider die Fluth des Waſſers zu ſchützen, er erfand und 
gebrauchte Spritzen, um in ausbrechender Feuersbrunſt ſeine 
Wohnungen nicht in Aſche verwandeln zu laſſen, ohne zu be— 
ſorgen, durch ſolche Mittel der Selbſterhaltung den allmächtigen 
Gott und die allwaltende Vorſehung zu beleidigen. — Aber die 
Blitze des Himmels zu zaͤhmen, ſchien ihm Vermeſſenheit, ſchien 
ihm eine Thorheit. Er tadelte es mit gottesfürchtigem Ernſte, 


— 263 — 


bis das Beiſpiel der Klügern und die Erfahrungen der Nützlich⸗ 
keit fein Vorurtheil ſchwächten; da begriff er, daß Gottes Weis⸗ 
heit dem Menſchen Verſtand gab, ſich gegen die Gefahren in der 

Natur zu verwahren, und daß Gebet und Geſang und Geläute 
geweihter Glocken eben ſo wenig die Wetterwolke mit ihren Blitzen, 
als die Waſſerfluth ausgebrochener Ströme von den Wohnplätzen 
der Sterblichen abwehrt. 

Längſt ſchon war der Menſch, wenn ſein Leichnam erkrankte, 
geneigt, ſich heilſamer Arznei zu bedienen, ohne zu fürchten, da⸗ 
durch dem Willen Gottes vorzugreifen. Der Kranke ſcheut ſich 
nicht, feiner Geſundheit willen, willig die Adern zu öffnen, oder 
Dinge zu genießen, die er unter andern Umſtänden als wirkliche 
Gifte gekannt. Schon Sirach, der weiſe Mann, ſprach: Ehre 
den Arzt mit gewöhnlicher Verehrung, daß du ihn habeſt zur 
Noth, denn der Herr hat ihn geſchaffen, und die Arznei kömmt 
von dem Höchſten, und Könige ehren ihn. Der Herr läßt die 
Arznei aus der Erde wachſen und ein Verſtändiger verachtet ſie 
nicht. Ward doch das bittere Waſſer ſüß durch ein Holz, auf 
daß man ſeine Kraft erkennen ſollte. Und er hat ſolche Kunſt 
dem Menſchen gegeben, daß er geprieſen würde in ſeinen Wun⸗ 
derthaten. (Sirach. 37, 1. 6.) 

Als nun aber in unſern Tagen das Geheimniß kund ward, 
die ſcheußliche Seuche der Kinderblattern durch Einimpfung von 
ähnlichen Kuhpocken zu vertilgen, oder bis zur Unſchaͤdlichkeit zu 
ſchwächen: ſiehe, da erhob ſich widerſpenſtig das Vorurtheil. 
Seit dreißig Jahren und länger ſahen wir in den verſchiedenſten 
Ländern der Welt die wohlthuende Erfindung von Gott mit glück⸗ 
lichen Erfolgen geſegnet; tauſend und tauſend Kindern ward 
| Schönheit, Gebrauch der Augen und des Gehörs und das Leben 
ſelbſt gerettet; tauſend und tauſend zärtliche Väter und Mütter 
en mit Thränen dem Himmel für die Wohlthat, welcher 
nach ſo langen, ſo vielfachen Erfahrungen auch kein Schatten 
übler Folgen nachſchleicht. — Aber blöde, erſchrocken und mit 
Abſcheu ſelbſt ſtiert das Vorurtheil die neue Erſcheinung wie 
einen Frevel gegen Gott an. Mit grauſamer Unwiſſenheit opfert 
es ſeinem Eigenſinn Wohlgeſtalt, geſundes Blut, Lebensglück 


— 20 = 5 


und Leben blühender Kinder; ſchaudert vor möglichen Folgen des 
eingeimpften thieriſchen Stoffes, vor Folgen, die ſeit einem Men⸗ 
ſchenalter noch nicht erſchienen, während es harmlos dem täglichen 
Würgen der Blatternpeſt zuſchauen kann. 

Wohl habe ich Recht, vor den entſetzlichen Wirkungen herr⸗ 
ſchender Vorurtheile zu erzittern — aber noch einmal: bin ich 
jelber von jedem Vorurtheile frei? O wie parteiiſch bin ich doch 
oft im alltäglichen Leben, wie liebe ich ſo manches, wie fürchte 
ich ſo manches, ohne einen Grund zu haben, als welchen eine 
vorgefaßte gute oder böſe Meinung gewährt! — Ach, ich ſelbſt 
erkenne meine eigenen Schwächen viel zu wenig! 

O mein Schöpfer, Du haſt mich mit Verſtand ausgerüſtet; 
wohl habe ich ihn oft auch träger Weiſe verſäumt, und ohne zu 
prüfen gewählt. Ich will mit Aufmerkſamkeit mich ſelbſt be⸗ 
lauſchen, und ſorgfältig jedem Irrthum zu entweichen ſuchen, 
der mir als ſolcher offenbar wird. Prüfen will ich, ehe ich wähle, 
prüfen, ſo weit es meine Kraft vermag. Doch Einer vermag nicht 
Alles. Ich will die Urtheile der Weiſen und Erfahrnen hören, 
will durch ſolche mich des Beſſern belehren, das Gute behalten, 
und mit Vertrauen auf Deinen Segen und Beiſtand anwenden. 
Amen. 


) 


„ ED 


30. 
Reg Glaube an menfchliche Tugend. 


Kol. 3, 12. 13. 


An der Tugend Daſein zweifeln, 
Heißt: ſich ſelbſt die Hölle bau'n, 
Nings umher ein Heer von Teufeln, 
Statt verwandter Seelen, ſchau'n. 
Unſers Argwohns düſtrer Blick 
Stößt den Nedlichſten zurück. 
Willſt du Lieb' und Treu' begehren, 
Mußt du Andern fie gewähren. 


Menſchen haben ihre Schwächen, 
Darum werd' ich nicht ihr Feind. 
Nichts ſoll da mein Zutrau'n brechen, 
Wo der Gottheit Bild erſcheint; 
Auch der Böſewicht nährt doch 
Irgend eine Tugend noch. 

Was du forderſt, mußt du geben, 
Um geliebt und froh zu leben. 


Fi 


Willſt du wiſſen, ob deine Bekannten oder Freunde herzens— 
gute Menſchen ſind? — Gib nur Acht auf ſie, ob ſie auch wohl 


| fähig find, an die Herzensgüte anderer Menſchen zu glau— 
ben. Beobachte, wie ſie von gewiſſen in der That lobenswürdigen 
Geſinnungen und Verrichtungen der Menſchen urtheilen; ob fie 
nicht ein ſchmälerndes Aber hintennach ſenden; oder ob fie nicht 
mit der Miene der Klugheit und Menſchenkenntniß einen Verſuch 
machen, die erſten Urſachen der belobten Dinge, irgend eine un⸗ 
rühmliche Triebfeder der geprieſenen Tugenden, aufzuſpüren. 


Wer ohne Arg gern von ſeinen Miterſchaffenen das Beſte 
glaubt, nicht nur nützliche Thaten, fromme Aeußerungen, groß⸗ 
müthige Unternehmungen für nützlich, fromm und großmüthig 
hält, und ihnen keinen ſchlechten Grund unterſchiebt, ſondern 
ſogar ſchwer daran zu bringen iſt, die Leute für fo böfe zu halten, 


als ſie zuweilen zu ſein ſcheinen; noch weniger aber ſich auf das 


Urtheil derer einläßt, welche von dem Mitmenſchen gern das 
‚Lächerlichite oder Nachtheiligſte aufzuſpüren wiſſen, — der hat 
gewiß ſelbſt ein gutes Herz; dem vertraue dich; der meint es in 


Allem, was er dir zuſagt, redlich, wiewohl er darum noch nicht 


III. 12 


=. 


ohne Schwächen iſt. Wir nennen eine ſolche Perſon gutmüthig, 
und mit Recht, weil ſie eines guten Gemüthes iſt. Es iſt aber 
noch ein großer Unterſchied zwiſchen Gutmüthigkeit und Leicht⸗ 
gläubigkeit, wiewohl es Leute genug gibt, die dieſe beiden Dinge 
gern für einerlei halten. Denn wäre der Gutmüthige zugleich 
ein Leichtgläubiger, ſo wäre er nicht mehr gutmüthig, weil er 
das Böſe eben ſo gern glauben würde, was man ihm von An⸗ 
dern erzählt. Allein ſein reines Gemüth ſtraͤubt ſich, ſo viel 
Schlechtigkeit im Menſchen für möglich oder wenigſtens in den 
einzelnen vorgebrachten Fallen für wahr zu halten. 

Findeſt du hingegen unter deinen Bekannten und Freunden 
Leute, die, wo Jemand belobt wird, bedenklich und zweideutig 
dazu lächeln, oder eine Bemerkung hinzufügen, die da verräth, 
daß ſie Zweifel an dem reinen Urſprung der belobten Dinge 
haben; Leute, welche bei jedem Anlaſſe das Schlimmſte arg⸗ 
wöhnen; Leute, die ſogleich aus jedem Wort, aus jedem Schritt 
eines Andern eine unlöbliche Abſicht vermuthen; Leute, die ſo⸗ 
gar einen Gefallen daran finden, den Werth anderer Perſonen, 
wenn fie auch anerkannte Verdienſte haben, mit hamiſchen oder 
witzigen Anmerkungen zu verkleinern; oder Leute, die ein ganz 
eigenes Talent beſitzen, immer das Schiefe, Lächerliche, Klein⸗ 
liche, Mangelhafte von Abweſenden ausfindig und bemerkbar zu 
machen — hüte dich vor dieſen! Sie ſelbſt ſind bösmüthig. Ihr 
Herz iſt ein truͤber, unreiner Spiegel, darum muß ſich Alles darin 
unrein abſpiegeln. Sie können zwar daneben viel liebenswürdige 
Eigenſchaften beſitzen; fie konnen viel Klugheit, viel Erfahrung 
haben — dennoch iſt noch etwas Unreines in ihrem Gemüthe, 
das aus ihrem ganzen Weſen ſpricht. \ 

Leider werden wir von der Zahl der Letztern weit mehrern in 
der geſellſchaftlichen Welt begegnen, als von der Zahl jener reinen, 
gutmüthigen und frohherzigen Menſchen. Der Glaube an die 
Tugend iſt ſo ſelten, das Mißtrauen in Alles, was den Schein 
und Werth des Edeln, Uneigennützigen und Rechtſchaffenen hat, 
ſo alltäglich, daß, wenn man nach einer langen Einſamkeit mit 
einmal in die Geſellſchaften traͤte, man aus den Reden der Men⸗ 
ſchen ſchließen ſollte, die ganze Welt waͤre nur von Thoren und 


Laſterhaften bevölkert. Ueberall Stimmen des liebloſen Arg⸗ 
wohns; überall Warnungen der Mißtrauiſchen; überall Be⸗ 
tadelung der Menſchen, auch wenn ſie das Beſte vollbracht haben. 
Woher dieſer böſe Geiſt, der die engern Bande des geſelligen 
Lebens zerſchneidet, Brüder von Brüdern zurückſtößt, und durch 
Veranlaſſung grundloſer Furcht oder unheilbringender Mißver⸗ 
ſtändniſſe Eisfälte in alle Herzen trägt, die doch dazu geſchaffen 
waren, ſich zu lieben? Iſt die Menſchheit wirklich in eine ſolche 
Tiefe von Verderbtheit oder Thorheit verſunken, als uns die 
lebensklugen Leute gern glauben machen wollen, welche den Men⸗ 
ſchen zu kennen vorgeben? Iſt die reine, ungeſchmückte Tugend 
wirklich aus jeder Bruſt entwichen, daß wir ſie nicht mehr auf 
Erden zu ſuchen haben? 
Ach, dieſer böſe Geiſt geht aus mancherlei traurigen Ver⸗ 
haͤltniſſen des Lebens hervor, und zerftört das Werk Jeſu Chriſti 
auf Erden, die allgemeine Eintracht und Liebe der Seelen. Am 
häufigſten aber ſteigt er aus einem bösmüthigen, von offenbaren 
oder geheimen Leidenſchaften vergifteten Herzen. Denn, weil 
Jeder ſo ziemlich ſein eigenes Innere, das er Andern klüglich zu 
verhehlen weiß, am genaueſten kennt, beurtheilt er das menſch⸗ 
liche Herz überhaupt nach ſeinem eigenen. Dies iſt ein natürlicher 
Gang der Dinge, weil es ſchwer hält, Andere ſo tief zu erkennen, 
ſo häufig bei den wahren Triebfedern ihrer Handlungen zu be⸗ 
lauſchen, als ſich ſelbſt. 
Wer folglich ein Urtheil über die Welt ausſpricht, 
| der ſpricht es aus, wie fie ſich in feinem eigenen Ge- 
müth abſpiegelt; und ſpricht damit feine eigene Herzensgüte 
oder Unreinheit aus. Wer häufig auf verbotenen Wegen ging, 
vermuthet das Gleiche von Andern, und ſo iſt das bekat inte 
Sprichwort voll tiefer Wahrheit: Was ich denk' und thu', trau’ 
ich Andern zu. 

Eine Perſon, die gewohnt iſt, nichts zu thun, als wovon 
ſie auf dieſe oder jene Weiſe einen Vortheil ziehen kann, und 
immer nur auf ſich ſieht, und immer nur fragt: Was habe ich 
am Ende davon? — ſchwerlich wird fie ſich überreden laſſen, daß 
es wirklich uneigennützige Menſchen in der Welt gebe. Sie wird 


— 268 — 


an keine reine Tugend auf Erden mehr glauben, weil ſie deren 
ſelbſt ganz unfähig tft, und keine Aufopferungen ihres Vortheils 
und Glücks zum Wohl anderer Menſchen machen kann. Findet 
ſie aber dennoch Leute, bei deren Handlungen ſie gezwungen iſt, 
einen hohen Grad von uneigennütziger Selbſtverläugnung anzu⸗ 
erkennen: ſo wird ſie ſolche geradezu bei ſich entweder für dumm, 
oder ſchwarmeriſch, oder närriſch halten. 

Wer, was er auch Gutes und Nützliches ſtifte, dabei jedes 
mal ehrgeizige Abſichten im Hintergrund hat, wird, was er auch 
von Andern Vortreffliches rühmen höre, immer dabei voraus⸗ 
ſetzen, es ſei aus Begierde nach Ehre geſchehen. Er wird dieſen 
Beweggrund nicht einmal für unlauter anſehen, ſondern ehe 
edel finden. 

Daß es viele Menſchen gebe, die aus der reinften ueber⸗ 
zeugung von ihren Pflichten dieſe vollſtrecken, ja das Schwerſte 
vollbringen können, Vermögen, Geſundheit und Leben für An⸗ 
derer Wohlſein und Rettung hinopfern können, ohne daran zu 
denken, daß dies etwas Ehrenvolles ſei; ja, die es im Vorborgenen 
thun, und Keinen als den allwiſſenden Gott dabei zu Zeugen 
haben — das wird der Ehrgeizige mit Kopfſchütteln bezweifeln. 

Der Wollüſtling glaubt nicht mehr an wahrhaft keuſchen 
Sinn; er hat kaum einen Begriff davon. Er bildet ſich ein, Alles 
ſei verführbar oder verführt; Alles huldige den thieriſchen Trie— 
ben, die ſich ſeines eigenen Weſens ganz bemächtigt haben. Er 
hat keine Achtung für Unſchuld. Ihm iſt die Schamröthe nur 
ein Zeichen alberner Einfalt und Blöͤdigkeit, oder eines ſchuld⸗ 
bewußten Herzens; ihm iſt der Abſcheu gegen Unzucht nur ſchlaue 
Ziererei, Aushängefchild der Gefallſucht, fade Scheinheiligkeit. 

Und ſo beurtheilt Jeder des Andern Beweggründe zum Han— 
deln nach denen, die er ſelbſt in ſich am haͤufigſten erblickt. Da⸗ 
her das allgemeine Zweifeln an unbeſcholtener, reiner, ächtchriſt⸗ 
licher Tugend; daher die Neigung, überall etwas Unrühmliches 
und Arges zu vermuthen; daher der Mangel des RER an 
das menſchliche Herz. 

Zuweilen iſt aber dieſer Mangel des Vertrauens en Men: 
ſchenwerth auch nur die Frucht trauriger Erfahrungen; und ges 


— 269 — 


wöhnlich werden diejenigen, welche den Menſchen am heißeſten 
geliebt haben, nach mehrmaligen Täuſchungen feine unverſöhn⸗ 
lichſten Verächter und Feinde. Man hat viele Beiſpiele, daß 
Fürſten, welche in jugendlichen Tagen die größten Hoffnungen 
von ſich erweckten, und das Muſter der Güte und Menſchen⸗ 
freundlichkeit waren, nachmals, wenn ſie einige Jahre lang die 
Regierung geführt hatten, in Tirannen und Verächter des Men⸗ 
ſchengeſchlechts entarteten. Denn wenn ſie ſich von allen Seiten 
mit Schmeichlern, Verleumdern und Selbſtſüchtigen umringt 
ſahen; wenn ſie ſahen, wie, wer zu ihnen ſich hindrängte, nur 
kam, um an Andern eine Rache zu ſättigen, oder feinem Stolz 
ein Genüge zu thun, oder Gold zu gewinnen; wenn ſie ſahen, 
daß gegen ihren Wink keine Tugend ſtark genug zum Widerſtand 
war; daß Alles ſklaviſch den elendeſten Leidenſchaften zu Gebote 
ſtand: ſo mußten ſie in der Wirklichkeit eine harte Widerlegung 
ihrer ehemaligen Vorſtellungen von menſchlicher Tugend erblicken; 
Verdacht auch gegen den edelſten ihrer Unterthanen faſſen, ihn 
höchſtens für verſtellungsvoller und verſchmitzter als Andere 
achten; ſie mußten Alles für einen lieblichen Traum halten, was 
ſie ſonſt vom Werth des Menſchen glaubten. Umgeben von feilen 


oder ſchwachen, oder durch Leidenſchaft beſeelten Menſchen (denn 


die genügſame Tugend drängt ſich nicht zum Glanz der Höfe), 
hielten ſie ſich nun ſelbſt für enttäuſcht, und behandelten die 
Menſchheit mit jener Verachtung, die ihnen durch fo viele verab- 
ſcheuungswürdige Erſcheinungen eingeflößt worden war. 

Es gehört nicht zu den Seltenheiten, daß ein zartfühlendes 
Herz, welches einmal durch Untreue und Verrätherei einer ge— 
liebten Perſon gebrochen worden iſt, den großen Schmerz nicht 
zum andern Mal fühlen will, ſich auf ewig den engern Verbin⸗ 
dungen mit dem andern Geſchlecht entzieht, und Alle, die zu 
demſelben gehören, für unbeſtaͤndig und treulos erklart. Es iſt 
nichts Seltenes, daß, wer von einem ſeiner theuerſten Freunde 
auf eine ſchändliche Weiſe betrogen ward, von da an einen un- 
austilgbaren Verdacht gegen Treue und Redlichkeit und Freund⸗ 
ſchaftsſinn der übrigen Menſchen faßt. Es iſt nicht ſelten, daß 
Perſonen, denen mehr als einmal das Gute, was ſie zu ſtiften 


bemüht waren, durch Bosheit und Schadenfreude vereitelt, deren 
redlichſter Sinn immer falſch ausgelegt, denen mehr als ein 
wohlthätiges Wirken und Lieben mit dem ſchwärzeſten Undank 
bezahlt ward — daß ſie, ſage ich, zuletzt Mißtrauen und Wider⸗ 
willen gegen Jedermann hegen, welcher das Unglück hat, zum 
menſchlichen Geſchlecht zu gehören. 

Ach, dieſe Art des Menſchenhaſſes, wir wollen ſie nicht zu 
hart verdammen; Keiner iſt derſelben fähig, als wer gut war, 
und die Menſchheit mit Ernſt und Innigkeit liebte. Er iſt noch 
jetzt gut, aber verwundet, und darum krank, und darum unge⸗ 
recht gegen Millionen, weil ihn Einige, die er zu kennen glaubte, 
und doch nicht genug kannte, allzuhart betrogen. Er iſt nur einen 
Augenblick irre geworden an ſich und der Welt, und in ſeinem 
gereizten Zuſtande verliert er ſich, oder tröftet er ſich in Ueber⸗ 
treibung des Uebels. Nur dann iſt er am meiſten zu tadeln, wenn 
er nicht ſtark genug iſt, ſich wieder zu ermannen, und für das 
Glück der Menſchen ununterbrochen das Möglichſte und Höchfte 
zu thun, ohne von ihnen eine leiſe Erwiederung zu hoffen. Denn 
dies iſt Chriſtusſinn. Wie ward Jeſus nicht von ſeinem Freunde 
verrathen; wie ihm nicht mit Schmach und Undank von aller 
Welt begegnet! Und doch verkannte er das Menſchengeſchlecht nicht, 
und betete für die, welche ſein Herz gebrochen hatten. 

Man muß aber ſolche, ich möchte ſagen edle, Menſchenhaſſer 
nicht mit ſolchen Perſonen verwechſeln, welche durch eine gewiſſe, 
krankhafte, reizbare Stimmung, oder durch das Bewußtſein ihrer 
Schwäche, das Mißtrauen gegen Andere bei ſich gleichſam zur 
Natur gemacht haben. Sie konnen dann nicht anders, als im⸗ 
mer fürchten, immer argwöhnen. Ohne eigentlich bösmüthig zu 
ſein, ſind ſie doch ärgerlich und empfindlich. Was auch geſagt 
und gethan werden mag, fie legen es für ſich ſelbſt nie günftig 
aus; mögen gern glauben, es ſei mit Allem darauf abgezielt, ſie 
zu kranken. Ihnen ſcheint die halbe Welt ſich verſchworen zu 
haben, ihnen Verdruß zu machen, ſie zu unterdrücken, zu ver⸗ 
folgen. Sie finden ſogar in ſolchen und ähnlichen Klagen ein 
Wohlgefallen, ohne es zu wiſſen; bilden ſich ein, Jeder, der eine 


„ 


Zeit lang mit ihnen zu thun gehabt, trete endlich in den Bund 
iührer Feinde, und arbeite wider ſie, aus Neid oder Eitelkeit. 
Der Argwöhniſche, ſei es nun aus körperlicher Kränklichkeit, 
oder aus dem quälenden Gefühl von einer Schwäche im Ver⸗ 
hältniß zu Andern, macht ſich und Allen, die mit ihm leben 
müſſen, das Daſein unerträglich. Er legt jedes Wort auf die 
Wagſchale, lauert auf jedes Spiel der Mienen, und iſt auf eine 
unbegreifliche Weiſe erfinderiſch, das Allerunſchuldigſte auf die 
ſchlimmſte Weiſe für ſich zu deuten. Trotz und Angft wechjeln 
immer in ſeiner Seele; er wird zu Liebe und Freundſchaft un⸗ 
fähig, weil er Keinem eine gerade, ſtandhafte und holde Denkart 
zutraut. Er iſt ungerecht gegen Jedermann, weil er auf ſich ſelbſt 
zu wenig Vertrauen hat, und folglich ungerecht gegen ſich ſelbſt. 
Alle dieſe Arten, wie entweder der Mangel des Glaubens an 
die Menſchheit entſteht, oder ſich äußert, tragen ungemein viel 
zum herrſchenden Elend unſerer Tage bei. Sie erzeugen und 
nähren die gegenſeitige Liebloſigkeit der Menſchen; denn wie könnte 
man ſich doch einander lieben, wo man einander im Grunde des 
Herzens nur verachtet, oder fürchtet? Dieſer Mangel des Glau— 
bens an Menſchengüte macht die Menſchen in der Geſellſchaft zu 
Heuchlern, welche, ohne einander aufrichtig zu ſchätzen, doch das 
Verbindlichſte zu ſagen wiſſen; macht aus der Freundſchaft nur 
eine Höflichkeit, aus Ehrenbezeugungen nur Zeremoniel und 
widerliche Schauſpielerei. Darum werden Treue und Glauben 
ſeltener, darum alle Tugend ſeltener, weil die Menſchen ihren 
eigenen Glauben daran verlieren. Darum iſt ſo viel häusliches 
Unglück, weil Keiner den Andern von Herzen werth hält, und 
Jeder bekannt mit einzelnen Fehlern der Hausgenoſſen, allzu⸗ 
mißtrauiſch aus denſelben die Handlungen herleiten zu dürfen für 
Recht hält. Das gegenſeitige Mißtrauen und innerliche Gering⸗ 
ſchätzen Anderer erkältet das Herz gegen waͤrmere, wohlwollendere 
Neigungen; macht die geſellige Freude matter; vergiftet den rein- 
ſten Lebensgenuß, welcher im häuslichen Kreiſe aufblühen kann; 
wird täglich die finſtere Quelle von heimlichen Verdächtigungen, 
lauten Beſchuldigungen, Vorwürfen, Anklagen, Neckereien; 
bringt Zwietracht zwiſchen Herrſchaft, Hausgenoſſen, Nachbarn 


= = 


und Gefinde, zwiſchen Aeltern und Kinder, Gatten, Freunde und 
Freundinnen. 

Um die unſeligen Wirkungen des Mißtrauens und Uebel⸗ 
deutens zu erkennen, iſt es nicht einmal nöthig, dieſen Fehler in 
ſeiner größten leidenſchaftlichen Ausdehnung wahrzunehmen. 
Man beobachte nur einen Tag lang ſtillſchweigend das Innere 
manches Hausweſens; beobachte, wie Einer vom Andern ſich 
mehr oder weniger ungünſtige Vorſtellungen macht; wie Einer 
dem Andern das geſprochene Wort gehäſſig deutet; Einer des 
Andern Thun gern als Beleidigung aufnimmt und erwiedert. 
Je weniger man in ſolchem Hauſe daheim iſt, um ſo auffallen⸗ 
der ſind dem Beobachter ſolche Erſcheinungen, und er wird mehr 
als einmal den beſtändig Hadernden zuſprechen wollen: Ihr Un⸗ 
glücklichen! warum traut ihr euch auch immer nur das Bdfe und 
nie das Gute zu? Warum verbittert ihr euch mit dieſem ewigen 
Argwohn in tauſend unbedeutenden Dingen das Beiſammenleben? 
Warum erſticket ihr durch dieſes gegenſeitige Mißverſtehen und 
Uebelnehmen jeden Keim der Freundſchaft, welcher, wo nicht aus 
der Gleichheit der Gemüthsarten, doch aus der Gleichheit der Ge⸗ 
wohnheiten und Lebensarten aufſprießen möchte? 

So geringfügig und beinahe gleichgültig auch viele aus Miß⸗ 
trauen entſprungene unfreundliche Vorfälle im häuslichen Leben 
zu ſein ſcheinen, ſind ſie doch von großer Wichtigkeit, und oft 
wichtiger für Familienehre und Familienruhe, als der größte 
Prozeß mit dem Fremden. Denn in hundert und hundert wieder⸗ 
holten kleinen Schlägen höhlt der fallende Regentropfen endlich 
den Felſen aus, an welchem der harte Meißel zerſpringen kann. 

Iſt dir nun dein haͤusliches Glück, iſt dir Lebensfrieden, iſt 
dir dein Chriſtenglaube ein heiliges Gut: fo verbanne das Miß⸗ 
trauen aus deinem Gemüth; faſſe wieder Glauben zu menſchlicher 
Tugend. Dein Wohlſein fordert es von dir, und die Religion 
Jeſu, des göttlichen Weiſen, gebietet es dir. So ziehe nun an, 
als Auserwählter Gottes, als Heiliger und Geliebter, herzliches 
Erbarmen, Freundlichkeit, Demuth, Sanftmuth, Geduld; und 
vertrage Einer den Andern; und vergebet euch unter einander, ſo 
Jemand Klage hat wider den Andern; gleich wie Chriſtus euch 


1 


vergeben hat, ſo auch ihr. Ueber Alles ziehet an die Liebe, die 
ga iſt das Band der Vollkommenheit; ſo ſpricht die heilige Schrift. 
(Kol. 3, 12 — 14.) Aber die Liebe kann nicht in einem Herzen 
wohnen, welches den Glauben an die Güte menſchlicher Herzen 
verloren hat. Daher kommt es auch, daß wir Kindern mit größerer 
Zärtlichkeit, als Erwachſenen, zugethan zu ſein pflegen, weil wir 
jene noch für unſchuldiger und beſſer halten, oder doch für leichter 
zu beſſern. . 

Du wirſt ſagen: Aber es iſt ſchwer, darin ſeinen Sinn zu 
ändern, wenn man einmal die Menſchen kennt, wie ſie heutiges 
Tages oder wenigſtens in den Verhältniſſen ſind, in welchen ich 
mit ihnen ſtehe; es iſt ſchwer, wenn man jo mancherlei unange- 
nehme Erfahrungen von der Bösartigkeit des menſchlichen Ge- 

müths überhaupt gemacht hat. 

O nein, ich will dir ein einfaches Mittel anweiſen, durch 
welches ſich plötzlich die mit dir lebenden Menſchen wenigſtens 
rückſichtlich deiner verbeſſern, und alle deine bisherigen Er— 
fahrungen umgeſtürzt werden, — dies iſt: werde du ſelbſt ein 
herzensguter, reiner Menſch, überwinde mit chriſtlicher Strenge 
deine eigenen Fehler, deinen Hang zur Wolluſt oder zum Ehr- 
geiz, oder zum Eigennutz, oder zum Leichtſinn; werde, was dir 
dein Gewiſſen ſagt, daß du ſein ſollſt, als ein Kind Gottes; und 
wahrlich, vermagſt du das, ſo wird ſich der Glaube von ſelbſt 
einfinden, daß auch andere Menſchen das Gleiche über ſich ver- 
mocht haben. Sei gut, und die Menſchen werden dir mehr gut 
als böſe vorkommen. Glaube an die Tugend, und du wirft fie. 
finden überall; um aber an die Tugend zu glauben, mußt du 
ſie haben. 

Dann wirft du dich nicht allein überzeugen, daß auch wirf- 
lich der verworfenſte Verbrecher nicht durchaus böfe und ver- 
dorben ſei, und feine guten Seiten habe: ſondern du wirft dich 
daran gewöhnen, bei Allen, mit denen du umgehſt, am liebſten 
auf ihre guten Eigenſchaften hinzublicken, ſie deswegen zu achten, 
und ihre andern Schwächen mit größerer Nachſicht zu behandeln. 
Ja, was noch weit mehr iſt, du wirſt dann auffallend bemerken, 
daß du ſelber durch dein bisheriges Benehmen manche innere 


— 274 — 


Schwäche erſt anſtößiger gemacht hatteſt. — So wie du einmal 
dahin gekommen biſt, in jedem Menſchen ſein Gutes zu ſehen und 
anzuerkennen, wirſt du ihn nothwendig darum ſchätzen, du wirſt 
Gegenliebe erwecken; die vorherigen Schwächen werden ſich vor 
dir zurückziehen. Du wirſt glückſeliger in deinen Verbindungen 
ſein, als du jemals Hoffnung hatteſt zu werden. Deinem Zu⸗ 
trauen kommt das Vertrauen erwiedernd entgegen. 

Und wenn du auch ſchon einmal in deinem Glauben getäufcht 
worden wäreft, und wenn du auch einmal betrogen werden ſollteſt: 
beurtheile nicht alle Menſchen nach einem einzigen! Schon dein 
eigenes Gefühl ſagt dir: ſolch ein Urtheil ſei übereilt, unbeſonnen, 
und höchft ungerecht gegen Unſchuldige. Ja, dein beſſeres Ge⸗ 
fühl wird dir ſagen, es ſei beſſer, hundertmal betrogen und ver⸗ 
kannt zu werden, als einmal Andere zu betrügen oder zu ver⸗ 
kennen. Der Undank der Menſchen ſoll dich nicht ſchmerzen, 
denn Haft du wohlgethan, und geliebt, ohne eigennützkge Abſicht, 
ſo hoffteſt du keinen Dank; thateſt du aber wohl, und wareſt du 
gütig in Erwartung eines Dankes, ſo haſt du keinen verdient, 
weil du nicht wohlthun, ſondern andere Menſchen zu deinen 
Schuldnern machen wollteſt, ohne daß ſie dies zu werden von 
dir begehrt hatten. Der Undankbare iſt bemitleidenswerth, nicht 
aber der ächte, chriſtlich geſinnte Wohlthäter der Menſchen. Habe 
Glauben an menſchliche Tugend, und würdeſt du auch einmal 
und zehnmal getäufcht: laß dich lieber täufchen, ſtatt in beſtän⸗ 
digem Mißtrauen und immerwaͤhrender Angſt zu leben, getäufcht 
werden zu können. Der Furchtſame verliert ſein Leben durch die 
bloße Furcht, es zu verlieren. 


31. 
Die Macht der Wahrheit. 
Joh. 3, 1921. 


Himmelstochter, heil'ge Wahrheit, 
Wort aus Gott, o Stern der Nacht! 
Du haſt Leben, Troſt und Klarheit 
In des Todes Staub gebracht; 
Jeſus führte dich zum Throne 
Gottes in das Geiſterreich; 

Das brach der Tirannen Krone, 
Und der Prieſter Stolz ward bleich. 
Was ſich deinen Strahlenkreiſen 
Heuchelnd nahet, wird zum Nichts; 

Und die Kunſt der falſchen Weiſen 
Stirbt am Zauber deines Lichts. 

Unter deinem Banner ſtehen, 
Kämpfen, ſterben will auch ich! 
Mag die ganze Welt vergehen, 
Gottes Wort bleibt ewiglich! 


Des Menſchen Sohn, Jeſus Chriſtus, ſprach zu jenem Oberſten 


der Juden, der zu ihm trat des Nachts, Wahrheit zu lernen vom 
göttlichen Meiſter, folgende Worte voll tiefen Sinnes: „Das iſt 


aber das Gericht, daß das Licht in die Welt gekommen iſt. Und 


die Menſchen liebten die Finſterniß mehr als das Licht, denn ihre 
Werke waren böſe. Wer Arges thut, haſſet das Licht, auf daß 
ſeine Werke nicht ſtrafbar werden. Wer aber die Wahrheit thut, 
der kommt an das Licht, daß ſeine Werke offenbar werden; denn 
fie find in Gott gethan!“ (Joh. 3, 19 — 21.) Es iſt ein fchöner, 
oft der einzige Troſt edler Menſchen in dieſen Worten des gött- 
lichen Weiſen von Nazareth eingeſchloſſen. 

Es iſt ein ſchöner, oft der einzige Troſt edler Menſchen, wenn 
fie häufig Augen- und Ohrenzeugen der allgemeinen Verfchlech- 
terung der Sitten und des Glaubens ſein müſſen, daß endlich 
über die Werke der Finſterniß das Licht eines Tages hervorgehen 
werde, der alle im Dunkeln getriebenen Schändlichkeiten in ihrer 
ganzen Abſcheulichkeit offenbaret; daß endlich Wahrheit die 


lange vergötterte Lüge überwinden, den ſtolzen Heuchler entlarven, 


den andaͤchtelnden Wucherer der wohlverdienten Schmach preis⸗ 


win 


geben, den Witz des albernen Religionsſpötters zerſchmettern, 
den tückiſchen Stolz herrſchſüchtiger Prieſter und Phariſäer in 
den Staub beugen, die Frechheit des ungeſtraften Ehebrechers 
erſchüttern, die Geilheit des reichen Wollüſtlings züchtigen, die 
Thränen der geſchändeten Unſchuld rächen, den ſchlauen Betrüger 
und Mißbraucher fremden Gutes an den Pranger öffentlicher 
Verachtung ſtellen, den hinterliſtigen Afterredner, den ſchaden⸗ 
frohen Verleumder verſtummen machen, den Verräther ſeiner 
Brüder an den Fluch der Welt ausliefern werde. 

Es iſt ein ſchöner, oft der einzige Troſt edler Menſchen, daß 
die Wahrheit endlich obſiegen werde, und die lange verhöhnte 
Tugend, das lange ſtraflos zertretene Recht wieder emporheben 
werde, weil ſie Augenzeugen ſein müſſen, wie nichts Heiliges 
mehr im Himmel und auf Erden iſt, das nicht vom wahnſinnigen 
Selbſtdünkel und der Alles außer ſich verachtenden Selbſtſucht 
entweiht wird; wie eine zahlloſe Menge der Chriſten höhnend 
auf Chriſten blickt, und ſich, wie einer Kinderthorheit, der Reli— 
gion ſchämt; wie eine noch größere Menge, verſäumt durch Re— 
gierungen und Lehrer, im empörendſten Aberglauben, in tiefſter 
Unwiſſenheit ſchmachten muß, ohne Kenntniß ihrer eigenen 
Würde, ohne würdige Vorſtellung vom höchſten Gott, ohne 
lautere Begriffe von ihrer ewigen Beſtimmung; wie Diener des 
Altars, Nachfolger der Apoſtel, Verkündiger Jeſu Chriſti, oft 
ſelbſt nicht glauben, was ſie lehren, und ihren heiligen Beruf 
um des Brodes willen mit Gedankenloſigkeit treiben, wie ein 
Handwerk: wie fie das gemeine Volk vorſätzlich im Irrthum bes 
feſtigen, den fie ſelbſt verlachen, und dafür in Pracht, Luſtbar⸗ 
keiten und Schwelgereien ihre Tage verpraſſen; fie, die ſich Nach⸗ 
folger des demuthvollen Jeſu heißen, und Keuſchheit predigen, 
während ſie Unzucht treiben; Menſchenliebe predigen, während 
fie ſich Haß und Ränke erlauben; gegen Hochmuth eifern, wäh—⸗ 
rend fie ſelbſt von herrſchſüchtigen Begierden lodern, und den bis 
zum Kerker verfolgen, der ihre Verworfenheit muthig offenbart. 

Es iſt ein ſchoͤner, oft der einzige Troſt edler Menſchen, daß 
endlich ein Tag erſcheinen wird, an welchem die Wahrheit als 
hohe Nächerin ihrer Verächter auftritt, und dem Hohn der Mit- 


1 


und Nachwelt überantwortet die gekrönten Unterdrücker des Völker⸗ 
rechts und deren oft noch ſchändlichere Werkzeuge und Diener; 
die ſklaviſchen Schmeichler und Vergötterer deſſen, der für den 
Augenblick triumphirt; die den Staub küſſen von den Füßen 
deſſen, den ſie wenige Stunden vorher, ehe ihn das Glück erhob, 
verſpotteten, und den mit Füßen treten und läſtern, ware er auch 
ihr Wohlthäter geweſen, der vom Glück verlaſſen worden; die 


Ausſauger des Volks, welche Länder entmarken, um in Prunk 


und Völlerei zu leben; die falſchen Richter, welche nicht Diener, 
ſondern Verkäufer der Gerechtigkeit ſind; die treuloſen Beamten, 
welche den Unterthan mißhandeln, den ſie nicht plündern! Ihrer 
Aller, dieſer Verächtlichen, dieſer Chriſten ohne Chriſtenthum, 
dieſer Anbeter ihres eigenen Nutzens, ohne einen andern Gott — 
ihrer Aller harret ein Tag des Gerichts! — Das iſt aber das 
Gericht, daß das Licht in die Welt gekommen iſt. 

Es iſt gekommen! — Umſonſt ſchmeicheln ſich jene Laſter⸗ 
haften, man kenne ihre Unwürdigkeiten nicht. Man kennt ſie. 
Man vergleicht, was ſie waren und jetzt ſind. Man weiß, was 
ihr ſeid, aber nicht fein ſolltet. Umſonſt hoffet ihr, eure verbo- 
tenen Werke durch künſtliche Bemäntelungen vor den Augen der 
Welt zu verhüllen; man kennt eure Kunſtgriffe: es iſt des Lichtes 
ſchon zu viel. Umſonſt hoffet ihr durch euer gegenwaͤrtiges An⸗ 
ſehen, durch den Einfluß und die Macht, deren ihr noch heute 
genießet, die Kühnen zurückzuſchrecken, die zur Kunde eurer 
Falſchheit, eures Betrugs gekommen ſind. Sie ſchweigen heute, 
aber morgen ſind ſie eurer Gewalt entgangen; morgen reden ſie! 
Umſonſt ſuchet ihr die Mitwiſſer eurer geheimen Schande durch 
Freundſchaft, durch Geſchenke, durch Belohnungen zu feſſeln. 
Sie nehmen eure Gaben, ſchwören euch Anhänglichkeit, aber — 
ſie gleichen euch ſelbſt — morgen, wenn ſie beſſere Gelegenheit 


finden, werden ſie eure Verräther. 


Die Menſchen — alſo ſprach Jeſus — liebten die Fin— 
ſterniß mehr, als das Licht, denn ihre Werke waren 


böſe. Es war, da Jeſus kam, der bei weitem großere Theil der 


Menſchen in die gemeinſte Sinnlichkeit verloren. Die Freiheit 
war untergegangen, auf Erden lebten nur Tirannen und de⸗ 


— 278 — 


müthige Sklaven, die den frechen Gelüſten ihrer Gebieter Beifall 
gaben und Weihrauch ſtreuten. Aber die Menſchen wußten es 
nicht beſſer, und glaubten, es müſſe ſo ſein, und von jeher ſei 
es ſo geweſen. Die Fürſten hatten nur Rechte, die Völker nur 
Pflichten. Für den Stolz der Könige mußten Nationen in ewi⸗ 
gen Kriegen bluten, und ſich noch ihres Elendes freuen. Tauſend 
Göttern waren Altäre gebaut, von den Abgöttern der thieriſchen 
Luſt und Leidenſchaft, aber zum unſichtbaren, lebendigen Gott 
des Weltalls erhob ſich Keiner. Die Schriftgelehrten ſtritten über 
Nebendinge und allerlei Auslegungen der Schrift mit großer 
Spitzfindigkeit; aber Gott zu verehren im Geiſte und in der Wahr⸗ 
heit, und ſeine menſchenbeglückenden Gebote zu erfüllen, das 
glaubten ſie nicht vonnöthen zu haben. Phariſäer trieben in den 
Tempeln und Wohnungen Andächtelei, oder blendeten das Volk 
mit Scheintugenden, um deſto ſicherer in der Stille Unfug zu 
begehen; mahnten fleißig zum Beſuch der Tempel, zu Opfern, 
Faſten und andern äußerlichen gottesdienſtlichen Dingen; aber 
an Reinigung des Gemüths von herrſchenden Laſtern dachte Keiner. 
Das Volk lag in der Nacht des Aberglaubens und der Unwiſſen⸗ 
heit. Wer es aufzuklären wagte, wurde gehaßt, verfolgt, in 
Kerker geworfen, empfing den Giftbecher, und hieß bald ein Ver⸗ 
ächter der Gottheit und der Religion, bald ein Verführer des Volks, 
bald ein Empörer. Denn die Menſchen liebten die Finſterniß 
mehr als das Licht, weil ihre Werke böſe waren. 

Aber Jeſus, der Offenbarer Gottes und der Wahrheit, kam. 
Er brachte Licht in die Finſterniß. Er machte die Erkenntniß der 
menſchlichen Rechte und Pflichten, Beſtimmungen und Hoffe 
nungen nicht bloß zum Eigenthum einiger gelehrten Anſtalten, 
ſondern er verbreitete ſie über alle Glieder des Volks, über alle 
Nationen. Auch der Aermſte empfing ſie; auch der Unwiſſendſte 
begriff ſie. | 

Da zitterten die gekrönten Laſter, fie ſahen ihren Untergang. 
Da erjchrafen die Tirannen, denn fie fürchteten, mit der Wahr- 
heit komme wieder die Freiheit in die Welt. Da ergrimmten die 
falſchen Prieſter, deun nun erkannte Jeglicher ihre Unwürdigkeit, 
und daß nicht das Kleid, ſondern die Weisheit und Heiligkeit des 


— Be 


Gemüths den wahren Prieſter mache. Da tobten die Böfewichte 
aller Gattung, weil Gewaltſprüche nicht mehr Recht ſein ſollten, 


Rund dem Himmel nicht mehr die Vergebung aller Sünden mit 


Opfern und Faſten, mit Wallfahrten und Tempelbeſuchen, mit 
langen hergeplapperten Gebeten und reichen Almoſenſpenden ab⸗ 
gekauft werden konnte. Darum verfolgten ſie Jeſum, der das 
Licht der Welt geworden war, und ſchleppten ihn zum Tod am 
Kreuze. Denn wer Arges thut, der haſſet das Licht, auf 
daß ſeine Werke nicht geſtraft werden. 

Doch vergebens! — das iſt die Macht der Wahrheit, daß ſie 
auch den Weltdeſpoten ſtürzt und Kriegsheere entwaffnet, taufend- 
jährige Ketten bricht, und die Zauberformeln falſcher Weiſen 
zum Spott der Kinder macht. Jeruſalems Tempel zertrümmerte; 
die Opferaltäre des Heidenthums brachen zuſammen; der Scepter 
Roms, der über den Erdkreis ſchaltete, ward Staub; alte Reiche 
verſtoben, neue Reiche kamen auf — aber in den ſchrecklichen Um⸗ 
wälzungen beſtand ſieghaft Jeſu Lehre. Himmel und Erde mogen 
vergehen: Gottes Wort, die beſeligende Wahrheit, bleibt ewiglich. 

Aber die Kinder der Finſterniß, Menſchen, welche nur ihren 
Leidenſchaften fröhnten, kämpften fortdauernd gegen die Verbrei⸗ 
tung des göttlichen Lichts in der Welt. Die Rohheit und Un⸗ 
wiſſenheit barbariſcher Völker kamen ihnen zu Hilfe, die aus 
fernen unbekannten Gegenden hervorgingen, und erobernd die 
ſchönſten Länder des Erdbodens in Beſitz nahmen, wenige Jahr- 
hunderte nach Chriſti Geburt. Deß freuten ſich die, welche die 
Finſterniß liebten. Was das Alterthum noch Gutes, Großes und 
Schönes gehabt, ward vernichtet. Selbſt das Chriſtenthum ent⸗ 
artete in ein neues Heidenthum. Menſchen hoben ſich in thörichter 
Einbildung an Gottes Stelle. Man ſah neue Opfer, neue Al- 
täre, neue Faſten, neue Phariſäer. Man ftritt ſich um die Eigen⸗ 
ſchaſten der Perſon Chriſti, ohne an ſeine Lehre zu denken, durch 
welche er die Menſchen vollkommen machen wollte nach Gottes 
Ebenbilde; führte wieder äußerliche Gottesdienſtlichkeiten ein, ftatt 
auf des Herzens Heiligung zu dringen; entzweite ſich, und brachte 
Spaltungen und Parteien in die Gemeinſchaft der Chriſten, indem 
man Glaubenslehren erfand, von denen Jeſus nie geredet, und 


= 


Spitzfindigkeiten erſann, die keinen Sterblichen beſeligen. Doch 
vergebens. Die Macht der Wahrheit ſiegte. In jedem neuen 
Jahrhunderte feierte ſie neue Triumphe. Die Thorheiten der 
Menſchen gingen eine um die andere in Vergeſſenheit — aber 
Gottes Wort, die Wahrheit des Lebens, bleibt ewiglich. | 
Noch heute ringt das Licht der Lehre Jeſu mit der Nacht der 
Barbarei, die unbeſiegbare Wahrheit mit dem Irrthum der Un⸗ 
wiſſenheit und den Kunſtgriffen der Leidenſchaften. Denn noch 
heute haſſet das Licht, wer Arges thut, auf daß ſeine Werke nicht 
geſtraft werden. N 
Wenn Jeſus, der Göttliche, heute wieder in göttlicher Geſtalt 
auf Erden wandelte, ein Urbild unbeſcholtener Tugend, ſtiller 
Demuth, inniger Verläugnung alles deſſen, was der irdiſch ge⸗ 
ſinnte, gewöhnliche Menſch als das herrlichſte Ziel feiner Begier— 
den ehrt: wie viele würden wohl unter den Chriſten auf ihn blicken? 
Wie viele unter den Erdengroßen, welche zu ſeinen Altären wan⸗ 
deln, würden ihre Eroberungsſucht ablegen, und lieber Nationen 
glücklich als blutigglänzend machen wollen? Wie viele von denen, 
welche ſich Verkünder des Gekreuzigten heißen, würden ihrer 
Eitelkeit, ihrer Prachtluſt, ihrer Habſucht entſagen, um heilig und 
edel zu werden, wie ihr Meiſter? Wie viele beſtechliche Richter, 
wie viele Heuchler, wie viele Wollüſtlinge, wie viele Wucherer, 
wie viele Trunkenbolde würden ihren Laſtern abſchwören, um 
ihm nachzufolgen? Wie viele Reiche und Wohlhabende würden 
einen beſſern Gebrauch von ihrem Vermögen machen, um ſeine 
wahren Jünger zu fein? Und wenn Jeſus unter uns in der Ma⸗ 
jeſtät ſeiner Unſchuld die donnernde Stimme erhöbe gegen die 
Entweihung der Gottestempel durch Buhlſchaften, Prunktreiben, 
boshafte Witzeleien, Scheinheiligkeiten und Gewohnheitswerke; 
wenn er das Otterngezüchte jchälte, die das Gute predigen, die— 
weil fie böfe find; wenn er den Rachſüchtigen zuriefe: liebet eure 
Feinde! wenn er zu der blinden Menge ſpräche: das Volk nahet 
ſich zu mir mit ſeinem Munde, und ehret mich mit ſeinen Lippen, 
aber ihr Herz iſt fern von mir; aber vergeblich dienen ſie mir, die— 
weil ſie lehren ſolche Lehren, die nichts denn Menſchengebote ſind! 
(Matth. 15, 8. 9.) — würde Jeſus nicht heute bald ein Schwär- 


- Me 


mer, bald ein Empörer, bald ein aufflärender Feind des einge- 
führten Gottesdienſtes, bald ein Sektirer, bald ein unehrerbietiger 
Gegner der Throne und Altäre heißen? Würden ſich nicht An⸗ 
fläger, würde ſich nicht ein Kaiphas finden; würde, wenn ſchon 
ein Pilatus ſpräche: ich waſche meine Haͤnde in Unſchuld, und 
ich ſehe nichts des Todes Würdiges an dieſem Menſchen! würde 
nicht ein aufgereizter Pöbel vorhanden ſein, der noch einmal das 
„Kreuzige! Kreuzige!“ ſchrie? 

Ja, noch ringt heutiges Tages dus Licht der Wahrheit gegen 
die Finſterniß des Irrthums und ſelbſtſüchtiger Begierden; darum 
haſſet noch heute, wer Arges thut, das Licht, auf daß ſeine Werke 
nicht geſtraft werden, indem Jedermann ſeine Elendigkeit erkennt. 
Doch Gottes Wort bleibt ewiglich. Die Wahrheit wird obſiegen. 
Eure Reiche werden zertrümmern, eure Ordensbänder vermodern, 
eure Schulweisheit vergeſſen, eure frommen Hoffärtigfeiten ver- 
nichtet werden; aber die ewige Wahrheit bleibt und richtet euch 
in Aller Herzen. Sie richtet euch, wie im Herzen der Gerechten, 
ſelbſt im Gewiſſen eurer Mitſchuldigen. Sie richtet euch im 
Munde der Nachwelt über euern Gräbern. Sie richtet euch im 
Munde des Todtenrichters unter den Schrecken der Ewigkeit! — 
Verfolget immerhin den, der die Wahrheit ausſpricht: die Wahr⸗ 


heit ſelbſt koͤnnet ihr nicht in den Kerker ſperren, nicht in Feſſeln 
ſchlagen, nicht mit Acht und Bann aus dem Reich der Geiſter 
treiben. Tödtet immerhin den Bekenner der Wahrheit: die Seele 


laſſet ihr ungetödtet, und die Wahrheit iſt unſterblich, auf daß 


ihr durch ſie gerichtet werdet. 


Wer aber die Wahrheit thut, der kommt an vas Licht, 


daß feine Werke offenbar werden; denn fie find in Gott 


gethan! 
Er kommt an das Licht, denn er handelt in Gott, und Gott 


iſt mit ihm, und Gott wirkt durch ihn; denn die Wahrheit iſt 


aus Gott. — Er kommt an das Licht; er fürchtet das Gericht der 


Wahrheit nicht. Seine Werke ſind in Gott gethan. Warum ſollte 


er vor den Menſchen ſcheu ſein? Der Freund der Wahrheit, 
furchtbar jedem Böſewicht, welcher von ihm entlarvt zu werden 


beſorgt, empfindet ſelbſt keine Furcht vor ihm. 


— 


Das iſt die Macht der Wahrheit, daß fie ihren Freund mit 
einem hohen, göttlichen Muthe beſeelt, und ihn alle Schrecken 
des Todes verachten lehrt. Sie gibt dem Schwachen Stärke, daß 
er kühn dem Gewaltigſten der Erde vor das Antlitz tritt. Sie 
gibt dem Niedrigſten eine Hoheit, vor welcher ſelbſt der ſchuld⸗ 
bewußte Tirann erzittert. Sie macht den Mund des Ungelehrten 
beredt, daß alle Ueberredungskünſte der Schlauheit daneben zu 
Schanden werden; ihr Lichtſtrahl zuckt mit wunderbarer Schnellig⸗ 
keit durch alle Geiſter, und überwältigt Alle, die ſich dagegen 
ſträuben möchten. Verläugnen kann der Böſewicht die Wahr⸗ 
heit, aber darum hat er ſie nicht minder anerkennen und ihren 
durchdringenden Schmerz in ſeiner Bruſt fühlen müſſen. 

Wer dem menſchlichen Geſchlechte eine neue Wahrheit bringt, 
hat mehr erobert, als wer mit ſeinen Waffen ein Weltreich ſtiftet. 
Denn dies Reich wird vergehen; es iſt irdiſch. Aber die Wahr⸗ 
heit ſteht ewig feſt im Reiche der unſterblichen Geiſter. Wer die 
Wahrheit thut, der kommt an das Licht, daß ſeine Werke offen⸗ 
bar werden, denn ſie ſind in Gott gethan. Warum zitterſt du, 
Kleinmüthiger, in Erfüllung deiner Pflichten, daß du durch ſie 
anſtößig werden könnteſt? Deine Pflicht iſt göttlich — warum 
fürchteſt du Menſchen? Warum ſchämſt du dich, vor der Welt 
jo redlich, fo gerecht, jo fromm zu fein, als du fein könnteſt, jo 
zu erſcheinen, wie du wirklich in dir denkſt und biſt? Tritt hervor 
an das Licht, laß deine Werke immerdar offenbar werden, denn 
ſie ſind in Gott gethan. 

Es kommt an das Licht, wer die Wahrheit thut, daß ſeine 
Werke offenbar werden. Darum verzage nicht, o du edler Unter⸗ 
drückter, deine Unſchuld wird vergebens in Nacht begraben. Der 
Strahl der Wahrheit erleuchtet ſelbſt die Gräber. Und ſchweigen 
die feigen Lebenden, Gott wird den Todten Zungen geben, deine 
Rechtfertigung zu führen. Verzage nicht, noch ließ Gott die Tu⸗ 
gend nicht auf immer untergehen, denn die Tugend iſt Wahrheit. 
Sie findet ihren Vertheidiger ſelbſt im Gewiſſen deſſen, der ihr 
Verderben geſchworen hat. — Verzage nicht, du, den die Welt 
verkennt und verleumdet: haſt du die Wahrheit gethan, ſo werden 
deine Werke offenbar werden, denn ſie ſind in Gott gethan! Deine 


„ 


Gerechtigkeit wird einſt anerkannt, deine Warnung einſt erfüllt, 
die Schaar deiner Gegner durch die Gewalt der Wahrheit ge⸗ 
richtet werden. | 

Urquell, heiliger, reiner Urquell alles Lichts und aller Wahr⸗ 
heit, mein Gott und mein Vater, zu Dir erhebt ſich in Anbetung 
mein Geiſt, daß er ſich in Dir heilige, lautere und ſtaͤrke! — 
Auch ich, auch ich will auf Dein Geheiß die Werke der Wahrheit 
verrichten ohne Menſchenfurcht; will verbannen aus mir die fin⸗ 
ſtere Gewalt des Irrthums und der Leidenſchaft, und da ſtehen, 
mir ſelbſt getreu, wie ich ſein ſoll nach Deinem Willen, den mir 
Jeſus offenbaret hat. — Fern ſei von mir in Zukunft Nachred⸗ 
nerei alles deſſen, was die Welt gern ſagt und hört, und was 
meinem Gewiſſen und meinen Ueberzeugungen widerſpricht. Fern 
ſei von mir jene feige Heuchelei, welche um den Beifall verdor⸗ 
bener Herzen buhlt, und öffentlich das Schlechte lobt, was ſie im 
innerſten Gemüth verdammt. — Nein, ganz der Wahrheit ange⸗ 
hören will ich in Wort und Werk, ihr, durch die ich einſt gerich⸗ 
tet werden werde; ich will ihr mein Leben bringen; ſterben, wenn 
es ſein muß, für ſie, wie Jeſus ſtarb und mancher ſeiner edeln 


Nachfolger. 


Heilige mich, Gott, ftärfe mich in Deiner Wahrheit; Dein 
Wort iſt Wahrheit. Amen. 


— 284 — 


| 32. 
Die Welt dein Spiegel. 
Pſalm 104, 24. 


Wo iſt, o Gott, ein Elend auf der Erde, 
Das von der Sünde nicht erzeuget werde? 
Stets enden ſich der Uebertödtung Freuden 
In bitt'res Leiden. 


Ach, wären wir vom Kinde bis zum Greiſe 
Gehorſam Deinem Willen, gut und weiſe 
Was könnten wir bei ruhigem Gewiſſen 
Für Glück genießen! 


Unzählbar ſind, o Vater, Deine Gaben, 
Die wir zu Quellen wahrer Freude haben; 
Und Frevel iſt's, wenn wir noch Thaten üben, 
Die Dich betrüben. 


Wohin ich komme, begegnen mir Klagen. Jeder hat Etwas, 
worüber er ſeufzt. — Ich trete in Geſellſchaften: zum Schein 
ſehe ich wohl heitere Mienen überall; aber man ſpricht von An⸗ 
dern, und ich höre wie unglücklich Der und Dieſer iſt, welcher 
ſich abweſend befindet. Der Eine hat eine mißvergnügte Ehe, 
der Andere ſeufzt unter der Laſt von Geldſchulden, der Dritte iſt 
in Prozeſſen verwickelt, welche ihm viel Sorgen machen, der 
Vierte hat ungerathene Kinder. So ſpricht man von denen, die 
abweſend ſind, und bedauert ſie. Ich komme zu Andern. Ich 
höre wieder von denen ſprechen, deren Fröhlichkeit ich in der Ge— 
ſellſchaft bewundert hatte, und erfahre, es gehe ihnen die Freude 
nicht aus dem Herzen. Der Eine ſei durch die Zeitläufe in feinen 
Glücksumſtänden ſehr zurückgekommen; der Andere habe das Amt 
nicht bekommen, auf welches er gehofft, und habe darum viel 
Aerger; der Dritte ſei im übeln Rufe wegen unerlaubten Um- 
gangs, und bereite ſich große Schmach; der Vierte leide viel 
durch Ungerechtigkeit und Härte ſeiner nächſten Verwandten. 
Könnten wir von Haus zu Haus, von Dorf zu Dorf, von 
Stadt zu Stadt gehen: wo würden wir wohl eine Familie finden, 
in welcher reines Glück, ungetrübte Heiterkeit wohnte? Wir kaͤmen 
vielleicht zu Tauſenden, und von dieſen noch einmal zu Tauſen— 


3 


den, ehe wir eine fänden, die von Herzensgrund ſpräche: „Wir 
ſind vollkommen zufrieden. Freilich gibt es hin und wieder kleine 
Unannehmlichkeiien, aber die müſſen auch ſein, damit der Reiz 
des Angenehmen deſto großer werde. Wir bitten vom Himmel 
nur, daß er unſer gegenwärtiges Glück bewahre. Doch wir ſehen 
ein, dies könne nicht fein. Mancherlei böſe Ereigniſſe, oft eigener 
Irrthum, endlich Krankheit und Tod, werden unſern frohen 
häuslichen Kreis zerſtören. Aber auch dann — wenn unſere 
Augen im Schmerz Blut weinen möchten — auch dann wird 
zufriedener Sinn und ſtille Heiterkeit nicht von uns fliehen. Wir 
wiſſen ja, es iſt nichts auf Erden ewig: nur Gott und ſeine Liebe 
und ſein Himmel bleiben uns ewig!“ Wo iſt die Familie, welche 
jo ſprechen kann, oder die fo ſpricht? Wohl wird mancher zwei⸗ 
feln, der durch ſein ganzes Leben ein blutendes, zerriſſenes, un⸗ 
ruhiges Herz trägt, daß in der Welt eine ſolche Haushaltung 
wohne. Aber doch, ich zweifle nicht daran, daß ſie vorhanden 
ſei. Es iſt mehr als eine vorhanden. Allein die, welche am glück⸗ 
lichſten find, treiben das wenigſte Geräuſch, leben ſtill zurückge⸗ 
zogen. Man bemerkt ſie kaum. Man würde bei ihnen das höchfte 
Glück auf Erden am wenigſten geſucht haben. Doch ihre Zahl 
iſt klein. Unter Tauſenden und Tauſenden begegnen wir kaum 
einer ſolchen. i | ant 
Wenn denn ſo wenig Freude auf Erden wohnt, und des 
öffentlichen und geheimen Leidens fo viel, jo mancherlei: warum 
preiſen wir denn Gottes Güte, Gottes Weisheit? Iſt es Güte, 
daß wir ein qualreiches Daſein haben, in welchem kaum ein Tag 
mit ganzer Harmloſigkeit genoſſen werden kann? Iſt es Weis⸗ 
heit, daß wir ſchwache Menſchen mit mehr Uebel als Glückſelig⸗ 
keit umringt ſein müſſen? Warum ruft David: „Herr, wie ſind 
Deine Werke ſo groß und viel! Du haſt ſie alle weislich geord⸗ 
net, und die Erde iſt voll Deiner Güte!“ (Pſalm 104, 24.) 
Wenn ich die Klagen der Menſchen unterſuche, ſcheint es mir 
beſonders merkwürdig, daß Keiner über die gleichen Uebel ſich 
beſchwert, ſondern Jeder andere Urſachen zum Mißvergnügen hat. 
Hier beſchwert ſich bitter ein reicher Mann über die ſchlechten 
Zeiten, dort ein angeſehener Mann über Neid und Verleumdung. 


— 286 — 


Hingegen ein armer Taglöhner bringt freudig ſeinen Lohn zu 
Weib und Kind, und dankt Gott für den reichen Segen; lächelt 
auch dazu, daß ein ſchlechter Menſch ihn bei ſeinen Vorgeſetzten 
anſchwärzen wollte, denn er iſt ſich ſeiner Unſchuld bewußt. — 
Hier find die gleichen Uebel, aber doch werden fie von dem Einen 
nicht ſo hart empfunden, als vom Andern. Woher? Man ant⸗ 
wortet: Der Reiche und Angeſehene war eines beſſern Schickſals 
gewohnt; der Arme hingegen nicht. — Wenn dem alſo iſt, ſo 
liegt der Quell des Mißvergnügens nicht in den geringern Ein⸗ 
künften ſelbſt, nicht in dem Urtheile der Menſchen, ſondern in der 
Verletzung unſerer Gewohnheit. — Was iſt Gewohnheit? Es 
iſt Abhängigkeit unſers Lebens von gewiſſen äußern Umftänden. 
Wer aber iſt Schuld, daß wir Sklaven äußerer Umſtände wer⸗ 
den? Gott? — Wahrlich nicht. Die Umſtände kommen durch 
ihn, aber die Gewohnheiten von uns, denn ſie liegen in uns. 

Zwei Menſchen bewerben ſich um gleiches Amt und gleiche 
Würde; Beider Wünſche bleiben unerfüllt. Ein Dritter em⸗ 
pfängt ohne Verdienſt, wonach ſie ſtrebten. Der Schmerz dar⸗ 
über wirft den Einen auf das Krankenbett. Der Andere lächelt 
über die Spiele des Glücks, und vergißt bald, wonach er ge- 
trachtet. Haben nicht Beide gleiches Schickſal erfahren? — — 
Warum macht es den Einen unglücklich? Er war ehrgeiziger als 
der Andere. Wenn dem ſo iſt, ſo machte ihn nicht ſein Schickſal, 
ſondern ſein Ehrgeiz elend. Das Schickſal kam von Gott, der 
Ehrgeiz aus dem Gemüthe des Menſchen. 

Aeltern weinen über dem Sarge eines heißgeliebten Kindes. 
Aber Einer von ihnen beruhigt ſich; er weiß, es iſt nur eine kurze 
Trennung; unſere Heimath iſt nicht hienieden; es iſt Alles wohl 
aufgehoben in Gottes Liebe; wir ſehen uns wieder. Der Andere 
weiß dies Alles auch; aber ſein Gram iſt darum nicht minder 
troſtlos, und vernichtet ihm alle Lebensluſt, und zerſtört ihm ſo⸗ 
gar die eigene Geſundheit. Beide erfuhren gleiches Schickſal, 
Beide hatten die gleiche Empfindſamkeit, die gleiche Religion. 
Aber warum war der Eine von ihnen auf immer unglücklich? 
Weil er mit Leidenſchaft liebte, das heißt, mit einer Heftigkeit, 
wodurch ſeine Vernunft unterdrückt ward, ſeine Vernunft, die 


3 Bm 


ihm immer ſagte: Es iſt im Irdiſchen nichts bleibend, mache dich 
zu jeder Stunde auf jeden Verluſt bereit. Das Schickſal kam 
von Gott, die Leidenſchaft aus dem Herzen des Menſchen. 

Da nun Jedermann die Uebel des Lebens anders betrachtet; 
da dem Einen ſehr gleichgültig fein kann, was dem Andern un⸗ 
erträglich fällt; da, was dem Einen ein großes Unglück, dem 
Andern recht gut und nützlich ſcheint: ſo iſt eigentlich kein Uebel 
in der Welt, als dasjenige Schickſal, was wir ſelbſt zu einem 
Uebel machen. Oder nenne mir ein Schickſal, von welchem alle 


Menſchen, jung und alt, reich und arm, unwiſſend und weiſe, 


einmüthig behaupten, es ſei das größte Uebel! — Selbſt der 
Tod iſt nicht das größte, denn wie Viele wählen ihn freiwillig, 
um einer Schande zu entfliehen! Selbſt die Schande iſt nicht das 
größte Uebel, denn wie Viele laſſen ſich dieſelbe gefallen, wenn 
ſie nur nicht arm ſein müſſen! Selbſt die Armuth iſt nicht das 
größte Uebel, weil Tauſende fie vorziehen, ftatt mit Gefahr ihrer 
Geſundheit größeres Vermögen zu erwerben. Selbſt Verluſt der 
Geſundheit iſt nicht das größte Uebel, weil Millionen Menſchen 
dieſelbe oft für das Nichtswürdigſte aufs Spiel ſetzen. 

Fragſt du in der Welt umher, welches denn das größte aller 


Uebel ſei, oder das, was Jedermann für Unglück halte: fo 


wirſt du eben ſo verſchiedene Antworten empfahen, als wenn du 
fragteſt, was Jeder für ſein größtes Glück halten werde. 
Daraus dürfen wir mit Gewißheit ſchließen, daß die Schick⸗ 


ſale, welche Gott ſendet, an ſich alle gleich ſind; aber die Men⸗ 


ſchen ſind ſich einander nicht gleich, welche das Schickſal em⸗ 


pfangen. Was Gott thut, das iſt wohlgethan; aber der Menſch 


fügt das Uebel erſt hinzu. Nicht von außen kommt das Unglück 


über uns; ſondern aus unſerm Innern geht das Elend des Lebens 
hervor über die Außenwelt. Die Welt bleibt mit ihren Geſetzen 
und Ordnungen immer dieſelbe, aber der Sterbliche beurtheilt 
ſie verſchieden, und trägt erſt ſeine Noth und Qual in dieſelbe 
hinein. 


Ich erkenne, o Sterblicher, aus deinen Klagen über das 


Leben, nicht, wie das Leben in dieſer Welt ſei, ſondern wer du 


biſt. Die Welt iſt dein Spiegel. Wie du ſie anſiehſt, ſo biſt 


du! In allen Seufzern über das Uebel ſprichſt du deine eigene 
Anklage aus. 

Die Welt dein Spiegel! Das Kind tändelt kummerlos. 
Des Winters Froſt und Schnee bringt ihm ſo viel Vergnügen, 
als des Frühlings Blumenpracht. Mit leichtem Sinn geht es 
vergeßlich über das Angenehme wie über das Unangenehme hin. 
Es betrachtet und behandelt das Leben in ſeiner Unſchuld und 
Unwiſſenheit, wie der Weiſe und Chriſt aus Grundſätzen thut. 
Beide, der Weiſe und das Kind, hängen ihr Herz an nichts Ver⸗ 
gängliches; das Kind, weil es noch keine Gewohnheiten hat; jener, 
weil er keine unauflöslichen Gewohnheiten will. Darum ſprach 
Chriſtus voll tiefen Sinnes: Wenn ihr nicht werdet wie die 
Kindlein, ſo werdet ihr nicht zum Himmelreich gelangen. 

Das Leben iſt dein Spiegel! — Es weint das Kind, von 
Dornen verwundet: Die Thränen klagen nicht den Dorn, ſondern 
den Leichtſinn an. Es weint, weil es ſich von einem Fall weh 
that; es klagt nicht die Härte des Steins, ſondern die eigene Un- 
vorſichtigkeit an. Der Erwachſene trauert über Treuloſigkeit der 
Freunde; er trauert über feine Unerfahrenheit. Er jammert über 

die Verminderung ſeines Vermögens: nein, über ſeine Eitelkeit, 
über ſeinen Hang zu mancherlei Bequemlichkeiten, die nun ein⸗ 
geſchraͤnkt werden müſſen. Es iſt nie die Unvollkommenheit der 
Welt, ſondern unſere eigene Unvollkommenheit, die wir durch 
Klagen an den Tag legen. Sei du nur beſſer, und es wird 
beſſer ſein. 

Man ſpricht wohl von. unverſchuldetem Unglück, das 
der Sterbliche erfährt. Und in der That iſt mancherlei, welches 
uns weh thut, ohne daß wir uns vorzuwerfen haben, es durch 
eigene Thorheit verurſacht zu haben. Was kann das unſchuldige 
Kind dafür, wenn es von anſteckenden Krankheiten überfallen, 
auf dem Schmerzenlager winſelt? Was kann der dafür, dem un— 
geſunde Aeltern einen gebrechlichen Körper oder vergiftete Säfte 
vererbten? Was kann der Wanderer dafür, der ſich, unkundig 
des Weges, verirrt in Wüſten oder auf Meeren, und Hungers 

ſtirbt? Was kann der Unſchuldige dafür, der Schmach und Haß 
erfährt, und ſelbſt bürgerliche Strafen, weil er von Böfewichten 


— 289 — 


verklagt, von ungerechten Richtern verurtheilt wird, oder weil ſich 
alle Umſtände verſchworen zu haben ſcheinen, wider ihn boͤſes 
Zeugniß abzulegen? — So gibt es viele Schickſale, die dem 
Leidenden Blut und Thränen abpreſſen, ohne ſein Verſchulden. 
Geht hier das Elend aus ihm hervor, oder iſt es nicht die Hand 
eines höhern Weſens, welche es über ihn bringt? 

Allerdings trifft uns zuweilen, doch ſelten iſt's, durch 
Fügungen Gottes eine Noth, an der wir unſchuldig ſind. — Doch 
in Allem liegt neben dem Schmerz auch der Troſt. So ordnete 
es die ewige Weisheit. Warum ſie aber ſo und nicht anders 
handelte, erkennen wir nicht. Wer überſieht die Verbindungen, 
Geſetze und Zwecke des geſammten Weltalls? wer darf ſich ver⸗ 
meſſen, Gottes Rathſchlüſſe und Abſichten zu durchſchauen? 
Zwecklos geſchah nichts, ſeit Anbeginn alles Lebens; und Gottes 
Zwecke find feiner unendlichen Güte gemäß, die aus Allem, was 
er ſchuf, ſonnenhell leuchtet. — Der Schmerz der Krankheiten, 
die nicht Folgen unſerer Vergehungen, ſondern oft nur menſch⸗ 
licher Kurzſichtigkeit oder früherer Urſachen ſind, iſt immerdar 
Schmerz. Doch jeder fliegt vorüber, und in feiner größten Stärke 


iſt er mit wohlthätiger Betäubung des Kranken verknüpft. Oft 
iſt er für den Zuſchauer ſchauderhafter und betrübender, als für 
den, welcher ihn leidet. Dieſer ſchlummert unter Verzuckungen, 


wo jener als Zeuge von eingebildeten Qualen bebt. Der Tod 


aber iſt kein Uebel, ſondern das Ende des Schmerzes. Unver⸗ 
ſchuldetes Leiden iſt die Schule der Weisheit und Seelengröße 
für den, welchen es trifft, wie für den, welcher Zuſchauer iſt. 
Wer ungebeſſert duldet, oder zuſchaut, für den ging ein großes, ern⸗ 
ſtes Schickſal umſonſt warnend vorüber — ihm wird ein ſchwereres 
begegnen. — Biſt du weiſe genug, ſo wird auch unverſchuldetes 
Unglück für dich kein Unglück, ſondern Quell eines Glückes ſein, 


das heißt, einer neuen Vollkommenheit deiner Seele und einer 
engern Annäherung zur Gottheit. 8 

Doch die meiſten Uebel des Lebens, über die wir zu klagen 
pflegen, ſind Wirkungen unſerer eigenen Schuld. — Aus eben 
dieſem Grund pflegen wir uns auch über dergleichen weit lebhafter 


zu beklagen. Es liegt in der menſchlichen Natur, daß wir un⸗ 


III. 13 


verſchuldetes Unglück mit mehr Seelengröße ertragen, ja oft mit 
freudigem und edelm Stolze. — Krankheiten brachten noch Nie⸗ 
manden zur Verzweiflung; wohl aber gekränkter Ehrgeiz, leiden⸗ 
ſchaftliche Liebe, die in Schwärmerei entartete, Geiz, Hochmuth 
und andere Laſter. Denn Laſter ſind Krankheiten der 
Seele; und was die Seele leidet, iſt empfindlicher, als Alles, 
was den Körper treffen mag. 

Die Welt iſt dein Spiegel. Sage mir, wie du die Welt, 
die Menſchen, deine eigene Lage beurtheilſt, und ich will dir 
ſagen, von welchen Krankheiten deine Seele behaftet iſt, welche 
Leidenſchaften in deinem Innern verborgen toben. 

Du biſt unglücklich, denn du klagſt. Werde glücklich, denn 
es ſteht bei dir. Heile deine Seele von den Unvollkommenheiten, 
und es wird in der Welt dich nicht leicht etwas troſtlos machen 
können. Stehe unabhängig von äußerm Glück, und du wirſt 
in dir der Seligſte ſein, erhaben über alle ſogenannten Uebel des 
Lebens. Prüfe dich, frage dich: warum biſt du nicht in dir ganz 
zufrieden? warum in deinen Verhältniffen nicht ganz glücklich? 
und du wirſt deine Seelenkrankheit erkennen, an der du eigent⸗ 
lich leideſt. Du wirſt wahrnehmen, daß der Keim deiner Schmer⸗ 
zen nicht in deinen Umgebungen liegt, ſondern tief in deinem 
Herzen. Da iſt die Wunde! heile ſie. Die Religion bietet dir 
die Arzneien der Seele. Gott will dein Glück, nur du haſt es 
bisher nie ernſthaft gewollt, ſondern eigenſinnig es nur da ges 
ſucht, wo es noch nie gefunden ward. | 

Ich will dir nur ein einziges Wort ſagen, o meine Seele, 
ein einziges! aber es iſt das rettende. Nimm es auf. Faſſe ſeinen 
Sinn. Deine Wunden werden damit geheilt, deine Verhältniſſe 
verbeſſert werden. Dies iſt die Arznei, deren du bedarfſt: 
Mäßigung! 

Werde mäßiger in allen deinen Wünſchen; mäßiger in deinem 
Lieben und in deinem Haſſen; maͤßiger im Genuſſe deſſen, was 
dich freut; mäßiger in deiner Verehrung, wie in deinem Tadel 
deſſen, was vergänglich iſt. Halte Maß in allen deinen Dingen, 
und das Unglück wird Maß halten gegen dich! 

Je weniger wir von der Welt fordern und erwarten, je reicher 


— 21 — 


müſſen wir nothwendig in uns fein. Was in uns ift, das kann 
ſie uns nie entziehen. Wozu großes Vermögen und Eigenthum? 
Zufriedenheit mit unſerm Loos iſt der größte Reichthum. Wozu 
Ehrenbezeugungen von ſchwachen Menſchen? Tugend ift die ewige 
Ehre, die Niemand zerſtört. Wozu Bequemlichkeit und Ueppig⸗ 
keit? Willſt du der Sklave deines Leibes ſein, der vielleicht im 
Grabe, ehe das Jahr vergeht, ſchon vergangen iſt? — Dein 
Vater, deine Mutter, dein Bruder, deine Schweſter, deine Kinder, 
deine Geliebten ſind ſterblich. Mache dich auf die Scheideſtunde 
gefaßt. Du wirſt ihren Tod erleben, oder ſie erleben den deinigen 
endlich. Eins wird ſein! Ihre Seelen bleiben dir, nicht ihre 
Leiber. Gewöhne dich früh an die Vorſtellung, du werdeſt einſt 
auch das Liebe verloren haben: ſo wird dich ſelbſt dieſer Verluſt 
nicht, wenn er geſchieht, um deine Faſſung bringen. Du wirſt 
heiter emporlächeln zum Himmel, und ſagen: Iſt Gott nicht der 
Vater der unſterblichen Geiſter, und das Weltall nicht unſer 
Vaterhaus? So wirſt du Davids heiliges Wort verſtehen, und 
unter allen Unannehmlichkeiten des Lebens mit Zufriedenheit, 
Ergebung und Vertrauen, oft ſelbſt mit Entzücken ſprechen: 
„Herr, wie ſind Deine Werke ſo groß und viel! Du haſt ſie alle 
weislich geordnet, und die Erde iſt voll Deiner Güte! Du haſt 
die Welt gemacht, und die Schickſale geſtellt, daß ſie uns er⸗ 
freuen oder belehren. Aber die guten wie die böfen Tage find 
Deine Engel, welche erſcheinen, uns zu Dir zu führen, auf daß 
Dein Wort erfüllt und unſere Seligkeit ohne Ende werde.“ 


— 292 — 


33. 


Men ſchen rat h, Gottesthat. 
Pſalm 106, 8. 


Befiehl dem Höchſten deine Wege, 
Und baue nicht auf Menſchenrath. 
Vertraue ſeiner Vaterpflege; 

Für ihn iſt nichts zu groß und ſtark, 
Das er zu ſeines Namens Preis 
Nicht herrlich auszuführen weiß. 


Wo du nur ihn haſt walten laſſen, 
Da hat er Alles wohl gemacht: 
Und was dein Denken nicht kann faſſen, 
Das hat er längſt zuvor bedacht: 
Wie es fein Rath hat auserſeh'n. 
So, und nicht anders, muß es geh'n. 


Wer ſich auf Anderer Wort und Hilfe verlaſſen muß, der iſt 
wohl verlaſſen! — Wie wenig Erfahrungen gehören dazu, dieſe 
Wahrheit anzuerkennen, wie wenig Lebensjahre unter den Men⸗ 
ſchen! — Schon das oft getäuſchte Kind wird endlich mißtraui⸗ 
ſcher, und glaubt nicht leicht mehr Jedermanns Worten. Und 
doch wird es ihm bei ſeiner natürlichen Unſchuld und Gutmüthig⸗ 
keit ſchwer, allem Vertrauen zu entſagen. Noch einmal, im auf⸗ 
blühenden Alter der Jungfrau und des Jünglings, blüht auch 
der Glaube an die Menſchheit mit neuer Kraft auf. Man Halt 
die bisherigen unangenehmen Erfahrungen gern für Folgen 
eigener kindlicher Unwiſſenheit. Man hängt mit lebhafter Innig⸗ 
keit am Menſchen, glaubt und vertraut, hält auf ſeinen Rath, 
baut Alles auf ſein Wort, ſchließt Freundſchaftsbündniſſe für das 
ganze Leben, dünkt ſich wenn auch nicht würdiger, doch glüͤck⸗ 
licher als tauſend Andere, die ſolche Liebe, ſolche Treue nie unter 
Sterblichen fanden, und bedauert die, welche aus dem Umgang 
mit Menſchen nichts Beſſeres lernten und gewannen, als Miß⸗ 
trauen. 

Aber die Jugend verblüht; die ſonſt friſch glänzenden Hoff— 
nungen entfärben ſich; hier ſcheiden Länder und Ströme, dort 
Stand und Glücksumſtaͤnde, hier der Tod, dort Leichtſinn einen 
Freund nach dem andern von dem Glaubensvollen. Bald ſteht 


— 293 — 


er einſam, vielfach hintergangen, in ſich ſelbſt verſchloſſen. Er 
muß ſich ſelig preiſen, wenn ihm nur noch eine treue Freundin, 
nur ein treuer Freund, Gatte, Kinder bleiben, die feſt und bis 
zum Tode an einander halten. 

. Darum ſprach auch David, der Vielerfahrene, Oftgebeugte, 
aus der Fülle ſeines Herzens, und als die Frucht ſeiner Lebens— 
klugheit: Es iſt gut auf den Herrn vertrauen, und ſich 
nicht verlaſſen auf Menſchen. (Pſ. 118, 8.) 

Liebe die Menſchen, hilf und rathe ihnen, opfere dich für ihr 
Glück auf; aber erwarte vom größten Theil weder Dank noch 
Hilfe. Denn die meiſten leben voller Selbſtſucht nur für 
ſich, Alles, was außer ihnen liegt, möchten fie nur als Mittel 
zu ihren Abſichten gebrauchen. Haben ſie den Zweck erreicht, 
werfen ſie die Mittel zur Seite. — Dieſe Selbſtſucht, dieſe Mutter 
aller Grauſamkeiten, aller Untreue, aller Laſter iſt's auch, die dem 
Menſchen den Glauben an die Menſchheit raubt. Weil faſt Jeder 
nur ſich ſelbſt und feinem Vortheile lebt, weil faſt Keiner ein 
Wort, eine Hand, einen Dienſt bietet, ohne eigennützige Neben— 
abſichten, iſt wahre Freundſchaft das Seltenſte auf Erden. 
Stehſt du erhaben über Andere, biſt du mächtiger, oder ange— 
ſehener, oder begüterter, oder einſichtsvoller, ſo wird dich ein 
Theil deiner Zeitgenoſſen aus Neid haſſen, ein anderer Theil dir 
aus Eigennutz anhangen. Stehſt du niedriger, unbedeutender, 
ärmer da, als Viele, wird ſich faſt Jeder berechtigt glauben, von 
dir Dienſte zu fordern. 

Wer dich nicht als ſein Hilfsmittel für eigene Zwecke benutzen 
kann, wendet dir verächtlich oder gleichgültig den Rücken. — 
Nur Wenige werden dich und deinen wahren Werth anerkennen, 
und dich deines Selbſtes willen hochſchätzen. Ein König, vom 
Throne geſtürzt, wird von feinen Voͤlkern verlaſſen; ein Weiſer, 
aus ſeinem Vaterlande verbannt, wird von ſeinen Schülern ver⸗ 
mieden; ein Wohlthäter, durch Unglück verarmt, wird von feinen 
Pflegekindern vergeſſen. Nicht Dankbarkeit, nicht Hochachtung, 
nicht die Bande des Blutes ſind ſtark genug, die Selbſtſucht der 
Menſchen zu bezwingen. 
| Vertraue nicht zu viel auf Wort und Verſprechen des Men- 


3 


ſchen. Du weißt es, Veränderlichkeit iſt des Menſchen 
Natur. Der Entſchluß des Morgens iſt oft ſchon am Mittag 
bereut. Nichts bleibt im Sterblichen und um ihn her das Gleiche. 
Seine äußern Verhältniſſe, ſeine innern Ueberzeugungen werden 
mit der Zeit anders; ſeine Jahre wechſeln, ſeine Neigungen, 
ſeine Launen und Grundſätze. Selbſt ſeine Stimme, ſeine Ge⸗ 
ſtalt verwandelt ſich. Der Menſch iſt heute nicht mehr der Menſch 
des vorigen Jahres. Ja, du ſelbſt, der du die Veränderlichkeit 
deiner Lebensgenoſſen jo bitter anklagſt, biſt du allein der Un⸗ 
veränderliche, und noch heut, wie geſtern? Andere Umſtände er⸗ 
zeugen andere Geſinnungen; ein anderer Stand bringt andere 
Pflichten; ein anderes Alter gibt eine andere Gemüthsart. Da⸗ 
her fo manche Wortbrüchigkeit, wo wir fie nie erwartet hätten; 
ſo manche heilig beſchworene Jugendfreundſchaft zerriſſen, für 
deren ewige Dauer wir Gut und Blut verbürgt hätten. 
Vertraue nicht auf Menſchenrath und Menſchenhilfe, wenn 
du Rath und Hilfe bedarfſt. Nur Wenige denken edel und un⸗ 
eigennützig genug, in deine ganze Lage, in deine Bedürfniſſe, in 
deine Wünſche einzutreten. Kennſt du dieſe Wenigen immer? 
Und wenn du ſie kennſt, machen ſie eine Ausnahme von der all⸗ 
gemeinen Veränderlichkeit, welche die Sterblichen beherrſcht? — 
Lege nie mit allzublindem Vertrauen dein ganzes Wohl und 
Weh in eines Einzigen Hand. Oft ſpielt Heuchelei die Rolle des 
Gutherzigen; oft ſind Bosheit und Schadenfreude da, wo du 
redlichen Sinn vermutheſt. Man ſoll und muß ſich nie ganz 
weggeben; behalte deine Geheimniſſe, weil du nicht weißt, in 
welche Hände du ſie legſt. Nur zu oft iſt der Gutmüthige das 
Schlachtopfer hinterliſtiger Tücke geworden. | 
Biſt du aber in der Nothwendigkeit, menſchlichen Beiſtand 
anſprechen zu müſſen — und in dieſe Nothwendigkeit kommen 
wir Alle! — fo hoffe das Wenigſte von der Herzensgüte deſſen, 
den du anſprichſt, oder daß er deine Verdienſte ehre, oder daß 
ihn deine Tugend oder deine Lage beſonders rühre; das Meifte 
hoffe von dem, was ihm ſein eigener Vortheil anrathen kann, 
für dich zu thun. Daher ſind keine Freundſchaften feſter, inniger, 
als die, welche durch die Hand der Natur ſelbſt geſtiftet wurden: 


— 295 — 


die zaͤrtlichen Verhaltniſſe zwiſchen Aeltern und Kindern, oder 
zwiſchen treuen Ehegatten. Denn hier ſind Vortheile, Schaden, 
Ehre und Schande des Einen zugleich auch das Loos des Andern. 
Darum ſoll hier das vollſte, offenſte Vertrauen gegenſeitig herr- 
ſchen. Hier werde Geheimniß um Geheimniß ausgetauſcht. 

Doch auch ſelbſt hier — wie unzuverläſſig iſt Menſchenhilfe! 
Baue deine Hoffnungen nicht allein auf ſie; mache auf ſie keine 
feſte Rechnung für dein künftiges Leben. Denn wie leicht iſt das 
zerriſſen, was man in dieſer Welt für das Unzertrennlichſte hielt! 
Krankheit und Tod können dir deine Geliebteſten rauben, auf 
deren Beiſtand du zählteſt; durch Verführung können deine Kinder 
entarten; ein Verleumder kann dir das Herz deines älteften und 
bewährteſten Freundes entziehen. 

Wer ſich auf Menſchenhilfe allein verläßt, der iſt wohl 
verlaſſen! — Er iſt verlaſſen, weil er zum Theil ſich ſelbſt um 
diejenige Achtung brachte, die ihm nothwendig iſt, wenn man 
ihn lieben ſoll. Man verachtet zuletzt den, der ſich nicht ſelbſt 
halten kann, der ſich immer auf Andere ſtützen will, und nicht 
unabhängig dazuſtehen weiß. Wer ſelten fordert, dem gibt man 
lieber und freudiger. Wer in ſich ſelbſt Kraft und Muth für 
jedes Schickſal zeigt, dem folgt unwillkürlich die Hochachtung der 
Uebrigen; und wo Hochachtung wohnt, da iſt Neigung zum 
freundſchaftvollen Beiſtand. Wer da hat, dem wird gegeben, 
denn man kann früher oder ſpäter wieder von ihm erwarten. 

Verlaß dich nicht auf Menſchenrath und Menſchenhilfe, ſon⸗ 
dern auf deinen eigenen Muth in jeder Lebenslage. Wer nur ſich 
ſelbſt nicht verloren gibt, der iſt nicht verloren. Strebe nach 
Selbſtſtändigkeit, nach Unabhängigkeit — dies iſt Chriſtenpflicht. 
Lerne fremde Hand entbehren, ſo wirſt du mächtig ſein; lerne dich 
mit dem Wenigſten begnügen, ſo wirſt du reich ſein. 

Ein wahrer Weiſer ſoll Andern Alles leiſten, für ſich ſelbſt 
felten begehren. So that Jeſus. Hilfreich überall, erwartete 
und verlangte er für ſich ſelbſt nicht viel. — Je mehr du dein 
Glück auf den Beiſtand Anderer gründeſt, je unſicherer wird es 
dir ſein. Nur was du dir ſelbſt biſt, das haſt du! — du ſelbſt, 
mit dir ein Freund, eine Freundin und Gott für Alle! Was 


— 296 — 


forderſt du mehr? Wer zu ſeinem Wohl mehr bedarf, iſt der 
Sklav fremder Menſchen und fremder Umſtände. 

Vertraue mehr dein Glück und Wohl den eigenen Kräf- 
ten, als fremden an: ſo wird es dir nicht fehlen. Aber kennſt 
du deine eigenen Kräfte? — Viele Menſchen wurden dadurch 
elend, daß ſie nicht wußten, worin ihre Stärke lag. 

Und welches find deine beſten, deine eigenen Kräfte? Iſt es 
dein erworbenes Vermögen? iſt es die Erbſchaft, auf welche du 
noch hoffeſt? iſt es deine Familienverbindung, deine Verwandt⸗ 
ſchaft mit vielgeltenden Perſonen? ſind es deine erlernten Ge⸗ 
ſchicklichkeiten? iſt es dein Amt, dein Stand? — O du betrügſt 
dich furchtbar! Dies Alles iſt fremdes, treuloſes Gut. Gründeſt 
du darin dein Heil, ſo haſt du auf morſchen Sand gebaut. Es 
gibt Tage, da kann dir dein Reichthum nicht aushelfen; es gibt 
Umſtände, da werden dich deine Verwandten zurücklaſſen; es gibt 
Unglück, vor dem dich kein Rang ſchützt. Geld, Freunde und 
Würden ſind nicht Kräfte, ſondern allenfalls beiläufige Hilfs⸗ 
mittel. Sie können dich alle verrathen. Was bleibt dir dann? 

Lerne deine eigenen Kräfte kennen; ſie verrathen dich nie, fo 
wenig du dich ſelbſt verraͤthſt; es find Einſichten und Tugend! 
Siehe, mit dieſen überwindeſt du die Welt; darin ruht deine 
Rieſenſtärke. Handle nie unüberlegt, und das Ueberlegte voll⸗ 
ſtrecke mit ſtrenger Rechtſchaffenheit! Mache dich durch Einſicht 
unabhängig, nicht nur vom Einfluſſe fremder Hilfe, ſondern vom 
Einfluſſe deiner eigenen Leidenſchaften, von jenen noch an 
klebenden Fehlern, die ſchon manche Unannehmlichkeit erſchufen! 
Mache dich durch deine Tugend mächtig über alle Gemüther, 
denn der Tugend bringt ja Jedermann unwillkürlich den Zoll 
der Verehrung und Liebe ) 

Aber kurzſichtig iſt der Sterbliche; auch eigene Einſicht irrt 
oft! — Schwach iſt der Sterbliche; auch ſeine beſte Tugend 
wankt oft! — So werden unſere eigenen Kräfte oft unzuver— 
läſſig. Es iſt noch eine höhere Macht vorhanden, fie wankt nie; 
eine hoͤhere Weisheit, ſie irrt nie; eine vaͤterliche Liebe, ſie ſtirbt 
nie! — O Chriſt, blicke in den Aengſten und Freuden deiner 
Tage zu ihr empor! Wenn dich Alles verläßt, dort iſt Einer, 


= WM 


der dich nie verlieren will. Du bift fein Kind, er ift dein Vater. 
Er will dich nicht verlaſſen, noch verfäumen. 

Gottesthat geht über Menſchenrath! — Darum iſt es 

gut, auf den Herrn vertrauen, und ſich nicht verlaſſen auf Men⸗ 
ſchen. (Pſalm 118, 8.) 
Der Menſch unter Menſchen, der Menſch mit ſeinen eigenen 
ſchwachen Kräften, wäre wohl eins der elendeſten aller erſchaffenen 
Weſen, wenn er, nur ſich ſelbſt überlaſſen, nicht zur Fürſorge 
ſeines eigenen Schöpfers vertrauensvoll emporſehen dürfte! — 
Umſonſt triumphirt der Glückliche, und hält in feinem Wahn 
Alles für Werk eigener Kraft, was er um ſich her gebaut hat: 
es ſchlagt eine Stunde, die Alles zertrümmert, Alles anders ge- 
ſtaltet. Eine mächtige Hand herrſcht in der Menſchen Schickſale. 
Selbſt in der Bruſt des gewaltigiten Eroberers, vor dem Länder 
und Völker zittern, erzittert wieder ein Herz vor dem Gewaltigern, 
der über den Sternen thront, der die dunkeln Verhängniſſe leite 
über dem Haupte des Königs und des niedrigſten Knechts. — 
Zwar der Leichtſinn kann Gott vergeſſen — aber Gott lebt! Der 
Wahnſinn kann ſpotten und ſagen: er gedenkt unſer nicht; aber 
Gott lebt, und darum gedenkt er auch des Wahnſinnigen. 

Gottesthat geht über Menſchenrath. — Darum baue: 
nicht auf dieſen, ſondern halte feſt an jener. Wie oft haben wir 
im Leben die Nichtigkeit menſchlicher Beſchlüſſe, den Irrthum 
unſerer Rathſchlüſſe erfahren müſſen! Es kam Gottesthat, und 
unſer Sorgen und Kümmern war eitel. Es ward beſſer, als wir 
meinten. Wie manche Angſt hatten wir uns vergebens gemacht, 
wie manche Schmerzensthräne umſonſt geweint, wenn wir Trüb⸗ 
ſal erduldeten! Die Angſt war entbehrlich, die Thrane unnoͤthig: 
Gott ſorgte beſſer für uns, als wir ſelber. Erſt nachher, erſt 
ſpät ſahen wir immer die Weisheit feiner Fügungen ein. Und 
das, was wir einſahen, mag uns Bürge ſein für das, was * 
jetzt noch nicht zu begreifen im Stande ſind. | | 

Dem Geiſtervater, dem Unendlichweiſen, laßt uns bhaben, 
laßt uns vertrauen! Er weiß das Beſte! — Keiner, wie er, 
jo klar, jo Alles durchſchauend. Für ihn iſt kein Jahr und 

kein Tag; für ihn iſt Alles Gegenwart, und die un 


— 298 — 


endliche Gegenwart heißt Ewigkeit. Das Gewebe der 
Schickſale, es iſt von ihm gewoben; das Spiel der Zufälle, das 
Ineinandergreifen der Jahrtauſende und Augenblicke, des maͤchtig⸗ 
ſten Volks und des ſchwächſten Säuglings, Menſch, — es iſt 
ihm, nur ihm lichtvoll, denn ſein Wille lebt in Allem. Darum 
laſſet uns dem Herrn vertrauen, dem Weltregenten, dem, welcher 
auch das Geſchick des kleinſten Gewürms beſtimmt hat. 

Er kann das Beſtel — Ach, was kann denn der ſchwache, 
blöde Menſch? Kann er wohl ſeinem eigenen Leben auch nur die 
Länge eines Augenblickes zuſetzen! — Was ſind eure vermeinten 
Erdengötter? was eure Gewalthaber und Fürſten vor ihm? 
Staub und Aſche! — Sie können durch Schrecken und Furcht, 
oder durch Klugheit und Güte Völker bewegen, wie todte Werk⸗ 
zeuge. Sie können prachtvolle Städte bauen — Ameiſenhaufen 
ſind nicht minder kunſtvoll, Denkmäler zum Erſtaunen der Nach⸗ 
welt aufführen — ein jeder Grashalm iſt wundervoller, als das 
erſte Kunſtwerk der Welt. Sie können Tonnen Goldes ver⸗ 
ſchenken, Staub an Staub. Das Alles vermögen ſie! Aber ſelten 
wiſſen ſie ſich ſelbſt zu beglücken. Ihre eigenen Leiden können ſie 
nicht vertilgen. Sie liegen unter dem Geſetze der Natur, wie das 
letzte Sonnenſtäubchen. Keine Welle gehorcht ihnen; kein Wind 
ſchweigt vor ihnen. 

Nur er, dem Alles gehorcht, nur er kann das Beſte. Seiner 
Allmacht iſt keine Gewalt gewachſen; ſeinem Willen ſtreben keine 
Hinderniſſe entgegen. Er kann! 

Und er will das Beſte! — Wer will das jo rein, jo un⸗ 
eigennützig, ſo aus unſäglicher Liebe zu den von ihm erſchaffenen 
Naturen, wie er? Was haben wir, das wir ihm geben könnten, 
ſelute Allſeligkeit zu vergrößern 2. Was iſt im Weltall, das er nicht 
dem Weltall, gegeben hatte? 

Er will das Beſte. Wer darf zweifeln? O Kleingläubiger, 
blicke auf den Herrn, du biſt unverloren, er liebt dich, er will 
auch dein Beſtes. Und daß er es wolle, verbürgt dir feine uns 
endliche Güte — ja, die lautredendſte Bürgſchaft iſt dein eigenes 
Daſein. Stand es nicht in feiner Macht, dich im oͤden Nichts zu 
laſſen? Du wäreft nie geweſen. Aber er wollte dich, auch dich 


3 ii = h 


unter feinen Miriaden Erſchaffenen ſehen. Er wollte auch dich 
mit ſeinen Wundern beſeligen. Und du biſt geworden; du lebſt, 
du kenneſt, du nenneſt ihn, du preiſeſt ſeinen Namen. Er will 
dein Vater ſein, und du ſollſt ſein Kind ſein. Nur hinweg deine 
eigene Unvollkommenheit; nur hinweg das Unreine deiner Be— 
gierden, dein beftändiges Sorgen und Kümmern um tägliches 
Brod, um äußerliche Verhältniſſe, um din Schickſal oder um das 
Loos derer, die deinem Herzen lieb ſind. Wirf deine Sorgen auf 
ihn, er wird's wohl machen. 

Es iſt gut, auf den Herrn vertrauen, und ſich nicht verlaſſen 
auf Menſchen, — O du Alles umfaſſende, Alles liebende All- 
macht, Du, den Jeſus Chriſtus mich Vater nennen lehrte: wem 
kann ich vertrauen, als Dir? Du liebteſt mich, eh' ich war, darum 
haſt du mich geſchaffen; und welches Schickſal mir fernerhin be— 
gegne, und mag es meine Kurzſichtigkeit oder mein tief verwun⸗ 
detes Herz ein Unglück nennen, es iſt dennoch mein Beſtes; denn 
es kommt, Liebender, Weiſeſter, Wohlthätigſter, von Dir! 

Eine nie gefühlte Heiterkeit durchſtrömt mich. Ich empfinde 
es, ich weiß es: ich bin Dein Kind. Geiſtervater, Dein Leben iſt 
in mir und in den Meinigen; unſere Geiſter werden Dich und 
Deine Wege erſt recht erkennen und verehren, wenn ſie losge— 
bunden vom rohen Staub der Erde, in heller Freiheit ſich und 
die Weltordnung durchblicken. b 

Mag auch Alles ſich vor mir verdunkeln, ich weiß, vor Dir 
iſt keine Finſterniß; mag auch meine Rettung, meine Ruhe un⸗ 
möglich ſcheinen, vor Dir ſteht nichts Unmögliches; mag auch 
mein Herz bluten und erkranken unter herben Schickſalen — 
Vater, meine Thränen mögen mir nicht zur Sünde gerechnet 
werden; ach, ich bin ein Menſch! — dennoch werde ich mit kind⸗ 
licher Zuverſicht immer rufen: Dein Wille geſchehe, denn er iſt 
der beſte. 

Darum ſeid getroft und unverzagt (ſpricht Dein hei- 


liges Wort); fürchtet euch nicht und laßt euch nicht grauen. 


Denn der Herr, dein Gott, wird ſelber mit dir wandeln, 
und wird die Hand nicht abthun, noch dich verlaſſen. 
(5. Moſ. 31, 6.) Amen. N 


34. 
Selbſtkenutnu i . 


Jak. 6, 41. 


Immer blind für meine Fehler, 
Nur für fremde Schwächen hell, 
Richt' ich, eigner Sünden Hehler, 
Mich nur langſam, Andre ſchnell. 


Weil der Menſch ſich ſelbſt nicht kennet, 
Und ſich ſelbſt zu ſehen ſcheut, 
Bleibt bas Ziel, nach dem er rennet, 
Fern von ihm — Vollkommenheit! 


Es iſt in allen Sterblichen ein mächtiger, unauslöſchbarer Trieb, 
der mit dem erſten Erwachen des kindiſchen Verſtandes erwacht, 
und mit dem letzten Schlaf des Hinſterbenden er einſchlaft: dies 
iſt der Trieb, zu gefallen. 

Der Menſch will gefallen. — Ihm iſt jede Laſt des Le⸗ 
bens, jedes Unglück, jede Widerwärtigkeit erträglich; ſelbſt den 
Tod kann er auf dem Krankenlager mit Gelaſſenheit erwarten — 
aber Verachtung iſt ihm unerträglich. — Um Aufmerkſamkeit, 
Beifall, Bewunderung zu erregen, ſtrengt der ſpielende Knabe 
die ſchwachen Kräfte an, kämpft der Reiſende mit den Ungeheuern 
der Welt, ſchmückt ſich die Jungfrau mit ihren Kleinodien, geht 
der Krieger beherzt gegen die todverbreitenden Feuerſchlünde, 
ſchifft der Seemann durch unbekannte Meere, ſammelt die Hand 
des Arbeiters Vermögen und Schaͤtze, baut der Fürſt Paläſte und 
Gärten, ätzt der Wilde ſchreckliche Zeichnungen in die Haut Tut 
Leibes. 

Der Menſch will gefallen. Dieſer Trieb iſt die Quelle feiner 
vorzüglichſten Neigungen, ſeiner ſchönſten Tugenden, feiner groͤß⸗ 
ten Laſter. Daher ſtammt ſein Ehrgeiz und ſeine Eitelkeit, ſeine 
Kühnheit und Heuchelei, ſein Fleiß und ſein Verſchwenden, ſeine 
Enthaltſamkeit und ſeine Wolluſt. 

Darum iſt er mit nichts ſo ſehr beſchäftigt, als mit ſich ſelbſt. 
Darum vergleicht er Alles mit ſich ſelbſt; darum macht er bei 
allen Anlaͤſſen feinen Werth geltend und ſein Verdienſt. Darum 


B 


endlich bemerkt er ſo gern die Fehler ſeiner Mitbürger; darum 
ſucht er auch die geringſten Schwächen und Irrungen des An⸗ 
dern gern hervor, bringt ſie ins Geſpräch, macht ſie auffallender, 
ſchildert fie vielleicht noch härter, als fie find, und das Alles thut 
er oft freilich ohne deutliche Vorſtellung, doch aber immer mit dem 
dunkeln Gefühl des Wohlbehagens; „Ich bin beſſer, als dieſer. 
So würde ich nicht gethan haben, wie dieſer. Hier reichen meine 
Einſichten weiter. Darin bin ich weiſer, tugendhafter, geſchickter, 
ruhmvoller!“ 

Dieſes Streben, Andern zu gefallen, Andern ein Gegenſtand 
der Achtung und Bewunderung zu ſein, iſt uns Allen natürlich. 
Es gründet ſich auf unſere eigene Ehrfurcht und Liebe für jedes 
in ſeiner Art Vollkommene, Gute, Wahre und Schöne. Ohne 
dieſen Trieb würde der Menſch rohes Thier geblieben ſein, das, 
unbekümmert um Beifall der Andern, in Trägheit verſunken 
wäre, ſobald es ſeinen Hunger und Durſt geſtillt hat. 

Auch die Religion ehrt dies Streben. Sie will, daß wir 
vollkommen werden, auf daß wir vor Gott und Menſchen wohl- 
gefällig daſtehen. Sie tadelt nicht die tugendhafte Ruhmliebe; 
ſie will, daß wir allen guten und frommen Menſchen theuer ſein, 
aber unſern höchſten Ruhm in Gottes Beifall finden ſollen. 

Woher kommt es nun, daß bei allen Anſtrengungen der 
meiſten Menſchen nach Hochachtung, Anſehen und Bewunderung. 
von Andern, ihrer jo wenige wirklich allgemein geachtet und ge= 
liebt find? Woher kommt es, daß bei dem unabläffigen Be⸗ 
mühen, zu gefallen, nur wenige das Glück haben zu gefallen? — 
Liegt der Grund in der ungleichen Vertheilung der Gaben und 
vorzüglichſten Eigenſchaften, mit welchen uns die göttliche Schöpfer⸗ 
hand ausgeſtattet hat? Wahrlich nicht. Denn Gott gab jedem 
Menſchen irgend eine vorzügliche Anlage, die er vortheilhaft be— 
nutzen, irgend ein Pfund, mit welchem er wuchern konnte; allen 
Menſchen aber, ohne Unterſchied, gab er die Kraft und das Ver⸗ 
mögen zur Tugend und Gottſeligkeit, das heißt, er gab Allen die 
Anlage, durch Seelenſchönheit zu gefallen. Wir wiſſen ohne⸗ 
dem, daß alle andern Eigenſchaften zwar Anſehen und Bewun⸗ 
derung erwecken können, aber daß wir weder durch Reichthum, 


f 


— 302 — 


noch durch Ehrenſtellen, weder durch hohe Gelehrſamkeit, noch 
durch Körperſtärke, weder durch Kunſtgeſchicklichkeit, noch durch 
Prachtaufwand liebenswürdige Menſchen werden, und das Wohl⸗ 
gefallen und die innige Hochachtung Anderer gewinnen, ſondern 
nur durch Seelengüte, Seelenſchönheit. 

Die geheime, aber einzige und wirkliche Urſache, welche das 
Verlangen ſo vieler Menſchen und ihr Bemühen, Andern zu ge⸗ 
fallen, gänzlich oder zum Theil vereitelt, it — der Mangel 
an Kenntniß ihrer ſelbſt. ö 

Wahrlich, Tauſende, die heute mit ſich noch gar wohl zu⸗ 
frieden ſind, würden, wenn ihnen ihr zweites Selbſt in einer 
andern Geſtalt begegnete, daſſelbe nicht lieben, nicht ehren können. 
Sie würden im erſten Augenblick ſo mancherlei anſtößige Eigen⸗ 
ſchaften an dieſem zweiten Selbſt entdecken, daß ſie es verachten 
müßten. 

Sie, die Alles kennen, die jeden Menſchen ſo ſcharfſinnig zu 
beurtheilen wiſſen, die jeden Splitter in des nächſten Auge ſehen, 
kennen ſich ſelbſt am allerwenigſten. 

So iſt denn alſo Selbſtkenntniß die Vorſchule der wahren 
Tugend, der Vorhof der Liebenswürdigkeit, die Einweihung zu 
dem ſeltenen Glück, dem Himmel und der Erde zu gefallen. — 
Die Weiſen aller Jahrhunderte haben daher die Kenntniß ſeiner 
ſelbſt für die erſte und vornehmſte Wiſſenſchaft der Menſchen ge⸗ 
halten, und mit Recht. Denn ſo wenig ein Hausvater ſein Ver⸗ 
mögen recht verwalten und es vermehren kann, wenn er den Um⸗ 
fang ſeiner Beſitzungen, den wahren Werth ſeiner Güter, die 
Tauglichkeit oder Untauglichkeit ſeiner Diener und Arbeiter nicht 
kennt: eben ſo wenig iſt der Menſch im Stande, ſich ſelbſt zu 
vervollkommnen, ſeine guten Anlagen zu erheben, ſeine Schwächen, 
ſeine Fehler zu beſeitigen, die guten Eigenſchaften anzunehmen, 
die zum Gefallen unentbehrlich ſind, wenn er mit ſich ſelbſt be⸗ 
ſtändig im Dunkeln iſt, und ſeinen wahren Werth noch nicht 
richtig beurtheilt hat. 

Richtige Selbſtkenntniß iſt aber unter den Menſchen ſelten, 
wie die reinſte Liebenswürdigkeit des Gemüthes. Denn eine iſt 
von der andern unzertrennlich. Sie iſt ſelten, weil ſie mit großen, 


— 308 — 


oft unüberwindlichen Schwierigkeiten verbunden iſt. Dieſe Schwie⸗ 
rigkeiten ſind unſere eigenen Schwächen, unſer Leichtſinn. Und 
die größte, die gefährlichſte aller menſchlichen Schwachheiten iſt 
unſere, ſich Alles zu gut haltende, ſich ſelbſt verzärtelnde, ſich 
ſelbſt ſchmeichelnde Eigenliebe. 

Die Eigenliebe iſt jene Stimmung des Gemüthes, in der wir 
Alles, was nicht unmittelbar uns ſelbſt angeht, für Nebenſache 
halten; nichts außer uns ſelbſt mit Wahrheit lieben, oder doch 
nur in ſo fern; als es gewiſſermaßen ein uns zugehöriger Theil 
iſt, oder als ſolcher angeſehen werden kann. Die Eigenliebe hält 
das für gut, was wir thun, was wir haben; wenigſtens will ſie, 
daß Andere es für gut halten ſollen. Die Eigenliebe will, wenn 

ſich Muth zu ihr geſellt, den Beifall Anderer ertrotzen; kann ſie 
es nicht, ſo erhebt ſie ſich über das Urtheil der Menſchen, und 
behauptet die Güte der Fehler, was auch die Welt dazu ſagt. 
Ihr Spruch iſt: Ich will nun fo fein; was kümmern mich Ans 
dere? Ihr müßt mich nehmen, wie ich bin. — Verbindet ſich mit 
der Eigenliebe die Furchtſamkeit, ſo beſchönigt ſie nur ihre Fehler, 
und heuchelt das Gute, bewahrt aber unter der ſchönen Außen⸗ 
ſeite die ſchlechte Sache. 

Die Eigenliebe iſt es, welche uns von der ernſten Schätzung 
unſers eigenen Werthes abhält. Sie nimmt den Weihrauch jedes 
Lobes begierig und als wohlverdient an, er werde nun von An⸗ 
dern im Ernſt oder aus Schalkheit gegeben. Sie verſetzt uns 
gern in die Lage Anderer, bloß um über unſere eigenen Voll⸗ 
kommenheiten in Freuden gerathen zu können. Sie wirft über 
unſere Gebrechen einen Schleier, daß wir ſie nur kaum erkennen, 
weiß fie mit den größern Untugenden anderer Menſchen ſehr lieb- 
reich zu entſchuldigen, unſere Beſorgniſſe zu beruhigen und uns 
ſere größten Fehler ſchlau genug zu verkleinern, indem ſie zeigt, 
wie unbedeutend ſolche im Vergleich mit andern vortrefflichen 
Eigenſchaften und Verdienſten ſind, die wir beſitzen. — Selbſt 
wenn es uns einmal Ernſt wäre, mit unſern eigenen Sünden zur 
Rechenſchaft zu gehen, weiß die Eigenliebe unſere Strenge zu 
beſchwichtigen, indem fie uns freundlich zuflüſtert: jeder Menſch 


— 304 — 


hat ſeine Fehler, Niemand iſt vollkommen; du wirſt doch auf 
Erden kein Engel werden können. 

Des Menſchen größter Feind iſt alſo der Menſch ſich ſelbſt. 
Er verblendet ſich über ſeinen eigenen Werth oder Unwerth. Er 
hindert ſich muthwillig an ſeiner Selbſtprüfung. Weil er nun 
nicht ſieht den Balken in feinem Auge, wohl aber in feines Näch⸗ 
ſten Auge den Splitter, kann er nicht mit Kraft an ſeiner Vollen⸗ 
dung arbeiten, und iſt ſein Streben und Verlangen eitel, die 
Herzen aller Menſchen, die Achtung, die Liebe, das Vertrauen 
aller Guten zu gewinnen. Er iſt ein Opfer ſeiner Selbſttaͤu⸗ 
ſchung, und geht mißmuthig, immer im Kampfe mit der Verach⸗ 
tung oder dem Haſſe Anderer durch das Leben. 

O meine Seele! biſt du nicht vielleicht in dieſem unglück⸗ 
lichen Falle? Wie ſehr beſchäftigen dich doch die Fehler und 
Thorheiten Anderer, und wie wenig deine eigenen dich ſelbſt! — 
Wirſt du wohl von Andern ſo ganz vergebens getadelt? Biſt du 
am Ende nicht ſelbſt die erſte Urſache von manchen deiner miß⸗ 
vergnügten Stunden? Haſt du nicht vielleicht Eigenſchaften, die 
Andern unangenehm ſind, die ihnen Mißtrauen gegen dich ein⸗ 
flößen, die ihre Freundſchaft oder die Bezeugung ihrer Hochach⸗ 
tung von dir abhalten? 

Wornach ſtrebſt du denn am liebſten in dieſer Welt? — Nach 
Glückſeligkeit. Und worin beſteht denn deine Glückſeligkeit? Doch 
nur darin, daß du der Liebe und Achtung aller guten Menſchen, 
und des Beifalls Gottes, deines unſichtbaren Vaters, gewiß biſt. 
Ohne dieſe Gewißheit kannſt du nicht mit dir ſelbſt zufrieden ſein; 
ohne dieſe Gewißheit biſt du ein zitternder Flüchtling vor dem 
richtenden Blick Gottes; ohne dieſe Gewißheit haſt du keinen 
Einfluß auf deine Nebenmenſchen. 

Wohlan denn, willſt du glücklich werden, iſt es dir einmal 
darum zu thun, ein Gegenſtand allgemeiner Achtung und Freund— 
ſchaft zu werden, die höchfte Stufe menſchlicher Seligkeit zu ge— 
nießen, wage den erſten Schritt, lerne dich ſelbſt kennen! 
Vielleicht findeſt du nirgends, als in dir, die Hauptquelle alles 
Uebels, das dich hindert, deines Lebens recht froh zu werden. 

Damit du aber zur wahren Würdigung deines Werthes und 


— 80 — 


Unwerthes gelangeſt, entferne vor allen Dingen zuerſt deine vor⸗ 
züglichſte Feindin, das ſtärkſte Hinderniß an deiner Selbſtkennt⸗ 
niß, die Eigenliebe. 

Und daß ſich ihre ſchmeichelnde Stimme nie in dein Urtheil 
über dich ſelbſt miſche, enthalte dich bei der einſamen Prüfung 
deines Innern jedes Blickes auf deine allfälligen Vorzüge, jeder 
Freude über deine ausgezeichneten Fähigkeiten und Beſitzthümer, 
jedes Andenkens an deine guten Thaten; ſondern ſuche ganz allein 
deine Fehler, deine fündlichen vorherrſchenden Neigungen, deine 
unerlaubten Begierden, deine natürlichen Schwachheiten, die 
Mängel deiner Grundſätze, die Urſachen auf, welche dir bei an- 
dern Menſchen den meiſten Verdruß erregen, wodurch ſie von 
dir entfernt werden, und weswegen ſie, ſtatt dich mit Güte, mit 
Hochachtung, mit warmer Freundſchaft zu behandeln, dir mit 
Kälte oder gar mit Empfindlichkeit begegnen! — Du haft einen 
guten Engel, welcher freundlich und ernſt dich auf jede Stelle 
deiner Denkart, auf jede Blöße deines Herzens, wo du mangel- 
haft biſt, aufmerkſam machen wird. Dieſer gute Engel heißt Ge— 
wiſſenz es iſt ein beſtändiger Feind des böſen Engels, der dich 
unter dem Namen der Eigenliebe verdirbt. 

Wagſt du es aber doch nicht, deinem eigenen Urtheil ganz zu 
trauen, ſo wähle dir einen treuen, wohlmeinenden Freund. Unter⸗ 
halte dich mit ihm in einer einſamen Stunde über deinen Ka= 
rakter. Bitte ihn um ſein ſtrenges Urtheil, nicht über das, was 
du Gutes an dir haben könnteſt, ſondern über das, wodurch du 
Andern etwa mißfällig geworden. Vielleicht ſind es eben nicht 
grobe Fehler und Laſter; aber es können Unterlaffungsfünden 
ſein, die dich in den Augen deines Nächſten herabſetzen. Du thuſt 
vielleicht weniger Gutes, als du wohl könnteſt, biſt weniger dienſt⸗ 
fertig, als du wohl ſein ſollteſt, weniger zuvorkommend gütig, 
als du ſein müßteſt. 

Aber auch der beſte Freund, wenn er uns beurtheilt, wird 
immer dabei mit zärtlicher Schonung verfahren. Er wird uns 
nie allzutief verwunden wollen, und uns oft aus eigenem Triebe 
entſchuldigen, auch wo wir nicht ganz Entſchuldigung verdienen. — 
Strenger beurtheilt dich dein Nebenbuhler, dein Widerſacher, dein 


— 306 — 


Feind. Horche dann vorzüglich auf das Urtheil derer, die dir 
nicht wohlwollen. Suche zu erfahren, worüber ſie dich tadeln. 
Sie find es, welche, und wären fie ſelbſt fehlervoller als du, auch 
den kleinſten Splitter in deinem Auge ſehen, auch den geringſten 
deiner Mängel richten. So wie die Schonung des freundſchaft⸗ 
lichen Urtheils dir deine Mängel allzuglimpflich nennt, wird der 
Haß derer, die dir ungünſtig ſind, deine Gebrechen oft mit Ueber⸗ 
treibung ſchildern. Aber verachte das leidenſchaftliche Verdam— 
mungsurtheil des Feindes nicht ganz; immer bleibt darin, nach 
Abzug deſſen, was ſein Zorn vergrößerte, Manches zurück, worin 
er Recht behält. Er erdichtet gewiß nichts, weil er wohl weiß, 
man würde ihm ſonſt gar nicht glauben. Er nennt, was alle 
Menſchen ſo gut ſehen, wie er; aber ſein Zorn, ſein Neid, ſein 
Groll vergrößert den geringen Fehler zur großen Mißgeſtalt. 

Kann dich weder das Urtheil eines Freundes belehren, noch 
der Tadel eines Feindes dir deine Unvollkommenheiten richtig 
andeuten: ſo wähle dir einen andern Spiegel, in welchem du 
deine Geſtalt erkenneſt. Vergleiche dich mit Andern, die du hoch— 
ſchätzeſt und liebeſt, und unterſuche, worin ihre Liebenswürdig⸗ 
keit beſtehe, wodurch ſie dich und alle guten Menſchen zur Hoch⸗ 
achtung gleichſam zwingen. — Wäreſt du jo wie fie, die Freund⸗ 
ſchaft und das allgemeine Vertrauen deiner Mitbürger, die wahre 
Anhaͤnglichkeit und Achtung aller derer, die dich kennen, würde 
dir eben ſo gewiß gehören, als ihnen. Vergleiche dein Betragen, 
deine Denkart, deinen Umgang, deine Lieblingsneigungen mit 
denen der achtungswürdigſten Menſchen deiner Bekanntſchaft, und 
du wirſt bald entdecken, worin du ihnen nachſteheſt. Es iſt, um 
dem Himmel und der Erde zu gefallen, nicht genug, keine groben 
Laſter an ſich zu haben; man muß auch Vollkommenheiten und 
Tugenden zeigen können. Wer nicht ſtiehlt, iſt darum kein lie⸗ 
benswürdiger Menſch; aber wer mit Eifer dazu hilft, Andere in 
beſſern Wohlſtand zu verſetzen, feſſelt die Herzen der dankbaren 
Welt und die Hochachtung ſelbſt der Gleichgültigſten. 

Willſt du dein Bild ſehen? Willſt du wiſſen, ob dich Andere 
zärtlich lieben können? — Denke in einer einſamen Stunde, du 
habeſt einen Menſchen gefunden, der dir in allen deinen Neigun— 


„ 


gen, in deiner Art zu denken, in deinen Wünſchen und Begier⸗ 
den, in deinem Betragen vollkommen gleich wäre: möchteft du, 
könnteſt du wohl der Freund eines ſolchen Menſchen werden, der 
dir in allen Stücken gliche? Möchteſt du wohl mit ihm zeitlebens 
beiſammen ſein? — Lege die Hand an dein Herz und frage: 
warum nicht? und du haſt die große Antwort, nach der du dich 
ſehnſt, und warum auch du vielen Menſchen anſtößig biſt, daß 
ſie dich nicht recht lieben und achten können. 

Dieſe Selbſtprüfung wiederhole oft, und du wirſt zur Selbſt⸗ 
kenntniß gelangen; wirſt den Balken in deinem Auge empfinden, 
wie Jeſus in dem Gleichniſſe geſagt hat. — Dann kennſt du den 
Weg zu deiner irdiſchen und künftigen Seligkeit, dann das wahre 
Mittel, durch welches du Gott und Menſchen ein Wohlgefallen 
wirſt. Kenntniß unſerer Selbſt iſt der erſte Schritt, ja iſt der 
halbe Weg zur Vollkommenheit und innern Glückſeligkeit. Denn 
nicht mehr Thorheit, ſondern Wahnſinn iſt es, die Quelle ſeines 
eigenen Uebels, ſeines allzugeringen Erdenglücks kennen, und 
nicht verſtopfen, ſondern unverhalten ihr Verderben über uns 
ausſtrömen laſſen. 

Der Du die Herzen prüfſt, und die Gedanken der Seele wie 
einen Thautropfen durchſchauſt, allgegenwärtiger Gott! oft will 
ich in einſamen Stunden über die Urſachen nachdenken, welche 
meine Zufriedenheit ſtören, mir die Liebe und Zuneigung der 
tugendhaften Seelen entziehen, und mich nicht ſo glücklich werden 
laſſen, als ich es doch ſein könnte. Ich will oft vor Dir mich 
prüfen, heiliger Richter der Welt, und den Stab über meine 
ſündhaften Wünſche brechen, über meine Nachläſſigkeit in Ver⸗ 
richtung guter, Dir und meinen Brüdern wohlgefälliger Hand⸗ 
lungen! — Ja, richten will ich mich ſelbſt in den ernſten Stun⸗ 
den des Nachdenkens, und meinen Sinn ändern, und edler wer⸗ 
den, ehe die Zeit verflogen iſt, und ich vor Deinem Richterſtuhl 
erſcheinen muß. N 

Hinweg, ſchmeichleriſche Eigenliebe; ſtrenges Gewiſſen, rede 
du! — Hinweg, betäubender Stolz — beſcheidene Demuth, be⸗ 
gleite mich du! — Wie Mancher, den ich oft hart tadelte, iſt ein 
beſſerer Menſch geweſen, als ich! Ich will fortan Niemanden 


richten, als mich ſelbſt. — Ach, warum ſollte ich meinen Ver⸗ 
wandten und Bekannten nicht gern ihre Fehler verzeihen, da ich 
mir ſo Vieles verzeihe, das nicht Schonung verdient! — Ich 
will nicht mehr klagen über Mangel an Liebe und Treue unter 
den Menſchen, ich war ihrer nicht werth. — Ich ſelbſt verſchul⸗ 
dete ihre Gleichgültigkeit, und wandelte nicht zu Deinem Wohl⸗ 
gefallen, heiliger Gott. Aber Aenderung ſoll in mir geſchehen; 
ich will nicht ruhen, bis ich durch Gottſeligkeit in Sinn und 
Werk mich Deines Beifalls freuen, und der Freundſchaft und 
Achtung aller edeln Seelen gewiß ſein kann. Dein göttliches 
Beiſpiel leuchte mir vor, o mein Jeſus! Amen. 


} 

35. 
> Lei oo mu €... 
Spr. Sal. 16, 32. 

Froh geht der Chriſt und ſtill durchs Leben, 
Ein Gott bewohnet ſeine Bruſt; 


Selbſt in der Leidenſchaften Streben 
Bleibt er ſich ſeines Ziels bewußt. 


Nichts kann ihm das Gemüth erſchüttern, 
Der Freude Nauſch betäubt ihn nicht; 

Er lächelt zwiſchen Ungewittern, 

Selbſt wenn der letzte Anker bricht. 


Wir ſind (wer kann es läugnen?) von unſern meiſten Uebeln, 
Verdrießlichkeiten und unangenehmen Verhältniſſen gewöhnlich 
die erſten Urheber. Leben wir mit Andern in Feindſchaft, ſo haben 
wir ſelbſt unſern Theil dazu beigetragen. Haben wir irgend einen 
geheimen Kummer, ſo können wir uns meiſtens ſelbſt als Anlaß 
dazu anklagen. — Und doch möchten wir glücklich fein! 

Wie vereinigt ſich aber unſere Begierde nach Zufriedenheit 
oder Glück mit dieſer unverzeihlichen Unvorſichtigkeit, daß wir 
mit eigenen Händen dasjenige immer zerſtören, was wir erbauen 
möchten? Wie iſt es möglich, daß wir uns beſtändig nach einer 
fröhlichen Gemüthsſtimmung ſehnen, und in dem gleichen Augen- 
blick der Sehnſucht alles Mögliche thun, um nur Ruhe, Zufrie— 


— 


denheit und Freude zu verderben? Wie iſt es denkbar, daß oft 
der Menſch, indem er ſich doch ſelbſt ſo ſehr liebt, mit einer Grau⸗ 
ſamkeit gegen ſich verfährt, wie oft fein bitterſter Feind nicht thun 
würde? . ’ 

Wenn ich mich aufmerkſam prüfe und den Grund erforſche: 
ſo iſt eine Hauptquelle aller meiner mißvergnügten Stunden eine 
allzugroße Reizbarkeit des Gefühls, eine allzugroße Lebhaftigkeit 
meiner Empfindungen, denen ich mich Anfangs zwar immer mit 
einem gewiſſen Wohlbehagen überlaſſe, die aber zuletzt Meiſter 
über meine Beſonnenheit werden, ſtatt daß ich fie in meiner Ges 
walt haben ſollte. 

Wer lebhaft empfindet, hat zwar größern Genuß von der 
Freude, aber auch größern Eindruck vom Schmerz. Wer ſich den 
Empfindungen, welche bei irgend einem Anlaß in ihm aufſteigen, 
ganz und gar überläßt, pflegt gewöhnlich feine fröhlichiten Stun⸗ 
den zu einer Urſache und Quelle verdrießlicher Folgen zu machen, 
um wieder bei irgend einer Unannehmlichkeit viel mehr Mißmuth 
zu fühlen, als die Sache oft werth iſt. 

Die Lebhaftigkeit unſerer Empfindungen iſt freilich nicht etwas, 
was von uns abhängt, ſondern eine Gabe Gottes, eine Eigenheit 
des Gemüths, die wir von der Natur empfangen haben. Wir 
können uns nicht ändern. — Aber zu allen Zeiten Meiſter unſerer 
Gefühle ſein, auch unſere lebhafteſten Empfindungen beherrſchen, 
das konnen wir, das fordert die Lebensklugheit, das fordert die 
Gottheit von uns. 

Zwar kann bei einer fröhlichen Gelegenheit der Menſch nicht 
das Aufwallen ſeiner Freude verhüten, wohl aber, daß er in dieſer 
Freude nichts Thörichtes unternehme. Zwar kann der Menſch 
oft nicht verhindern, daß ſein Gemüth plötzlich von Zorn und 
Unwillen, oder von unausſprechlichem Schmerz ergriffen werde; 
aber er kann es verhindern, daß er nicht in den erſten Bewegun⸗ 
gen ſeiner Leidenſchaft rede oder handle. — Nur darum ſtiften 
ſich auch ſonſt nicht böſe Menſchen ſo manchen unheilbaren Scha⸗ 
den, weil ſie zu ſchlaff, zu nachſichtig gegen ſich ſelbſt ſind, oder 
wohl gar eine Ehre darin ſuchen, ſich von ihren Gefühlen ganz 


5 


— 


— 310 — 


berauſchen und hinwegfluthen zu laſſen. Traurige Ehre, die 
wir mit jedem gemeinen Thiere theilen! 

Es gibt ſonſt treue, zuverläſſige, kluge und verſchwiegene 
Menſchen, die aber, wenn ſie frohen Muthes ſind, wenn ihr 
Herz von Freuden überwallt, ſich ſelbſt und Andere ſo weit ver⸗ 
geſſen können, daß ſie ihre oder fremde Geheimniſſe mit unver⸗ 
zeihlicher Zutraulichkeit ausplaudern und verrathen. Andere wie⸗ 
der thun das Gleiche im auflodernden Zorn. — Wie viel bittere 
Stunden, wie viel Jahre voller Reue hat nicht ſchon oft die 
Unvorſichtigkeit einer einzigen Minute geboren! 

Noch gewöhnlicher pflegen allzureizbare Gemüther jeden kleinen 
Unfall mit beinahe eben ſo großem Mißmuth aufzunehmen, als 
wenn es ein wahrhaftes Unglück wäre. Auch an ſich bedeutungs⸗ 
loſe Umſtände können ihre Empfindlichkeit in einem hohen Grade 
rege machen. Ein bloßer Traum, eine leere Einbildung kann ſie 
für einen ganzen Tag verſtimmen und unempfänglich für den 
Genuß des Lebens machen. Dieſe Reizbarkeit, obgleich eine Folge 
körperlicher Kränklichkeit, iſt noch viel öfter nur die Wirkung 
eines ſich ſelbſt verzärtelnden, ſich ſelbſt verwahrloſenden, kränk⸗ 
lichen Gemüthes; eines Gemüthes, das noch nie den Muth hatte, 
noch nie den Verſuch wagte, Gebieter über ſich und ſeine Em⸗ 
pfindungen zu werden. 

Der Schade, welcher aus ſolcher eigenſinnigen kindiſchen 
Selbfiverzärtelung entſpringt, da wir der Macht unſerer Em⸗ 
pfindungen keine Gewalt anthun mögen, iſt durch tauſend traurige 
Erfahrungen bekannt. Es iſt bekannt, wie diejenigen Menſchen, 
welche leicht gereizt werden, immer diejenigen ſind, welche von 
der Hinterliſt anderer Menſchen auch am leichteſten bald hie- bald 
dorthin geführt werden können; daß die, welche glauben, eben 
darum recht unabhängig zu ſein, weil ſie ſich ohne Scheu und 
Einjchränfung ihren Launen überlaſſen, eben die allerſchwächſten 
und von der Schlauheit Anderer die abhängigſten find. Es iſt 
bekannt, daß diejenigen jederzeit unklüger und ſchlechter handeln, 
welche in einer übeln Gemüthsſtimmung ſind, als diejenigen, 
welche zu allen Zeiten Faſſung genug haben, ſich nicht durch 
irgend etwas leicht verſtimmen zu laſſen. Es iſt bekannt, daß, 


- Bi — 


wenn reizbare Menſchen nicht von dem Einfluffe Gebrauch machen, 
welchen die Stärke der Seele über den Körper und über die Auf⸗ 
wallungen des Gefühls hat, ſolche Perſonen zuletzt der menſch⸗ 
lichen Geſellſchaft und ſich ſelbſt unerträglich werden; daß ſie ihre 
eigene Geſundheit ſchwächen, weil ſie dieſelbe unaufhörlich zum 
Spiel ihrer Empfindlichkeit machen; daß ſie ihre Lebensfreuden 
nicht nur, ſondern auch die Dauer ihres Lebens verkürzen, einem 
frühen Grabe entgegeneilen, und gleichſam ihre Selbſtmörder ſind. 

Schon die Alten lehrten: Bewahret die goldene Mittelſtraße 
in der Freude und im Leid. Verbannet jede Unmaͤßigkeit, auch 
in den Empfindungen. — Alle Tugendhaften, alle Weiſen preiſen 
die Tugend der Gleichmüthigkeit; und der göttliche Stifter 
unſerer Religion, Jeſus Chriſtus, gab uns in ſeinem irdiſchen 
Wandel das Beiſpiel hohen Gleichmuths, der in den Stunden 
des Vergnügens nie das Geleis des Schicklichen und Wohlan⸗ 
ſtändigen überſprang, und von den traurigſten Anläſſen nie er⸗ 
ſchüttert werden konnte. Wie bei der fröhlichen Hochzeit zu Kana, 
ſo in der bangen Todesſtunde am Kreuz, blieb ſich Jeſus gleich, 
immer gelaſſen, ruhig, wohlthätig, für das Heil Anderer beſorgt, 
ohne Uebermaß in der Freude, ohne Ungeduld und Verſtimmung 
in der Noth. 

Der Mangel der Befonmenpeit in den verſchiedenen Lagen des 
Lebens, der Mangel jener ächtchriſtlichen Tugend des Gleich- 
muths iſt zugleich ein Haupthinderniß am Seelenfrieden, ein 
Haupthinderniß reinen, frommen Wandels, eine Quelle vieler 
Vergehungen und Sünden. 

So iſt es alſo die Pflicht jedes Chriſten, jedes Menſchen, 
der nach wahrer Weisheit verlangt, jedes Sterblichen, welcher 
ſich ſehnet, ein frohes, beglücktes Leben bis ins ſpäteſte Alter zu 
führen, daß er nach Gleichmüthigkeit trachte. 

Gleichmüthigkeit iſt aber jene ruhige Stimmung der Seele, 
vermöge welcher ſie mit heller Beſonnenheit ihre Handlungen 
verrichten kann, und ſich nie zu einem allzulebhaften Grad der 
Luſt oder des Mißvergnügens hinreißen läßt. Die Seele des 
Gleichmüthigen ſteht immer höher, als jede Freude, als jeder 


— 312 — 


Schmerz, und weiß ſie zu beherrſchen, ſtatt ſich von ihnen über⸗ 
wältigen zu laſſen. 

Der Chriſt ſoll ſich überall gleich fein, immer unbeſchränkter 
Regent ſeiner ſelbſt. — Nur alſo kann er die erhabene Stelle be⸗ 
haupten, welche ihm ſeine Religion unter den Geſchöpfen Gottes 
anweiſet. Es iſt damit nicht geſagt, daß er gegen alles Vergnügen 
gleichgültig und unempfindlich ſein müſſe. Nein, ein reines Herz 
kann jederzeit ein frohes Herz ſein; aber nie läßt es ſich von Ver⸗ 
gnügungen berauſchen, betäuben. Auch damit iſt nicht geſagt, 
der Chriſt ſolle gefühllos gegen eigenes und fremdes Leiden ſein. 
Nein, er iſt Menſch. Er mag den Schmerz empfinden, aber ſich 
ihm nicht überlaſſen. Er wird von wehmüthigen Gefühlen er⸗ 
griffen, aber bald wird er ſich wieder mit chriſtlicher Faſſung er⸗ 
heben. Er gleicht dem hohen Fels, um deſſen Fuß die unge⸗ 
ſtümen Wellen des Meeres wüthen, deſſen Bruſt finſtere Wolken 
verhüllen, deſſen Haupt aber über den Wolken hinweg im lächeln⸗ 
den Sonnenglanze heiter ſtrahlt. 

Denke nicht, es ſei zu ſchwer, dieſe hohe Gelaſſenheit, dieſe 
herrliche, ewige Gemüthsſtille zu erringen. Denke nicht, das 
hänge viel zu ſehr von deiner äußern Lage, oder von der Bes 
ſchaffenheit deines Temperaments ab. — Groß iſt die Macht der 
äußern Umſtände, groß der Einfluß unſerer ſinnlichen Natur; 
aber gewaltiger als beide iſt des Chriſten, des Weiſen Seele. 

Denke nicht, es ſei dir bei deiner jetzigen Art, zu ſein, zu 
leben und zu empfinden, ganz wohl; du habeſt nicht nöthig, dir 
Gewalt anzuthun; andere Menſchen müſſen ſich nun wohl in 
deine Launen fügen; und wenn dir deine allzugroße Lebhaftigkeit, 
deine Empfindlichkeit, deine Ausgelaſſenheit im Schmerz oder in 
der Freude auch einmal nachtheilig werden könnte, ſo ſei das deine 
Sache, und du werdeſt es ſchon tragen! — Nein, es iſt hier von 
deinem irdiſchen Lebensglück, es iſt von deiner Geſundheit, 
es iſt von der laͤngern oder kürzern Dauer deines Lebens, es 
iſt von deinem Chriſtenthum, von deiner Nachfolge Jeſu, es iſt 
von deiner Selbſtveredelung, von deiner Seligkeit die ernſte Rede! 

Freilich koſtet es einigen Kampf, einige Selbſtüberwindung, 
unter allen Umſtänden jederzeit ein gleiches Gemüth zu bewahren. 


— 313 — 


Aber ewige Seelenheiterkeit, die Himmelsfrucht der Weisheit, 
dieſes Kleinod des frommen chriſtlichen Herzens, iſt auch wohl 
des ſchwerſten Kampfes werth. 

Der erſte Schritt, Gleichmuth zu gewinnen, iſt, mit beſtaͤn⸗ 
diger Aufmerkſamkeit ſich ſelbſt zu bewachen; anhaltend darüber 
zu wachen, daß uns bei irgend einer Gelegenheit nicht die Ge- 
walt unſerer Empfindungen übermanne; daß wir, wie man zu 
ſagen pflegt, beſtändig kalten Blutes bleiben, es möge ſich auch 
ereignen, was da wolle. — Wer nur erſt dieſe Aufmerkſamkeit 
auf ſich ſelbſt, dieſen feſten Willen gewonnen hat, nie ſeine 
Faſſung zu verlieren, der hat ſchon den halben Sieg gewonnen. 
Und wahrlich, der Menſch vermag viel; er kann mit feſtem Vor⸗ 
ſatze und beſtaͤndiger Aufmerkſamkeit eine Veränderung in ſich 
hervorbringen, welche Erſtaunen erregt; die Seele, bei den ge- 
wöhnlichen Menſchen mehrentheils Sklavin des Körpers, kann 
durch ihre Macht ſogar die natürlichen Geneigtheiten und An⸗ 
lagen des Leibes vortheilhaft umſchaffen. 
| Wer einmal ſich ſelbſt beherrſcht, der iſt fähig, Andere zu be⸗ 
herrſchen. Ein Geiſt, der feine heitere Ruhe durch keine übeln 
Eindrücke von außen verwandeln läßt, urtheilt jedesmal beſon⸗ 
nener, richtiger über die Handlungen anderer Menſchen, und über 
den Zweck der Schickſale. Er iſt ein Weiſer, und ſeine Gelaſſen⸗ 
heit erregt Ehrfurcht, oft Bewunderung. Das launenvolle, oft 
verſtimmte Gemüth hingegen iſt ſich weder in ſeinen Urtheilen 
noch Handlungen gleich; widerſpricht oft ſich ſelbſt; verliert die 
Acahtung für ſich ſelbſt, und die Achtung Anderer wendet ſich mit 
Recht von ihm ab. Es erblickt die Welt nie in reiner Klarheit, 
ſondern bald im allzuſchönen Glanze feiner Einbildungen, bald 
wie von trüben Nebeln verſchleiert. 
| Darum beherrſche dich ſelbſt! — Handle nie, wenn du 
fühlſt, daß deine Empfindungen aufwallen; gib kein 
Wort, oder wiege deine Worte, wenn dich Freude oder Schmerz, 
Furcht oder Zorn übermannen wollen. — Der Kaltblütige hat 
ſchon den erbittertſten Feind durch die Würde und Ruhe des 
Betragens entwaffnet, und indem er nirgends in der Uebereilung 
Bloͤßen zeigt, hat er keine Furcht, irgendwo verletzt zu werben, 
III. 14 


— 1 


Der Gelaſſene bricht die Roſen der Freude mit weiſer Vorſicht; 
der Unmäßige bricht fie zwar auch, aber ihrer Dornen uneinge⸗ 
denk, verbittern ihm Wunden und Schmerz nur zu bald den 
flüchtigen Genuß des Vergnügens. — Hüte dich, Entſchlüſſe in 
der Hitze deiner Empfindungen, Vorſätze im Rauſche der Freude 
oder des Zorns zu faſſen. Nach verflogenem Rauſche kehrt die 
Reue zu dir ein. Haben dich denn ſo t ahnung wan 
Lebens vergeblich gewarnt? | 

Und wenn du eine Gemüthsverändetung⸗ in dir bemerſt, 
wenn du fühlſt, daß dein Unwille in dir aufkocht, daß die 
Flamme des Zorns in dir emporlodern möchte, oder daß dir Un⸗ 
wille und Schwermuth die Seele umſchleiern, — oder daß du 
deiner im Uebermaß eines Vergnügens ſelbſt nicht mehr mächtig 
bleibſt, dann — zerſtreue dich! Aendere den Ort. Andere 
Gegenſtände werden andere Bilder in deine Seele bringen, an= 
dere Gedanken und Empfindungen erregen; du wirſt das ſchöne 
Gleichgewicht in dir wieder herſtellen, und, immer Beherrſcher 
deines Selbſtes, unabhängig von den Außendingen der Welt, 
Zufriedenheit mit dir bewahren, und eine Schamröthe, eine n 
dir erſparen. 

Aber dieſer Gleichmuth, nach weihen du als Weiſer und 
als wahrer Chriſt ſtrebſt, muß nicht bloß äußerlich ſein, muß 
nicht bloß in der Gewalt beſtehen, die du uber deine Geberden 
und Mienen haft, ſondern in deiner Seele herrſchend fein. Chriſt⸗ 
licher Gleichmuth beſteht nicht in der Kunſt, ſich vor den Men⸗ 
ſchen zu verſtellen; nicht in der Kunſt, lächeln zu können, wäh⸗ 
rend das Herz verſchloſſen vom Zorn ſchwillt; — nein, das 
Chriſtenthum iſt mehr, als bloße Lebensklugheit, iſt tiefe, bes 
ſeligende Wahrheit; der heitere Blick des Auges ſoll nicht das 
Werk der Liſt, ſondern ein Spiegel des heitern Gemüths ſein. 

Was gewänneſt du auch zuletzt mit dieſer Verſtellung? Du 
täuſcheſt vielleicht Andere, aber betrügeſt dich ſelbſt damit mehr, 
als ſie. Du betrügeſt dich um deinen Seelenfrieden, um deine 
Seelenreinheit, um Geſundheit. Du betrügſt dich ſogar mit der 
Hoffnung, Andere zu taͤuſchen, denn deine Kunſt wird leicht von 
Andern entdeckt, ſobald ſie wahrnehmen, wie deine Handlungen 


— 315 — 


zuletzt ganz im Widerſpruch mit deiner äußern Ruhe und Ge⸗ 
laſſenheit ſtehen. Du wirft nur um fo mehr verachtet und ge⸗ 
haßt werden, je mehr man Urſache hat, deinen fanften Worten, 
deinen freundlichen Blicken nicht zu trauen. Man wird dich bei 
der erſten ungerechten Handlung, welche du begehſt, in die ſchaͤnd⸗ 
liche Reihe kalter Böſewichte, ſcheinheiliger Sünder, unzuver- 
läſſiger Schmeichler ſetzen. 

Sei rein, ſei wahrhaft, ſei einfach, und erſcheine nie im Leben, 
nie vor dir ſelbſt als eine doppelte Perſon. — Sei nicht bloß 
Herr deiner Geberden und Worte: ſei Herr deines Herzens! Em- 
pören dich die Handlungen der Menſchen, und fühlſt du, daß 
dein Gleichmuth flieht: zerſtreue dich. Erinnere dich, daß die 
Menſchen nicht ſowohl tückiſche und boshafte, als vielmehr irrende 
Geſchöpfe ſind. Sie irren aus Schwäche der Einſicht; ſie irren 
im Urtheil deiner Perſon; ſie irren über das, was ſie für gut 
und nützlich halten; ſie irren über die Wahl ihrer Mittel. Warum 
willſt du unmuthig werden über die Sünden ihres Verſtandes? 
Bei andern und beſſern Einſichten, bei anderer und beſſerer Er- 
ziehung ihrer Jugend würden ſie ganz anders urtheilen und han— 
deln. Sie irren aus Schwäche ihres Gemüthes; ſie fehlen, weil 

| nicht Stärke des Geiſtes genug haben, ihre finnlichen Triebe 
zu beherrſchen. Dein Zorn, dein Unwille, deine Schwermuth 
ändert weder ſie, noch die Folgen ihrer Thaten. — Ermanne 
dich! Denke darauf, was ſie Uebels gethan haben, auf irgend 
eine Weiſe zu verbeſſern, oder weniger ſchädlich zu machen. Denke 
darauf, den, der dir gefährlich wird, aus deinem Wirkungskreiſe 
zu entfernen, oder vermeide du ihn ſelbſt. 
| Will dich eine düſtere Laune befallen, quälen dich Beſorgniſſe 
aller Art, Furcht vor nahen Uebeln — zerſtreue dich. Denke, 
| daß der Muthigſte am erſten ſiegt, und der Furchtſame ſchon halb 
geſchlagen iſt. Denke, daß nur die kaltblütige Beſonnenheit am 
erſten Meiſter aller Umſtände werden kann, da hingegen die 
Niedergeſchlagenheit des Gemüths uns mit Nebeln und Träumen 
| verblendet; denke, daß, weil du jetzt vielleicht betrübt biſt, noth- 
wendig wieder die heitern Stunden nachfolgen müſſen. Denn ſo 
will es die allregierende Vorſehung, fo will es der ewig ange— 
| 


wi 


ordnete Wechſel der Dinge, daß jede Trauer, jedes unangenehme 
Ereigniß der Vorbote irgend eines glücklichen Umſtandes, irgend 
einer Freude wird. 

Aber auch im Taumel eines Vergnüͤgens verliere dein beſſeres 
Selbſt nicht. Genieße mit Mäßigkeit. Erinnere dich mitten in 
der Luft, daß dieſem Lichte bald nachher der Schatten nach⸗ 
ſchleicht; daß dieſem Gelächter bald die Thräne nachfolgen durfte! 
Laß dich durch die Freude nie ganz entnerven, deſto muthvoller 
wirſt du den etwaigen e e e der nächften Tage ent⸗ 
gegentreten. 

Wer mit dieſer ächtchriſtlichen Seelenſtärke, mit dieſem Gleich⸗ 
muth bewaffnet durchs Leben geht, wird immerdar auf goldener 
Mittelſtraße wandeln, wo ihn weder das Glück betäubt, welches 
er beſitzt, noch dasjenige kraͤnkt, was er nicht erhalten konnte; 
wo er Uebeln ſpottet, die ihm drohen, und erhaben über die Uebel 
hinweggeht, welche ihn betreffen. — Er wandelt vor Gott — 
er wandelt in Jeſu Fußſtapfen. — Er wandelt durch den Wechſel 
des Lichtes und Schattens dieſer Erdenwelt in fortdauernder Ruhe 
und ſtillem Heiterſinn. Er gibt und ärntet Liebe; er gibt und 
aͤrntet Freuden. Mit leichtem Sinn vergißt er, was ihn ſchmerzte; 
und mit edelm Sinn gedenkt er deſſen, was ihm wohlthat. 


— 317 — 


36. 
Der Kummer um die Zukunft. 
Hebr. 13, 5. > 


Empor, du müde Seele, ſchwinge 
Dich auf zu deinem Gott, und dringe 
Mit jedem ihm bekannten Schmerz 
Voll Glauben an fein Vaterherz. 


Flieh, Kummer; flieht, der Zukunft Sorgen 
Auch meine Nacht wird bald zum Morgen, 
Wo thränenlos mein Auge ſchaut 
Den Retter, dem mein Herz vertraut. 

Müßt' ich mein Joch noch Jahre tragen, 
Nein, dennoch will ich nicht verzagen, 

Nein, keine noch ſo lange Pein, 
Nur Gottes Huld wird ewig fein. 


Wie wird es mit mir werden? — Welche Tage des Verdruſſes 
und des Schmerzes warten noch auf mich? Werden meine Be— 
kümmerniſſe nie ein Ende nehmen? — meine Sorgen nie auf— 
hören? Muß ich denn beſtändig ringen auf meiner Lebensbahn, 
und kann ich nie, gleich andern meiner Mitmenſchen, froͤhlich ins 
Leben hinausſchauen? Warum muß ich ſo mancherlei leiden; 
warum muß ich aus einer Noth hervorgehen, um nur wieder in 
eine neue Verlegenheit zu verſinken? O Gott, mein Gott, willſt 
Du mich verlaſſen? Haſt Du mir hienieden keine Freudentage auf— 
bewahrt? Werden meine heißeſten Wünſche nie erfüllt werden? 
So ſeufzt der Unglückliche, und ſtarrt mit thränenvollem 
Blick in die finſtere Zukunft hinaus. So ſeufzt meine bange 
Seele mit ihm, von mancherlei Sorgen niedergebeugt. Sie ſehnt 
ſich nach Ruhe. Sie möchte fo gern endlich den harmloſen Frie— 
den genießen, welchen ſonſt Rechtſchaffenheit und Gejchäftstreue, 
nützliche Ihätigfeit und freundſchaftlicher Umgang mit den Men- 
ſchen zu gewähren pflegen. Aber meine Zukunft iſt eine finſtere 
Nacht. Ich hoffe auf Licht, und es erſcheint mir keines. Ach, 
es können ſich ſo mancherlei traurige Zufälle ereignen, die keine 
menſchliche Weisheit vorausberechnet, die keine menſchliche Macht 
abwehrt, und wir erliegen darunter. 


— 318 — 


Nicht Reichthum und Ueberfluß wünſche ich mir, doch aber 
einen Zuſtand ohne drückende Nahrungsſorgen; eine ruhige Aus⸗ 
ſicht auf das Schickſal, auf die Verſorgung meiner Angehörigen. 
Vergebens that ich in meinem Wirkungskreiſe ſo vielen Menſchen 
wohl, als ich irgend vermochte. Meine Wohlthaten ſind vergeſſen. 
Es erinnert ſich meiner Niemand. Keiner reicht mir die helfende 
Bruderhand. Jeder ſorgt für ſeine Freude, während ich nur für 
die dringendſten Bedürfniſſe mit ſchwerer Anſtrengung kaͤmpfe. 
Ach, und von Allem das Niederſchlagendſte, ich ſehe von dieſen 
geheimen Leiden, die ich nur Gott klagen darf, kein Ende. 

So ſinne ich troſtlos in meinen Verlegenheiten auf irgend 
eine Hilfe. Woher werde ich ſie nehmen? Ich ſuche mit trüben 
Augen einen Ausweg — wer wird mir einen zeigen? — Ein 
Freund? Welcher wäre es? Für mich lebt keiner, der helfen könnte 
und möchte; keiner, der meines Herzens Wuͤnſche erfüllen würde. 
Ich wage es nicht, irgend einen um den Beiſtand anzuſprechen, 
den ich nicht erwiedern, nicht vergelten könnte. Ich wage es nicht, 
irgend einem die geheime blutende Wunde meines Herzens zu 
enthüllen, und das Elend ihm anzuvertrauen, welches ich mit 
erkünſteltem Lächeln vor der Welt verbergen muß. Ich würde 
damit nichts gewinnen; vielleicht noch Manchen verlieren, der 
ſich jetzt, unbekannt mit meiner Noth, an mich anſchließt. Denn 
ſo ſind die Menſchen; ſo geloben ſie Treue, Liebe, Freundſchaft, 
ſo lange ſie noch auf eine Vergeltung hoffen können. Sie leiſten 
mit Begierde Dienſte, ſo lange ſie überzeugt ſind, ihnen könne 
wieder gedient werden. So werfen ſie dem Reichen in glänzenden 
Gaſtmählern und Feſten Goldſummen zu, aber dem Armgewor⸗ 
denen mögen ſie kaum das Almoſen reichen. 

Und ich würde noch gern muthig und willig mein Schickſal 
tragen — wüßte ich nur, ob es endlich nach Jahr und Tag er— 
leichtert ſein würde; wüßte ich nur, ob auch nur der kleinſte Theil 
meiner Wünſche für mich oder die Meinigen in Erfüllung gehen 
würde. Aber Niemand enträthſelt mir das Räthſel der kommen- 
den Tage. Meine Vergangenheit iſt ein dunkler Abgrund ge— 
worden; meine Gegenwart iſt eine unfreundliche Einöde; meine 
Zukunft iſt wie eine hereinbrechende ſternenloſe Nacht. 


- 


So ſtehe ich da, nur mir ſelbſt überlaſſen. Fremde Hilfe 
verſagt mir. Das Schickſal weiſet mich auf meine eigenen ſchwachen 
Kräfte an. Tröſten, beruhigen kann mich Niemand, denn Nie⸗ 
mand durchdringt das Geheimniß meiner künftigen Begebenheiten. 
Ach, der iſt der Aermſte auf Erden, dem ſelbſt die Hoffnung des 
Beſſern fehlt, und ein freundlicher Troſt. 

+. Doch nein, fo arm biſt du noch nicht, mein Herz. So arm 
iſt nie ein Chriſt. Warum verzweifelſt du? Eine Tröſterin reicht 
dir die gütige Hand, eine Tröfterin bringt Licht in deine Finſterniß, 
und zündet den erloſchenen Stern der Hoffnung an — es iſt die 
Religion. 

Ja, Jeſus-Religion, nur du, nichts Anderes, milderſt die 
Seelenleiden gequälter Sterblicher, und rüſteſt uns aus, mit 
eherner Bruſt dem drohenden Verhängniſſe entgegen zu gehen. 
Du leuchteſt auf der finſtern Lebensbahn mit der Fackel der 
Weisheit voran, und macheſt unſere Zuverſicht lebendig, unſern 
Glauben mächtig, unſere Kraft gewaltig. 

Ich höre aus der Tiefe meines Kummers eine heilige Stimme 
aus der Ferne. Sie dringt mit wunderbarer Erquickung durch 
mein Herz, und mein Geiſt richtet ſich zu neuem Leben auf, ihr 
entgegen. Ich höre einen göttlichen Ruf zu meiner Seele; er iſt 
durch den ungeheuern Zeitraum von Jahrtauſenden und über 
das ganze Menſchengeſchlecht erklungen. Ja, Gottes Stimme iſt 
es; ſie ſpricht: Ich will dich nicht verlaſſen, noch ver— 
ſäum en. (Hebr. 13,5.) 

O ſüßer Troſt des Glaubens, Balſam der Religion! Die 
blutenden Wunden heilen, die thraͤnenvollen Augen trocknen. 
Alle Schmerzen ſchweigen. Wenn nun auch Menſchen mich ver 
laſſen: nein, mein Gott verläßt mich nicht! Und wenn auch die 
Erde mich verſäumt, der Himmel verſaͤumt mich nicht. Ich ſtehe 
allein, aber doch nicht einſam; Niemanden offenbarte ich mein 
geheimes Leiden, doch kennt es Einer. Niemand ſah die Zähre, 
welche ich in der Stille der Nacht weinte, Niemand hörte die 
Seufzer, welche meine Verhältniſſe mir oft erpreßten, und doch 
wurden dieſe Thränen, dieſe Seufzer gezählt. 


- 0 


Faſſe Muth für die Zukunft! — Befiehl dem Herrn deine 
Wege, und vertraue auf ihn, er wird's wohl machen! 

Faſſe Muth, ehre Gottes Weisheit, ehre die Werke der Vor⸗ 
ſehung, die du nie ändern kannſt, und welche doch das Wohl 
der Welt und das Glück des einzelnen Menſchen bewirken, ſo ſehr 
ſich auch oft der Sterbliche dagegen ſträubt. — Warum verzagſt 
du? Haſt du nicht Gottes Zuſage, das Wort des Allgetreueſten? 
Er wird dich nicht verlaſſen! Er will dich niemals ver⸗ 
fäumen! 

Du biſt voller Beſorgniß wegen des Schickſals deiner künf⸗ 
tigen Tage? Du fürchteſt, es könnte dir noch viel übler ergehen, 
als es dir ſchon ergangen iſt? Du fürchteſt, daß nun deine guten 
Zeiten ſchon zu Ende gegangen ſind, und eine Kette von Un⸗ 
glücksfaͤllen oder mühſeligen, freudenloſen Stunden von hier bis 
an dein Grab reiche? Kleinmüthiger! Wer iſt es, wer hat es dir 
verheißen, daß er dich nie verlaſſen, noch verſaͤumen wolle? 

Du möchteſt ſo gern deine Zukunft kennen, möchteſt wiſſen, 
ob dir in derſelben endlich dieſer oder jener Wunſch gelinge? 
Wohlan denn, ich will dir im Allgemeinen den Hauptinhalt, die 
Seele deiner künftigen Schickſale offenbaren. — Wende die Blicke 
deines Geiſtes, welche in die kommende Zeit hinausſtarren, rück⸗ 
wärts nach dem hin, was du ſchon gelebt haſt; denn, wiſſe es, 
lerne es endlich: die Vergangenheit iſt der Spiegel der 
Zukunft. 

Sie iſt der Spiegel der Zukunft. Was du gehabt haſt, wirſt 
du wieder haben, wenn gleich Alles unter andern Verbindungen 
und Umftänden. — Warſt du in deinem bisherigen Leben jemals 
anhaltend unglücklich und elend? — Nein, und du wirſt es auch 
jetzt nicht, wirſt es auch nachher nicht ſein. Es ſind dir Freuden 
aufbehalten, wo du Verdruß und Ueberdruß vermutheſt. Es 
wird dir unvermuthet hier und da eine Roſe blühen, wo du jetzt 
in der Ferne nichts als die Dornen erkenneſt. Sprich nicht: aber 
die Zeit flüchtet, meine Tage vergehen, ich werde aͤlter. Wohlan, 
fo flüchten auch deine böfen Augenblicke an dir vorüber; nichts 
bleibt und kann bleiben, wie es iſt; aber auch jedes Jahr, 
jedes Alter des Lebens hat feine eigenthümlichen Vor— 


— 82 


theile und Genüſſe. Du wirſt noch manches Glück, manche 
kleine Belohnung deines Fleißes, deiner Mühen empfangen, die 
du nie gekannt, nie vermuthet haſt. Das Leben freilich vergeht, 
aber Gottes Vorſehung nicht. Du biſt ihr theuer. Sie will dich 
nicht verlaſſen, nicht verſaͤumen. 

Die Vergangenheit iſt der Spiegel deiner Zukunft! 
Der Gott, welcher dich durch mancherlei Ereigniſſe bis hieher ge— 
führt hat, er iſt auch forthin bei dir, und wird dir ferner helfen. 
Du biſt jetzt vielleicht in einer übeln Lage. Schwierige Umſtände 
drängen dich. Die beſten Ausſichten ſind verloren; viele von 
deinen angenehmſten Wünſchen ſchlugen fehl. — Aber denke 
doch an die ehemaligen Zeiten zurück; erinnerſt du dich nie, in 
welcher Muthloſigkeit du oft verſunken lagſt? Weißt du es nicht 
mehr, wie du zuweilen vom Schmerz vernichtet warſt? Wie du 
alle Hoffnung auf die Möglichkeit beſſerer Tage ſchon aufgegeben 
hatteſt? Beſinneſt du dich nicht mehr an die Tage, da du wünſch⸗ 
teſt, fie möchten ſich in eine lange Nacht verwandeln, damit du 
nichts mehr von dir und deinen Verhaltniſſen wüßteſt? Wie, fie 
find laͤngſt vorübergegangen; du warſt ſeitdem fo glücklich, hat⸗ 
teſt jo viele frohe Stunden, und lächelſt jetzt ſelbſt über deinen 
damaligen Kleinmuth! Wohlan, faſſe auch jetzt Muth. Es wer⸗ 
den auch wieder Zeiten kommen, da du dich deiner jetzigen Be⸗ 
klemmung wenig mehr erinnerſt, und wenn du derſelben gedenkſt, 
wo du dich deiner jetzigen Freudenloſigkeit und Angſt ſchämſt. 

Wie manchmal glaubteſt du, dich könne Niemand retten, dir 
ſei Niemand zu helfen im Stande. Und es vergingen wenige 
Tage oder Wochen: die Hand der Vorſehung waltete indeſſen 
unſichtbar über dich. Die Umſtände wurden unvermerkt anders; 
unbekannte oder bekannte Wohlthäter und Menſchenfreunde nah⸗ 
men ſich deiner an: Gott bewegte ihr Herz; Perſonen wurden 
deine Freunde, an welche du vorher nie gedacht hatteſt; Vor⸗ 
ſchlaͤge wurden dir gethan, welche du nie ſelbſt erfinden, nie ver— 
muthen konnteſt; allerhand kleine, unerwartete Ereigniſſe zogen 
dich aus deiner Lage in ein beſſeres Licht hervor; es war dir, als 
wenn deine Sonne langſam, aber unaufhaltbar aus dem zer⸗ 
fließenden Gewölfe hervortraͤte, das vorher Alles verfinſterte. 


— 322 — 


Siehe, ſo hat dich dein Gott nicht verlaſſen, nicht verſaͤumt! Er 
iſt der Allergetreueſte, und erfüllt ſeine Zuſage gewiß. Und er, 
der gütig war in deiner Vergangenheit, er wird es auch in der 
Zukunft der lieben Deinigen ſein, er wird es nach Jahrtauſenden 
für das ganze Geſchlecht der Sterblichen und für das einzelne 
Menſchenkind ſein. 

Der Unglückliche hat einen natürlichen Aberglauben. Weil 
er keine Mittel und Auswege mehr kennt, möchte er das Ver⸗ 
borgene durch Wunder entſchleiern, und der verſchwiegenen Zu— 
kunft ihr Geheimniß gewaltſam entreißen. Er ſchamt ſich nicht 
der thörichtſten Verſuche, die ſeine eigene Vernunft jedesmal ſelbſt 
mißbilligen muß. Er macht ſich mit Wahrſagereien vertraut; 
er will aus zufälligem Spiel der Dinge, welche weder mit ſeinem 
Leben, noch mit dem Verhängniſſe in Berührung ſtehen, Weiſ— 
ſagungen erkünſteln. Er gibt auf allerlei Zeichen Acht, und 
ſchließt daraus auf die Erfüllung und Nichterfüllung ſeiner 
Wünſche. Er betrügt ſich ſelbſt, täuſcht ſich ſogar wiſſentlich, 
und befleckt mit dieſer Thorheit fein Herz und feinen Verſtand. 

Niemals würdige dich zum Glauben an Wahrſagun⸗ 
gen und Deuten der Zeichen herab. Du haft dich ſelbſt 
verloren, wenn du den Glauben an Gottes Weisheit, an Got⸗ 
tes Vaterhuld verlierſt. Die Vernunft unterſagt dir das elende 
Spiel voller Selbſttäuſchung; denn oft verleitet die falſche Hoff⸗ 
nung, die ſich auf dergleichen vermeinte Vorboten der Zukunft 
gründet, zu falſchen und thörichten Handlungen, die, ſtatt dich 
deinem Glück zuzuführen, dich weit von ihm entfernen. Das 
Wort Gottes verbietet mit Ernſt dergleichen thörichte Erfragungen 
des Künftigen; denn mit jenen albernen Mitteln, das Geheimniß 
der Folgezeit zu erforſchen, brichſt du den Willen Gottes nicht, 
und zwingſt du die Allmacht nicht, ihre Geſetze zu ändern. Aber 
es iſt Gottes Wille, es iſt der Gottheit ewiges Geſetz, daß die 
Zukunft dem Auge des Menſchen verborgen bleibe! Und Gott 
ordnete es alſo mit wohlthaͤtiger Hand an, daß wir, vertrauens⸗ 
reich auf ihn, und unbekümmert um künftige Prüfungen, den 
gegenwärtigen Augenblick mit Freuden annehmen und genießen, 
und, unbeſorgt wegen des Uebrigen, uns nur feſt und zuver⸗ 


* 1 


ſichtlich an der unſichtbaren Hand halten ſollen, die uns durch 
das Dunkel führt. Darum ſorget nicht, ruft Jeſus mit hoher 
wohlthuender Weisheit: ſorget nicht für den andern Morgen, denn 
der morgende Tag wird für das Seine ſorgen. (Matth. 6, 34.) 

Der Kummer um die Zukunft wird nicht durch jene vergeb- 
lichen Mittel, durch jene Täuſchungen des Aberglaubens gehoben, 
ſondern durch Vertrauen auf die allwaltende, Alles am beſten 
ordnende Hand der Vorſehung, und durch eigene Thätigkeit 
und Vorſicht, die vorhandenen Uebel zu vermindern. 
Lege ſelbſt Hand ans Werk und bereite dir dein beſſeres Schick— 
ſal vor. 

Ueberlaſſe dich erſt in der Einſamkeit ganz der Betrachtung 
deiner gegenwärtigen Umſtände. Dieſe Ueberlegung geſchehe, wenn 
du vollkommen ruhigen Gemüths und fähig biſt, reiflich zu er- 
wägen, welches eigentlich die Quellen deines jetzigen Uebels ſind, 
das dich quält. 

Da findeſt du, daß du entweder ſelbſt durch deine Unvor⸗ 
ſichtigkeit, durch deine Fehler, durch dein leidenſchaftliches Herz 
dir das Böſe zugezogen haſt, oder daß es dir von Urſachen kam, 
die du weder herbeirufen noch abwehren konnteſt. 

Biſt du nun nicht ganz ſelber der Urheber deiner peinlichen 
Lage, jo verliere um jo weniger den Muth, fie wieder zu ver- 
beſſern, denn du leideſt unſchuldig, und Gott iſt der Schützer 
und Freund der Unſchuldigen. Was du hier verlierſt, wird er 
dir auf der andern Seite erſetzen. Für den Schmerz, welchen du 
hier fühlſt, wird dir an einem andern Orte eine Freude aufge— 
ſpart. Selbſt dein Verluſt, dein Bedrängniß iſt, wenn du es 
als Weiſer benützeſt, kein Verluſt, kein wahrhaftes Unglück. Nur 
deine Muthloſigkeit, nur dein Eigenſinn macht es erſt dazu. Es 
ſollte für deine Seelengröße eine Uebung, für deinen Chriſten⸗ 
geiſt eine Prüfung ſein. Das Gold lautert fich erſt im Feuer. 
Der Muth der Tugend bewaͤhrt ſich erſt im Sturm. Der Adel 
des Gemüths geht erſt verklärt und herrlich hervor, wenn alle 
Stützen brechen, Alles ſinkt, und unſere Kraft gleichſam auf ſich 
ſelbſt beruhen muß. Du warſt vielleicht in langer Ruhe und 
Glückſeligkeit erſchlafft. Jetzt iſt die Zeit, da es dir nicht mehr 


— 0 


nach deinen Wünſchen geht. Statt wie ein verwöhntes, eigen⸗ 
ſinniges Kind zu weinen, oder gegen dein Verhaͤngniß mißmuthig 
zu trotzen, erhebe dich mit der Stärke des Mannes, und ordne 
mit ruhiger Weisheit das Beſte an. Du haſt nichts verloren, ſo 
lange du dich noch nicht ſelbſt verloren haſt; du biſt noch nicht 
verloren, ſo lange dich das Vertrauen auf Gottes Beiſtand nicht 
verlaſſen hat. 

Biſt du arm geworden, ſiehſt du den Ruin deines Vermögens 
vor dir, und vielleicht eine mühſelige Zukunft für dich und die 
lieben Deinigen — wohl, es gibt ein Mittel, dich plötzlich zu 
bereichern, nämlich: lerne mit chriſtlichem Muthe, mit männlichen 
Sinn entbehren! — Sei ſtolz auf dieſe Armuth, welche du 
nicht verſchuldet haſt. Ein reiches Gemüth ſpottet des Wechſels 
der Dinge und des Spiels der Zufälle. Sorge für dich und die 
Deinigen. — Gott ſorgt wahrlich mit dir! Er will dich und die 
Deinigen nicht verlaſſen noch verſäumen. Gib deine ſtolzen Plane, 
die weitausſehenden Wünſche auf, die du einſt nährteſt. Nicht 
das Geld, ſondern nur das Herz macht reich. Nicht die Ars 
muth ſchändet, ſondern das Verbrechen. 

Haſt du Freunde, Geliebte verloren — haben dich Menſchen 
getäuſcht oder verrathen — umringen dich die Schlangen der 
Verleumdung und des Neides — du verlorſt ja nur, was dir 
nicht ewig gehören konnte; warum begehrſt du, was deine Ver⸗ 
nunft ſelbſt dir abſchlägt? Daß dich Verräther hintergingen, ſei 
ſtolz, daß du keinen Theil an ihrer Schande haſt; ſie müſſen dich 
in deinem Unglück wider ihren Willen ehren, ſobald du edler 
erſcheinſt, als ſie. Daß dich Neider beneiden, deß zuͤrne nicht, 
denn die Weſpen ſchwärmen immer um die edelſten Früchte; das, 
was an dir beneidet wird, ſei dein Troſt gegen die Beleidigungen 
ſchlechtgeſinnter Menſchen. 

Waͤreſt du aber vielleicht ſelbſt der Urheber deiner gegenwaͤr⸗ 
tigen Drangſale — wen klagſt du an? Warum begnügſt du dich 
mit dieſer Anklage? Warum ſeufzeſt du: wie wird des mit mir 
werden? Du ſieheſt, wie es mit dir geworden; doch was weiter 
geſchehen wird, das liegt in Gottes Hand. Du haſt mit den 
Uebeln, die dich drücken, nur deine eigenen Thorheiten und 


N 


Sünden beſtraft. Verlängere deine Schuld nicht durch ſchaͤdliche 
Verzagtheit. | 

Du biſt gefallen, Unglücklicher, raffe dich auf, und glaube, 
mit den Händen, durch welche du dein Unglück herbeizogeſt, kannſt 
du auch dein Glück bauen. Deine Stütze ſei acht- chriſtliche Recht⸗ 
ſchaffenheit, dein Wegweiſer ſei Jeſu Lehre. Sünden brachten 
dir den Fluch; chriſtlicher Edelmuth, chriſtliche Weisheit bringen 
dir den Segen wieder ins Haus. Habe nur den Muth, glücklich 
zu werden, und du wirſt wieder glücklich ſein können. Wende 
dich zu Gottes Gnade, ſie wendet ſich wieder zu dir. Tritt ein in 
Jeſu Fußſtapfen, und du haſt den Weg zur Seelenruhe, zur 
innern Zufriedenheit betreten, die von allen Außendingen unab- 
hängig iſt; du Haft das beſte Theil erwählt! Du gehörſt Gott 
wieder, und er wird dich nicht verlaſſen noch verfäumen. 

Wohlan nun, meine Seele, ermanne dich! Sei harmlos um 
die kommenden Tage, Gott zaͤhlt ſie dir zu. Bewaffne dich gegen 
Alles, was dir noch begegnen mag, mit Chriſti Muth und Er— 
gebung. Rette deine Seelengröße im Drange aller Schickſale, 
und du haſt dein Alles errettet; lerne entbehren und du wirſt von 
keiner Armuth wiſſen; laß deine hochfliegenden, eigenſinnigen 
Wünſche als nichtige Einbildungen fahren, und du haſt dann 
von der Zukunft nichts mehr zu befürchten, Alles nur zu hoffen. 

Ich bin beruhigt. Gott, ich bin ruhig in Dir. So will ich 
denn entſchloſſen in mein Verhaͤngniß gehen; fo will ich denn 
mit Muth, was mir geſchehen ſoll, erwarten; denn Du, Vater, 
Alles gütig, wohlthätig ordnender Vater, Du, Schöpfer meines 
Lebens, Du willſt mich nicht verlaſſen noch verfäumen. — So 
will ich denn mit Ergebung in Deinen Willen Verzicht auf 
Alles thun, was ich verloren habe, Verzicht auf meine Wünfche, 


Verzicht auf meine ſtolzen Entwürfe; denn ich weiß es, das iſt 


mir nicht gut, was Du, Allweiſeſter, mir verweigerſt. So will 


ich denn, ohne Bangigkeit um mein Schickſal, ohne Furcht um 


das Schickſal der Meinigen, auf Deine Hilfe vertrauen, und wie 
Du die Herzen der Menſchen zu meinen Gunſten lenkeſt, oder 
die traurigen Umſtaͤnde, welche mich heute umringen, wunderbar 
verwandelſt. Gott, mein Gott, ich kenne Deine Vatertreut: fie 


— 326 — 


iſt mir ja nicht fremd. Wie oft hat ſchon in meinen frühern 
Zeiten ein einziger Augenblick Alles herrlich umgeſtaltet! 

Nicht um Weisheit, nur um Muth und Kraft flehe ich zu 
Dir, und daß Dein heiliger Geiſt mich nicht verlaſſe, und das 
Beiſpiel meines Jeſu mir beſtändig vor der Seele ſchwebe! — 
Ich will mich ſelbſt verläugnen, wie er ſich verläugnet hat; ich 
will den bittern Kelch meiner Leiden, mit heiliger Ergebung in 
Dein en Willen, trinken, wie er ihn getrunken hat. So werde 
ich ſiegen über das Elend dieſer Zeit, wie er auch herrlich obge- 
ſiegt hat. So werde ich noch ſelbſt in meinen Schmerzen, noch 
ſelbſt in meinen Thränen fühlen, wie Jeſus es empfunden hat, 
daß Du, Allbarmherziger, der Ewigtreue biſt, daß Du mich nicht 
verlaſſen, mich nicht verſäumen willſt. Vater, o mein Vater im 
Himmel, meine Seele hoffet auf Dich! Amen. 


— — 


37. 
Die Sorge um das irdiſche Eigenthum. 


Ev. Luk. 11, 9 — 11. 


Des hohen Werthes Deiner Gaben 
Und ihrer Abſicht eingedenk, 
Beweiſe Jeder: was wir haben, 
Sei nicht verdient, ſei Dein Geſchenk, 
Sei ein Geſchenk nur für die Zeit, 
Nicht aber für die Ewigkeit. 


Sehr oft verfallen wir durch bloße Mißverſtändniſſe in Fehler, 
oder gerathen in Verlegenheiten, in Widerſprüche mit uns ſelbſt, 
die unſerer Ruhe Nachtheil bringen können. Sehr oft ſcheinen 
ſogar dieſe Widerſprüche aus dem Munde unſerer eigenen Lehrer 
zu kommen, ja ſich ſelbſt hin und wieder in den Worten der 
heiligen Schrift zu befinden. Um ſo gefährlicher für unſere 
Lebensweiſe. Wir wiſſen nicht, welchen Theil wir erwählen 
wollen. Unſere uns als Hausväter, als Hausmütter, als Bürger 
eines Landes, als Beamte aufliegenden Pflichten ſcheinen ganz 
denjenigen zu widerſtreiten, welche die heilige Schrift empfiehlt, 
oder die Lehrer des göttlichen Wortes uns vortragen. 


— 327 — 


Diaher iſt für die Gemüthsberuhigung guter Chriſten aller- 
dings von der höchſten Wichtigkeit, daß fie ſich diejenige Auf⸗ 
klärung des Verſtandes erwerben, durch welche ſie im Leſen oder 
Hören des göttlichen Wortes das nöthige Licht, oder bei auf- 
ſteigenden Zweifeln eine Löſung derſelben erhalten können. 

So ſcheint es unter anderm ein harter Widerſpruch zu fein, 
wenn die Schrift gebietet, wir ſollen dem Zeitlichen entſagen; der 
Welt nicht anhangen; uns nicht mit der Sorge für den künftigen 
Tag beſchäftigen — und dagegen dann unſere leiblichen Bedürf— 
niſſe laut fordern: denke daran, daß du mit den Deinigen nicht 
in Elend geratheſt; erwirb dir ſo viel Vermögen, daß du und 
deine Kinder nicht darben müſſen, daß du mit deinem Ueber⸗ 
fluſſe auch denjenigen helfen könneſt, die nichts zu erwerben im 
Stande ſind. 

Wenn von der einen Seite befohlen wird: Ihr ſollt euch 
nicht Schätze ſammeln auf Erden, da die Diebe nachgraben und 
ſtehlen; denn wo euer Schatz iſt, da iſt auch euer Herz. Sorget 
nicht für euer Leben, was ihr eſſen und trinken werdet; auch nicht 
für euern Leib, was ihr anziehen werdet. Ihr fönnet nicht Gott 
dienen, und dem Mammon; Niemand kann zween Herren dienen, 
er wird einen haſſen oder den andern lieben! — und dagegen es 
wieder heißt: Bete und arbeite; ſechs Tage ſollſt du arbeiten und 
alle deine Dinge beſchicken, aber am ſiebenten Tage iſt der Sab- 
bath des Herrn deines Gottes! — ſo muß wohl in Manchem, 

der über den Zuſammenhang und den wahren Sinn der Worte 
nicht nachdenkt, und das, was oft nur bildlich oder mit großem 
Nachdruck geſagt iſt, buchſtäblich annehmen und befolgen will, 
der größte Zwieſpalt mit ſich ſelber entſtehen. Denn wenn wir 
kein Vermögen erwerben, nicht für den künftigen Tag ſorgen 
ſollen für uns und die Unſerigen, warum wird von der andern 
Seite geboten: Gebet den Armen! Ihr ſollt ſechs Tage arbeiten 
und den ſiebenten Gott weihen! Warum ſollen wir beten: Unſer 
täglich Brod gib uns immerdar! 
Daher haben wir geſehen, daß ſchon viele Menſchen aus 
bloßem Mißverſtändniß in die entgegengeſetzteſten Fehler ver- 
irrt find. 


„ 


Es gab Menſchen, die da glaubten, man ſolle ſich ganz von 
der Welt trennen; man müſſe, um ſelig zu werden, allen Reich⸗ 
thum verachten, wohl gar haſſen; man müſſe nichts beſitzen, und 
beſtändig Noth leiden, um Gott wohlgefällig zu ſein. Sie gaben 
ihr Eigenthum hinweg, und flüchteten in Einſiedeleien, wo ſie 
mit Andachtsübungen ihre Zeit hinbrachten, ohne ihren Mit⸗ 
brüdern wahrhaft wohlthätig werden zu können. Sie dachten 

nicht daran, daß ſelbſt die Jünger Jeſu ihren Lebensunterhalt 
durch allerlei Arbeit verdienten; ſie wollten nur von Almoſen 
leben. Sie dachten nicht daran, daß ihnen die Weisheit Gottes 
nicht deswegen ſo mancherlei Kraft verliehen, damit ſie dieſelben 
im todten Müßiggange unbenutzt liegen laſſen ſollten; dachten 
nicht daran, daß, wenn eine ſolche Lebensart wirklich der Wille 
des Allerhöchſten wäre, die Menſchen auf dem Erdball ſchnell im 
Elend ausſterben würden, und Gottes Zwecke nicht erreicht wer⸗ 
den könnten. Denn wollten alle arm fein, wer wollte Almoſen 
ertheilen und dem Unglückſeligen helfen können? Wollte Niemand 
Vermögen ſammeln, wer würde ohne daſſelbe Mittel beſitzen, die 
Nackten zu kleiden, die Hungrigen zu ſpeiſen, die Kranken mit 
koſtbaren, oft aus fernen Ländern herbeigeführten Arzneien zu 
heilen, und alle diejenigen Pflichten zu erfüllen, welche uns Gott 
durch den Mund Jeſu Chriſti und feiner Boten predigen ließ? 

Von der andern Seite gab es ihrer noch Mehrere, die, weil 
ſie fanden, daß manche Stellen der heiligen Schrift nicht immer 
im buchſtäblichen Sinne verſtanden werden konnten, in ihrer 
Seele dachten, man müſſe es überhaupt mit den bibliſchen 
Sprüchen nicht allzugenau nehmen; man könne Vieles auslegen, 
wie man wolle; man dürfe ſich nicht an Alles gar zu Kae 
binden, die Zeiten wären ganz anders geworden. 

Sobald ſie dieſe Denkart einmal annehmen, machen ſie ſich 
ihr eigenes bequemes Chriſtenthum; legen die Worte Jeſu aus, 
wie es ihren beſondern Neigungen und Abſichten am beſten ge— 
fällt, und ihnen am leichteſten iſt. So werden fie aus Chriſten 
zu Halbchriſten; jeder hat ſeine eigene Pflichtenlehre, jeder ſeine 
eigene Religion. Sie halten ſich dann für aufgeklärt; fie achten 

auf die Vorträge der Prediger und Erklärer des göttlichen Wortes 


* 
— 329 — 


weniger; glauben, es ſeien dieſelben von Amtswegen verpflichtet, 
ſo und nicht anders zu reden. Der Gottesdienſt wird zuletzt nur 
Scheindienſt; das Chriſtenthum beſchränkt ſich zuletzt nur auf, 
den Namen, auf den Beſuch der Kirchen, auf die Beobachtung 
kirchlicher Gebräuche und heiliger Sakramente. Sie werden in 
ihren Chriſtenpflichten täglich lauer; ſie werden nur klug handeln, 
aber nicht mit Jeſusfrömmigkeit; die Religion muß ſich nach den 
Begierden und beſondern Neigungen der Menſchen, nach ihrem 
Temperament, nach ihren Leidenſchaften richten, ſtatt daß dieſe 
den Geboten der Religion unterworfen ſein ſollten. Sie verkehren 
das ganze Verhältniß der Religion zum Menſchen, und gerathen 
ſo aus einem Irrthum in den andern, bis ſie zuletzt in ihrem 
eigenen Gemüth voller Widerſprüche, ohne Einſtimmung mit ſich 
ſelbſt find, auf traurige Abwege gerathen, ſich und Andern zum 
Verderben. 

Und wie Viele ſind nicht dieſer! Wie Viele, die ſich ihre 
eigene Religion gemacht haben, ſtatt diejenige in ihrer hohen Rein⸗ 
heit und Einfalt zu bewahren, welche Jeſus Chriſtus lehrte! 

Dahin können alſo Mißverſtändniſſe leiten! Wie wichtig iſt 
es dem für ſeine wahre Veredlung beſorgten Chriſten, daß er 

ſich da Klarheit verſchaffe, wo ihm Widerſprüche vorhanden zu 
ſein dünken! 

In Gottes Wort ſelbſt liegen dieſe Widerſprüche nicht, ſon⸗ 
dern in den thörichten Auslegungen deſſelben. Wir müſſen Alles, 
was wir darin finden, jedesmal in feinem vollen Zuſammen⸗ 
hange betrachten; müſſen immer wohl erforſchen, zu wem ge⸗ 
ſprochen wird, unter welchen Umſtänden, zu welchem Ends 
zweck? 

Jeſus Chriſtus hat niemals das Arbeiten unterſagt, niemals 
befohlen, ſein ganzes Leben mit Beten zuzubringen und im 

Müßiggang. Wohl aber warnte er gegen die Unmäßigkeit der 
Nahrungsſorgen, eiferte gegen diejenigen in ſtarken Ausdrücken, 
welche ſich um nichts, als um irdiſches Anſehen und zeitlichen 
Reichthum bekümmerten, die darüber Gott vergaßen und ihre 
höhern Beſtimmungen für die Ewigkeit. Denn ſolche Menſchen, 
die dies Leben und deſſen vergängliche Güter zu ihrer Hauptſache 


- 


machen, opfern ſich zuletzt nur für Staub und Schatten auf, die 
nicht bleiben. Sie ſinken in die Reihe der unvernünftigen Ge⸗ 
ſchöpfe, die, ohne Ahnung eines Höhern und Beſſern, nur auf 
ihre Nahrung, auf ihr Wohlleben bedacht find, und mit bn 
im Tode Alles aufhört. | 

Um fo viel höher der Menſch ſteht, als das Thier, Wet um 
ſo viel die Seele erhabener und wichtiger iſt, als der irdiſche 
Leib, um ſo viel mehr iſt auch das Geiſtige dem Irdiſchen, das 
Ewige dem Hinfälligen vorzuziehen. Niemand kann ſich mit 
ganzer Seele Gott weihen, wenn er ſich mit ganzer Seele dem 
Sinnlichen, der Sorge um Reichthum und Wohlleben hingibt. 
Darum ſei das Glück, die Veredlung, die Heiligung deiner un⸗ 
ſterblichen Seele, die Hauptſache; darum ziehe das Himmliſche 
dem Irdiſchen vor, wo beide einander wehen und nicht 
beiſammen beſtehen können. 

Aber damit iſt nicht geſagt, daß du die Sorgfalt um dein 
zeitliches Wohl ganz vernachläſſigen müſſeſt. Denn Gott gab dir 
den Leib; du ſollſt ihn alſo erhalten. Er gab dir mannigfaltige 
Kräfte; du ſollſt alſo mit dem dir anvertrauten Pfunde nützlich 
ſein, und es nicht in Müßiggang vergraben. Gott befahl dir, den 
Nackten zu kleiden, den Hungrigen zu ſpeiſen; du ſollſt dir alſo 
ſo viel erwerben, damit du im Stande ſeieſt, deinen Mitmenſchen 
wohlthätig zu werden und die Gebote Gottes erfüllen zu können. 
Gott gab dir Kinder; du ſollſt ſie alle ernähren, alle bekleiden, 
und ihnen eine gottgefällige Erziehung geben. Gott gab dir Frei⸗ 
heit, damit du nützlich in der Welt wirken könneſt; du ſollſt alſo 
die Freiheit bewahren, und dich nicht durch Armuth von der 
Gnade anderer guter oder böſer Menſchen in Abhängigkeit ſetzen. 

Jeſus hatte zwar nicht, wo er ſein Haupt hinlegte, und trieb 
nach dem Antritt ſeines Lehramts kein Gewerbe mehr (vor dem— 
ſelben ſcheint er mit feinem Pflegevater das Zimmerhandwerk ges 
trieben zu haben) (Mark. 6, 3.); aber ſeine Jünger ſcheinen 
ihre Nahrungsgefchäfte nicht ganz aufgegeben zu haben, wie 
ſie denn nach Jeſu Auferſtehung wieder Fiſcherei treiben. 
(Joh. 21, 3. ff.). Sicherlich hatte Jeſus mit ſeinen Jüngern 
eine gemeinſchaftliche Kaſſe, woraus man ſieht, daß er für ſeine 


„> BE ie 


und ihre Bedürfniſſe ſorgte. Einer von denſelben — Judas war 
es — führte die Rechnung über das vorräthige Geld, womit ſie 
ihre Bedürfniſſe beſtritten (Joh. 12, 6.). Jeſus ordnete an, 
wenn von dieſem Gelde das Nöthige angeſchafft werden mußte, 
oder wenn man den Armen milde Gaben daraus ertheilen ſollte 
(Joh. 13, 29.). Er hatte alſo bei ſeiner und der Seinigen hohen 
Mäßigkeit noch einen Ueberfluß, um Nothleidenden damit wohl⸗ 
zuthun. f f 

Dier Apoſtel Paulus war ein Zeltmacher, und trieb dieſes 
Handwerk auch noch als Apoſtel. Chriſtus hatte es den Apoſteln 
erlaubt, vom Evangelium zu leben, das heißt: ſich von denen 
unterhalten zu laſſen, welchen ſie das Evangelium verkündigten; 
Paulus aber zog es vor, ſich ſeinen Unterhalt mit ſeiner Hände 
Arbeit zu erwerben, um unabhängiger zu ſein. „Ich habe euer 
keines Silber, noch Gold, noch Kleider begehrt,“ ſprach der 
Apoſtel Paulus zu den Aelteſten der Gemeinde Epheſus, 
„denn ihr wiſſet ſelbſt, daß dieſe Hände mir zu meiner Noth⸗ 
durft, und derer, die mit mir geweſen ſind, gedient haben.“ 
(Ap. Geſch. 20, 33. 34.) 

Eben dieſer thätige und aufgeklärte Schüler Jeſu eiferte mit 
hohem Ernte gegen die Schwärmer, welche ſich einbildeten, man 
müſſe gar nicht um ſeine Nahrung bekümmert ſein; es ſei beſſer, 
Almoſen nehmen, und alles Eigenthum zu verachten; es ſei 
Sünde, ſich Vermögen zu ſammeln, und dem Zeitlichen nachzu— 
gehen. „Nein,“ ſprach der edle, wahrhaft in Chriſto wandelnde 
Paulus, „wir haben nie umſonſt das Brod genommen von 
Jemand, ſondern mit Arbeit und Mühe Tag und Nacht ge- 
wirket, (oder gewoben), daß wir nicht Jemand unter euch be⸗ 
ſchwerlich wären, — damit wir uns ſelbſt zum Vorbild euch 
geben, uns nachzufolgen. Wir hören, daß etliche unter euch 
wandeln unordentlich, und arbeiten nichts: ſolchen gebieten wir 
und ermahnen ſie durch unſern Herrn Jeſum Chriſtum, daß 
ſie mit ſtillem Weſen arbeiten und ihr eigenes Brod eſſen!“ 
(2. Teſſ. 3, 8 — 12.) 

Weit entfernt alſo, daß die Sorge um unſer zeitliches Wohl 
etwas Verdammliches wäre, iſt fie nach dem Beiſpiel Jeſu unſere 


— 332 — 


Pflicht. Es iſt die Pflicht des Chriſten, ſich Eigenthum 
zu erwerben; es iſt Pflicht des Chriſten, fein Eigen- 
thum zu bewahren und zu beſchützen. Der Chriſt ſoll 
arbeiten und erwerben, damit er unabhängig ſei, und nicht 
Andern durch Armuth zur Laſt falle, damit er die nöthigen Mittel 
erhalte, ſich ſelbſt zu vervollkommnen; er ſoll die von Gott ver⸗ 
liehenen Kräfte gebrauchen, damit er nicht einen Raub an der 
Zeit begehe, und mit dem ihm anvertrauten Pfunde wuchern. 

Die Sorge um zeitlichen Wohlſtand iſt alſo wohl verträglich 
mit der Sorge um das ewige Glück der Seelen; auch iſt leider 
nur allzugewiß, daß Armuth und Müßiggang, zumal in unſern 
Tagen, die Ouellen viel zahlreicherer Laſter und Sünden ſind, 
als der Reichthum ſelbſt. 

„Wir ſollen als gute Chriſten uns Eigenthum auf Erden 
ſammeln und daſſelbe gegen unrechtmaͤßige Gewalt beſchützen, 
nicht nur für uns, ſondern auch zum Beſten derjenigen, 
welche Gott uns anvertraut hat. Wir ſind nicht nur uns 
ſelbſt Pflichten ſchuldig, ſondern auch unſern Blutsverwandten, 
unſern Gatten und Kindern. Wir ſollen dieſen, deren Weh und 
Wohl in unſere Hand gegeben iſt, ein angenehmes Loos auf 
Erden bereiten, daß ſie das Glück des Lebens, für welches ſie 
Gott erſchuf, nicht durch unſere Nachläffigfeit verlieren. 

Es wäre demnach ein unverantwortliches Vergehen, wenn 
wir unſer Eigenthum und Vermögen verſäumten, und unſere 
Nächſten, ja unſere eigenen Kinder dem Elende der Armuth und 
Dienſtbarkeit überließen. Es wäre ein unverantwortliches Vers 
gehen, wenn wir unſer Eigenthum nicht gegen fremde unrecht 
mäßige Angriffe vertheidigen wollten. Denn das hieße zu Gunſten 
böſer und habſüchtiger Menſchen unſerm eigenen Blut Unrecht 
thun, und die Sünde mit den Räubern theilen. 

Daher empfiehlt Jeſus, der gegen das Laſter des Geizes ſo 
vielmals warnte, durch fein eigenes Beiſpiel forgfältige Spar— 
ſamkeit. Als er Tauſende in der Wüſte geſpeiſet hatte, und 
ſah, wie nun alle gefättigt waren, ſprach er zu fernen Juͤngern: 
Sammelt die übrigen Brocken, daß nichts umkomme! (Joh. 6, 12.) 

Der Verſchwender, der Trunkenbold, der Schlemmer, der 


=. 


unordentliche Hausvater ift folglich weit von der Nachahmung 
Jeſu entfernt; er iſt fträflich in den Augen Gottes und mit Recht 
ein Gegenſtand des öffentlichen Tadels unter den Menſchen. Auch 
Jeſus, wiewohl er gegen die allzuiängftliche, allzuweit getriebene 
Nahrungsſorge eiferte, ſorgte dennoch für die nächſtkommenden 
Tage, und für die beſte Benutzung des vorhandenen Eigenthums. 
Darum wollte er nichts umkommen laſſen. 

Wir ſollen Vermögen und Eigenthum ſammeln, und das 
Erworbene bewahren, nicht allein für uns, oder für unſere naͤch⸗ 
ſten Blutsfreunde, ſondern damit wir von dem Ueberfluß 
unſers Eigenthums wohlthätig gegen leidende Mit— 
menſchen ſein können, welche nicht in der Lage ſind, ſich 
durch eigene Kraft ihres Lebens Unterhalt und Nothdurft zu ver⸗ 
ſchaffen. Ein Jeglicher arbeite und ſchaffe mit den Händen etwas 
Gutes, auf daß er habe zu geben den Dürftigen! ſpricht die 
heilige Schrift. (Epheſ. 4, 28.) 

Gibt es auch auf Erden eine himmliſchere Wolluſt, als die⸗ 
jenige iſt, welche wir bei Erquickung wahrhaft Hilfsbedürftiger 
empfinden? Gibt es auch eine fchönere Menſchenpflicht, als die⸗ 
jenige, wo wir durch Unterſtützung und Erfreuung der Leidenden 
gleichſam Gott ähnlich werden, der uns Alle unterſtützt und er⸗ 
freut? Aber wie wollen wir dieſen edeln Beruf übernehmen, wenn 
wir uns nicht durch Sorge und Arbeit in den Beſitz der dazu 
nöthigen Mittel geſetzt haben? Warum alſo wollten wir den⸗ 
jenigen verurtheilen, als ſei er kein wahrer Chriſt, der fein Ver⸗ 
mögen auf anftändige Weiſe vergrößert? Thut er etwas Anderes, 
als Jeſus und feine Jünger ſelbſt für ihre Verhältniffe gethan? 
Thut er etwas Anderes, als Jeſus und ſeine Jünger ſelbſt billig⸗ 
ten? Nirgend haben ſie den Reichthum verdammt, wohl aber den 
Mißbrauch des Reichthums. 

Nicht die Gaben Gottes, welche wir ſammeln zu unſerm und 
der Unſrigen Wohl, nicht die Umſtände und Verhaͤltniſſe, worin 
die Weisheit des Weltregierers uns zu ſetzen für gut hält, find 
an ſich böfe und tadelnswürdig, ſondern nur der Mißbrauch der⸗ 
ſelben. Nicht aber der Reichthum allein, auch die Armuth kann 
gemißbraucht werden. Sie wird von denen gemißbraucht, welche, 


a 


obwohl ſie arbeiten und Eigenthum erwerben könnten, doch lieber 
den Müßiggang vorziehen, und dann mit ihrem Lebensunterhalt 
Andern beſchwerlich werden, wie Paulus (2. Theſſ. 3, 9.) ſagt. 
Denn ſo Jemand nicht will arbeiten, der ſoll auch nicht eſſen. 
Die Sorge um irdiſchen Wohlſtand iſt für den Chriſten eine 
ernſte Pflicht, welche ihm Gottes Wort und eigene Ueberzeugung 
laut gebieten. Er iſt nicht nur ſich, feinen Kindern und Ange⸗ 
hörigen, er iſt auch unglücklichen Mitmenſchen ſchuldig, ſein 
Eigenthum auf gerechte Weiſe zu vermehren und zu bewahren; 
er iſt es auch überhaupt dem Staate ſchuldig, in welchem 
er als Bürger lebt. Er muß, dies iſt göttliches Gebot, nach 
allen Kräften das Seinige zum Wohlſein der großen Geſellſchaft 
der Mitbürger beitragen, in welcher er wohnt. Dies kann er aber 
nicht, wenn ihm dazu die nöthigen Hilfsmittel fehlen. Er kann, 
ohne ſelbſt gehöriges Eigenthum zu haben, Andern keinen Ver⸗ 
dienſt, keine Arbeit, keinen Wohlſtand verſchaffen. Er kann, ohne 
ſelbſt Vermögen zu beſitzen, der Obrigkeit nicht die erforderlichen 
Abgaben entrichten zur Aufrechthaltung der Geſetze, der gemein— 
nützigen Stiftungen, der öffentlichen Sicherheit. (Röm. 13, 7.) 
Trägt er aber nicht das Seinige zur Erhaltung des Ganzen bei: 
ſo iſt er ein unnützes Mitglied der bürgerlichen Geſellſchaft, ein 
läftiger Koſtgänger feines Vaterlandes; er lebt durch die Gnade 
Anderer, und muß ſich ſelbſt noch mehr verachten, als er ver⸗ 
achtet wird. Denn er hat weder göttliche noch menſchliche Ordnung 
geehrt, weder göttliche noch menſchliche Gebote pflichtmäßig erfüllt. 
Die Sorgfalt des Chriſten um Erwerbung zeitlichen Eigen— 
thums und Vermögens iſt göttlicher Wille; jeder Sterbliche ſoll, 
ſo lange er auf Erden lebt, Antheil an den Gütern dieſer Erde 
haben, die der Schöpfer zum Genuß Aller ſchuf und mit wunder— 
barer Fülle des Reichthums ausſtattete. Jeder gewinnt davon 
etwas, je nach Maßgabe ſeiner Kräfte und des göttlichen Willens, 
der die Schickſale und Verhältniſſe der Menſchen anordnete. 
Aber dies Erwerben und Beſchützen des wohlerwor— 
benen Eigenthums muß auf gerechte Weiſe geſchehen, 
und nicht durch verbotene Mittel. — Gottheit und Menfch- 
heit verahſcheuen den gewaltſamen Räuber; den Dieb fremden 


— 335 — 


Vermögens; den hartherzigen Wucherer, der ſich unter den Thraͤ⸗ 
nen derer, die er drückt, Schätze ſammelt; den hinterliſtigen Be⸗ 
trüger, welcher mit falſchem Maß und Gewicht ſpielt, oder fremde 
Erbſchaften auf Umwegen erſchleicht und den rechtmäßigen Erben 
entzieht. 

Segenswürdig iſt die Frucht, welche wir endlich im Schweiße 
unfers Angeſichts gewinnen, und an welcher die Thräne keines 
Betrogenen klebt; ſchätzbar find und mit Segen empfangen wer- 
den die Glücksgüter, welche auch ohne unſer Zuthun Gottes 
Gnade uns ertheilt. Aber Fluch haftet und Unſegen am unge— 
rechten Gute, welches wir durch Hinterliſt und Gewaltthätigfeit 
zuſammenſcharrten; es gedeiht ſelbſt in der Hand der Kinder und 
Enkel nicht. Wer das irdiſche Wohl mit Sünden erwirbt, der 
hat ſein Höchſtes für das Schlechteſte, die Unſchuld und Würde 
ſeines Gemüths für vergänglichen Raub dahin gegeben. Schon 
dies Gefühl iſt ein Fluch in der Bruſt des Ungerechten. Er muß 
zittern, daß er früher oder ſpäter mit Schande einbüße, wie er 
mit Schande erwarb. 

Das Erwerben des zeitlichen Vermögens geſchieht 
durch den Chriſten auf eine gemeinnützige Art. Er kann ſich 
nicht damit beruhigen, daß er ſeinen Wohlſtand auf gerechte Art 
vermehrt; nein, es muß auch ſo geſchehen, daß er durch die Arbeit, 
die ihm Vermögen verſchafft, andern Menſchen wahre Dienſte 
leiſtet. So wird ſeine Arbeit, die er gibt, nur ein Tauſch von 
nützlichen Dingen gegen das Nützliche, ſo er dagegen von Andern 
erhält. Er treibt keine liederliche, ſittenverderbende Gewerbe, wo— 
durch er fremde Leidenſchaften aufregt und zu ſeinem Vortheil 
benutzt; er haßt die Werke der Finſterniß, und würden ſie ihm 
noch ſo ſehr belohnt. Was er thut und leiſtet, iſt nicht nur des 


Lohnes, ſondern auch der Hochachtung aller guten Menſchen werth. 
Endlich vergißt er auch niemals, daß zuletzt doch aller Reich- 
thum, aller irdiſche Wohlſtand, jo nützlich er auch ſei, nur ver- 
gänglich iſt, und daß ihm nur unſere kleinere Sorge, aber 
| daß der Heiligung unserer unſterblichen Seele die 
| höͤchſte Sorge gebühre. Er ſieht in dem zeitlichen Vermögen 

nicht den Hauptzweck ſeiner Erſchaffung, ſondern nur nützliche 


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Mittel an ſich und Andern, die Abſichten Gottes zu erfüllen. 
Der Zweck feines Lebens iſt nicht das Anhäufen eines Vermoͤ⸗ 
gens, das ihm zuletzt doch nicht bleibt, ſondern gleichſam nur 
einſtweilen dargeliehenes Gut iſt. Sein wahrer Schatz iſt im 
Himmel. Sein höchſter Zweck iſt die Veredelung des Herzens, 
die Heiligkeit ſeines Geiſtes, mit welchem er beſſern Welten und 
erhabenern Schickſalen entgegenreift. 

Darum überläßt er ſich nicht allzuweit getriebener Angſt und 
Sorge um das Zeitliche; er iſt vielmehr um das Loos ſeiner Seele 
bekümmert. Und wie Gott ſeine Arbeiten für Erwerbung irdiſcher 
Bedürfniſſe ſegnet, ſo ſegnet Gott auch ſein Bemühen um Er⸗ 
werbung höherer Vollkommenheiten und unvergänglicher Schaͤtze. 

So will ich nun mit Fleiß und Redlichkeit die mir von Dir, 
o himmliſcher Vater, verliehenen Krafte anwenden, um meinen 
irdiſchen Wohlſtand zum Beſten meiner und derer, für die ich zu 
ſorgen habe, zu vermehren. Denn auch mir haſt Du, Allgütiger, 
meinen Antheil zugeſichert an den herrlichen Gaben, mit welchen 
Deine reiche Vaterhand dieſe Erde ſchmückte. Ich ſoll ſie An⸗ 
dern ertheilen helfen. Gib Du meinen frommen Bemühungen 
Deinen Segen, und laß mich mit Mäßigung und Weisheit das⸗ 
jenige brauchen, was du mir zutheilteſt. 

Aber bei der Sorgfalt um mein irdiſches Wohl laß mich nie 
gleichgültig werden in der Sorge um das Ewige! Selbſt in der 
Erwerbung meines zeitlichen Vermögens ſoll ich in mannigfal⸗ 
tigen Tugenden mein Streben nach jenem unvergänglichen Heil 
offenbaren. Denn was ich hienieden empfangen, iſt Staub. Das 
Irdiſche alles bleibt im Irdiſchen einſt zurück; die Ewigkeit, 
Deine herrliche Geiſterwelt, fordert nur das Geiſtige; nur dies 
nehme ich mit mir hinüber. — O wie mancher Fürſt dieſer Welt, 
der dies vergeſſen, ſtirbt mitten unter Gold und Pracht und 
Schätzen, die er verlaſſen muß, als ein beklagenswerther Armer; 
wie mancher Bedürftige, deſſen Sterbetuch nichts als ein grobes 
Linnen iſt, ſtirbt als ein Reicher, wenn er ſeine Seele mit Tu⸗ 
genden ſchmückte; denn er iſt der beglückte Erbe des beſſern Les 
bens und eines erhabenern Looſes in der Ewigkeit! 


Be , 


| 38. 
Abnahme des häuslichen Wohlſtandes. 
f Phil. 4, 12. 


Schon lange wachten bange Sorgen 
In meiner Bruſt! 
Schon lange führte mir kein Morgen 
Zurück die ſonſt empfund'ne Luft. 


Ich ſehe meinen Wohlſtand ſinken, 
Mein Glück entflieh'n: N 
Und Armuth mir und Kummer winken, 
Und keine einz'ge Hoffnung blüh'n. 


Willſt Du mich, Gott, mein Gott, verlafien? 
Und ſoll ich denn 
Spott werden Derer, die mich haſſen? 
Gemieden von den Glücklichen? 


Ach, hätt' allein nur ich zu weinen — 
Ich trüg' es noch! 
Doch Armuth droht nun auch den Meinen — 
Dies macht zu ſchwer des Kummers Joch! 


Es iſt in unſern Tagen gar nichts Ungewoͤhnliches, die ange— 
ſehenſten Familien plötzlich in Verfall gerathen zu ſehen. Wie 
viele der reichſten Häuſer find gezwungen worden, ſich einzu⸗ 
fehränfen! Wie viele bemittelte Perſonen find in ihren Glücks⸗ 
umſtänden jo weit zurückgekommen, daß ihnen faſt nicht mehr 
blieb, womit ſie ſich und die Ihrigen ernähren konnten! 

| In der That, es ift für einen würdigen Hausvater ſchmerz⸗ 
voll, ſich einer dürftigen Lage preisgegeben zu ſehen, waͤhrend 
man vorher vieler Lebensannehmlichkeiten gewohnt geweſen. Es 
iſt ſchmerzvoll, oft in wenigen Tagen nun die ganze Frucht ſeines 
Lebensfleißes vernichtet, und was der Gewinn langer Arbeiten, 
vieler Sorgen, großen Kummers geweſen, ohne Rettung wieder 
verſchwunden zu ſehen. Es iſt noch ſchmerzvoller, wenn ſolch 
ein hartes Schickſal erſt in ſpätern Jahren eintritt, wo der unter- 
nehmende Muth fehlt, und eine mühſelige, arbeitvolle Jugend 
mit einem dürftigen Greiſenthum vergolten wird. Es iſt noch 
ſchmerzvoller, wenn mit der Abnahme des Vermögens zugleich 
| III. 15 


— 338 — 


die goldenen Hoffnungen abnehmen, welche man für ſeine Kinder 
hatte, für die man es ſich unendlich ſauer werden ließ. 

Mit dem Augenblick, da es bekannt wird, wie eine Familie 
in ihren Glücksumſtaͤnden zurückgekommen iſt, ändert ſich auch 
für ſie die ganze Welt umher. Die Menſchen, wie ſie nun ge— 
wöhnlich ſind, nehmen einen andern Ton gegen die Unglücklichen 
au. Zwar die edlern unter den Mitbürgern bleiben auch dann 
noch edeldenkend, und ſuchen mit zarter Schonung und Liebe das 
Schickſal der Leidenden zu mildern. Ihre alte Hochachtung ver- 
mindert ſich darum nicht, daß nun weniger Reichthum vorhanden 
iſt. Nun tritt der Dankbare freudig hervor, und ſucht würdig 
zu vergelten, was ihm einſt von den jetzt Geſunkenen Liebes ges 
ſchah. Nun tritt der hervor, welcher einſt, weil er gering war, 
überſehen ward mit feiner ſtillen Anhänglichfeit; er tritt hervor, 
um ſich als wahrer Freund zu zeigen. Aber hundert andere ehe⸗ 
malige Freunde wenden der verarmten Familie in gleicher Zeit 
den Rücken. Die, auf welche man am ſicherſten zählte, find jetzt 
am treuloſeſten. Die, gegen welche man ſonſt am uneigennützig⸗ 
ſten handelte, ſind jetzt die ſchnödeſten, und vermehren hartherzig 
das Uebel durch ihre Selbſtſucht. Andere, ehemals neidiſch, prah⸗ 
len jetzt ſchadenfroh, und freuen ſich heimlich oder laut des Un⸗ 
falls; bedauern vielleicht, daß er nicht noch größer iſt, und werfen 
giftige Pfeile aus mit ihrem verleumderiſchen, bühne Ge⸗ 
ſchwätz gegen die Geſunkenen. 

Nicht Jeder iſt ſtark genug, ſolch ein Verhaͤngniß mit chriſt⸗ 
licher Faſſung zu ertragen. Viele haben ſich in ſolchem troſtloſen 
Zuſtande der Verzweiflung zum Raube hingegeben. Andere haben 
den Reſt ihres Lebens kleinmüthig mit Gram und vergeblicher 
Sorge verbittert, ihre Geſundheit geſchwächt, und damit zum 
Nachtheil ihrer Angehörigen unmerklich ihr Leben verkürzt. 

Aber was iſt in ſo traurigen Fällen Weisheit, wenn man 
vor den Trümmern feines Vermögens daſteht, und ohne Ausſicht, 
jemals das Untergegangene wieder herſtellen zu können? Wo 
findet man die verlorne Heiterkeit wieder, wenn man die Sorge 
und Mühe eines ganzen Lebens vereitelt ſehen muß? Wie kann 
man wieder haͤuslich glücklich, zufrieden, ruhig werden, wenn 


„ 


man doch ſeine Kinder in einer mittelloſen Lage, und ſich ſelber 
auf allen Seiten zurückgeſetzt erblickt? — Nein, da iſt's ſchwer, 
da unmöglich, wieder des Lebens innig froh zu fein, wie ſonſt. 
Da hilft keine Weisheit der Weiſen als Troſt gegen Armuth und 
Verachtung; und die beſten Grundſätze werden wirkungslos, wenn 
man ſich aus der friedlichen Ruhe in den Sturm, aus dem Para- 
dies häuslichen Glücks ins Elend hinausgeſchleudert ſieht. 

Wie, kein Troſt? keine Rettung? Unmöglich ware die Wieder- 
herſtellung ehemaligen Friedens und der alten Heiterkeit? — 
Nein, du irrſt, Unglücklicher, weil die Sprache, welche du jetzt 
führſt, beweiſet, daß du noch nie weiſe geweſen biſt vorher. 
Du rühmteſt dich ſonſt einer Religion, aber du hatteſt noch keine 
Religion. Darum mußte das Unglück kommen, und das Trübjal 
mußte dich erſt in die Unterweiſung nehmen: es gebe noch etwas 
Höheres, als Geld, Gut und Anſehen! — Du warſt bisher noch 
kein Chriſt. Wäreſt du es von Herzen geweſen, würdeſt du heute 
mit jener Hoheit ſprechen können, in welcher Paulus zu den Phi⸗ 
lippern ſprach: Ich kann niedrig ſein und kann hoch ſeinz 
ich bin in allen Dingen und bei allen geſchickt, beides, 
ſatt ſein und hungern, übrig haben und Mangel leiden. 
(Phil, 4, 12.) 

Du, den der Verluſt deines Wohlſtandes ohne Unterlaß quält, 
Harmvoller, Kleinmüthiger, du warſt noch kein Chriſt, ungeachtet 
man dich in Kirchen beten ſah, und voller Ehrerbietung gegen 
Gott in deinen Geſprächen. Du warſt noch kein Chriſt, ungeachtet 
du dich ſelbſt oft und gern mit dem Regenten des Weltſchickſals 
in Andacht unterhalten konnteſt, und die Deinigen zu einem gott⸗ 
gefälligen Lebenswandel erzogſt und anhielteſt. Du warſt nicht, 
was du dir ſelbſt geſchienen haſt, weil du noch einen viel zu großen 
Werth auf äußere Glücksumſtände geſetzt haſt, als wenn ſonſt 
keine Zufriedenheit, keine innere Seligkeit des Gemüths gedenkbar 
ware. Wer nicht im Stande iſt, Alles zu verlieren, und doch 
dabei ſeine Heiterkeit und Seelengröße zu behalten, der war noch 
nicht in Jeſu Sinn und Geiſt eingedrungen. Es iſt gut, daß ihn 
das Schwerſte überfalle, damit er das Vergängliche nicht mehr 
hoher ſchätze, als das gefchägt werden muß, was vergänglich iſt. 


— 340 — 


Andere haben wohl mehr eingebüßt, als du, und ſind ſtärker, 
muthiger, Gott ergebener geblieben, als du in deinen Unfällen. 
Fürſten ſind von ihren Thronen gefallen, und haben in ruhm⸗ 
loſer Dunkelheit die Erhabenheit ihrer Denkart bewährt. — 
Herren und Große ſind aus ihren Paläſten getrieben und ge⸗ 
zwungen worden, ihr Daſein durch fremde Mildthaͤtigkeit zu 
friſten; in fremden Landen kümmerlich ihren Aufenthalt zu ſuchen; 
Verzicht zu thun auf Wohlleben, Glanz, Ruhm und Ueberfluß, 
wozu ihre Herkunft, ihr Rang, ihr erworbenes und reich ererbtes 
Vermögen ſie zu berechtigen ſchien. Aber mit hohem Sinn haben 
ſie getragen, was ſich nicht ändern ließ. Sie haben gelernt: es 
waltet über die Ordnungen der Welt eine unſichtbare, mächtige 
Hand, die den Reichen ſtürzt, den Armen begütert, die den Hohen 
in den Staub ſchleudert und den Niedrigen erhebt. 

Ich kann niedrig ſein und kann hoch ſein; ich bin in allen 
Dingen und bei allen geſchickt, beides, ſatt ſein und hungern, 
übrig haben und Mangel leiden! So ſpricht und denkt der Chriſt, 
erhaben über alle Spiele des irdiſchen Glücks, und beweiſet, was 
er denkt, im Thun ſeines Lebens. So geh' denn hin und werde 
desgleichen. 

Faſſe Muth. Gewöhne dich vor allen Dingen, deinem Un⸗ 
glück, es möge nun fern her drohen, oder ſchon vor dir ſtehen, 
zu allen Zeiten unerſchrocken in's finſtre Antlitz zu ſchauen. — 
Mache den Anfang damit, den Zuſtand deines zerrütte- 
ten Vermögens in allen Verhältniſſen zu erkennen, 
und zu erforfchen, was dir bleibt, wenn du Alles ver- 
lierſt und hingibſt, was nicht dein Eigenthum iſt. 

Es hat Viele in großes Verderben geſtürzt, daß ſie keinen 
Muth beſaßen, ſich mit ihrer wahren Lage zur rechten Zeit 
bekannt zu machen; daß fie immer über ihre Glücksumſtaͤnde im 
Dunkeln zu bleiben und ſich und Andere mit falſchen Hoffnungen 
zu täufchen ſuchten. Dies Schwanken verlängerte nur ihren qual⸗ 
vollen Zuſtand, ftatt ihn zu mindern. Sie verloren alle Heiter 
keit, und mußten doch in ihren Geberden eine ſolche vor Andern 
heucheln. Sie waren ſchon ſehr unglücklich und mußten doch auf 
Mitleid und Hilfe Verzicht thun. Sie griffen nach Rettungs- 


. 
mitteln umher, aber verſchlimmerten mit denſelben ihren Zuſtand, 
und riſſen andere, rechtſchaffene, unſchuldige Familien mehr oder 
weniger mit ſich in den Abgrund. 

Beſtelle dein Haus. Mache dich mit allem Schlim— 
men deiner Lage vertraut. Erſt wenn du weißt, wie weit es 
mit dir gekommen iſt, kannſt du mit Sicherheit wählen, wie 
größern Uebeln vorzubeugen wäre. Wie es aber auch um dich 
ſtehen möge: rette, wenn nichts mehr zu retten iſt, dein Gewiſſen, 
deine Ehrlichkeit! Dann iſt der Friede deines Gemüths geborgen 
für immer. Du darfſt muthig jedem Rechtſchaffenen in's Auge 
ſehen. Denn Unglück iſt kein Verbrechen, Armuth keine Schande. 
Du wirft die Achtung deiner Mitbürger behalten, und des Bei- 
falls Gottes ſicher ſein. Siehe, und wenn du nichts mehr haſt: 
dies wird dein Segen fein, welcher dir früher oder fpäter wieder 
empor hilft; dies der Segen, der deinen Kindern einſt wieder 
Wohlſtand bringt. 

Verzögere keinen Augenblick nach Erkenntniß dei- 
ner Umſtände, dein Hausweſen ihnen gemäß einzurich— 
ten. Laß den falſchen Stolz fahren. Noch nie iſt ein Menſch 
durch Wahrhaftigkeit und beſcheidenen Sinn elend geworden. Aber 
Stolz hat ſchon Manchen zum tiefſten Fall gebracht. Entferne ihn. 
Dann wirft du den Glückswechſel mit jener Seelengröße tragen, 
die über alle Unbill der Zeiten hinwegſchaut. — Im Schiffbruch 
geht der Verzagende am früheſten unter. Der Muthige bewahrt 
Beſonnenheit, und erhaſcht das ſchwimmende Brett, welches ihn 
im wilden Spiel der Wogen ans feſte Land führt. Wer mit Gott 
und Vorſehung iſt, den rettet Gott und Vorſehung. 

Schränke deinen bisherigen Aufwand mit weiſem 
Ernſt ein, angemeſſen deinen jetzigen Einkünften. Ver— 
banne die falſche Scham; denn nicht das einfachere Leben ſchmerzt 
dich ſo ſehr, als daß du durch deine Einſchränkungen die Lage 
deiner Umſtände verräthft. Aber habe den Muth, gerecht gegen 
dich und die Deinigen zu ſein; habe den Muth, ehrlich und wahr⸗ 
haft zu ſein. — Es iſt keine Schande, in Zeiten, wie die gegen⸗ 
wärtigen, Vieles zu entbehren, was ſonſt erfreuen konnte. Spar⸗ 
ſamkeit hat noch nie entehrt, vielmehr ſie erwirbt Achtung und 


— 8 


Zutrauen; ſie ſtellt das Zerrüttete wieder her. — Deine Vor⸗ 
fahren gewannen, weil ſie arbeitſam und enthaltſam zugleich ſein 
konnten. Ihre Einkünfte mußten ſteigen, da ihre Ausgaben ge⸗ 
ring blieben. Aber leichtſinnige Fortſetzung eines unverhältniß⸗ 
mäßigen Aufwandes in Geräth und Kleidern, Speiſen und Ge⸗ 
tränken, in Theilnehmung an koſtſpieligen Vergnügungen und 
Unternehmungen wird dich früher oder ſpaͤter mit gerechten Vor⸗ 
würfen deiner Hausgenoſſen, mit dem Unwillen deiner en 
mit der Verachtung deines Gewiſſens geißeln. 

Arbeite und entbehre! Dies ſind die Mittel, mit denen du 
dich wieder aufſchwingſt und von Anderer Hilfe unabhängig 
machſt. Das ehemalige Wohlleben, welchem du entſagſt, und 
dem du endlich in deinen Umſtänden doch einmal entſagen mußt, 
wird dir nie ſo innige Freude gewaͤhrt haben, als dir jetzt deine 
heldenmüthige Entſchloſſenheit bei kärglicher Koſt und einfachern 
Kleidern und Geräthen gibt. ö 

Rette, und wenn du Alles verlieren ſollſt, die Rein⸗ 
heit deines Gewiſſens, eine unbefleckte Redlichkeit! 
Dann haft du das Edelſte behalten, du haſt deinen eigenen beſ⸗ 
ſern Werth nicht verloren. 

O, es iſt etwas Großes um den Stolz eines unerſchrockenen, 
guten Bewußtſeins! Dies macht uns in der Niedrigkeit erhaben, 
im Trübſal heiter, in allen Verfolgungen des Glücks ſtark, und 
gibt in den ſchwerſten Lebensſtunden Zuverſicht auf Gott. Mit 
welchem Vertrauen darf der gewiſſenloſe Betrüger, der abſicht⸗ 
liche Verräther fremden Gutes fein Auge zu dem erheben, der 
Alles lenkt, der da gerecht richtet und keine Sünde ungeſtraft, 
keine Tugend unbelohnt läßt? — Rette die Reinheit deines Ge⸗ 
wiſſens, dann Chriſt, wirſt du Chriſti Worte verſtehen, als er 
ſprach: Was hülfe es dem Menſchen, und wenn er die ganze Welt 
(c durch Unredlichkeit) gewaͤnne, und Schaden litte an feiner Seele? 

Es kommt die Zeit, da fein Gewinn wieder zerfkiuben und fein 
Verbrechen an das Tageslicht treten muß. Was half ihm denn, 
daß er für einen Schatten das Letzte und Heiligſte geopfert on 
was nie ein Sterblicher veräußern darf! 

Rette die Reinheit deines Gewiſſens! Denne Unschuld 


— 343 — 


wird dich mitten im Unglück ehrwürdig machen; die Schadenfreude 
wird erröthen, die Verleumdung verſtummen müſſen. — Es wer- 
den Viele, die dich vormals nicht kannten, oder dich, waͤhrend 
du noch in beſſern Umſtänden lebteſt, wohl gar mißkannten, dich 
nun höher ſchätzen lernen. Sie werden für dich das Wort reden. 
Sie werden, unaufgefordert, von deiner Unſchuld, deiner Stand— 
haftigkeit bewegt, dir eine hilfreiche Hand zu bieten ſtolz ſein. 
Denn — o vergiß es nie! — man kann einen Mächtigen haſſen; 
man kann ſich zum Sturz eines Großen verſchwören; man kann 
den reichſten Thoren verachten; man kann die ſeltenſte Schön— 
heit unliebenswürdig finden — aber der Gerechte zwingt auch 
ſeinem Feinde Achtung ab, und die Unſchuld entwaffnet endlich 
den Grimm des Unverſöhnlichen. Gott und Vorſehung ſind mit 
ihm! Die Siege der Tugend ſind immer unzweifelhaft, und ſollten 
ſie erſt über dem Grabhügel des Verkannten vollendet werden. 

Es iſt etwas Gewöhnliches in unſerer Zeit, bald hie, bald da 
unter unſern Mitbürgern die Abnahme des häuslichen Wohl- 
ſtandes wahrzunehmen. — Aber noch gehört es zu den Selten— 
heiten, Männer zu ſehen, Chriſten, Chriſtinnen, die beim un— 
verſchuldeten Zertrümmern ihres Vermögens getroſt bleiben, und 
zu rechter Zeit die nöthigen Anſtalten treffen, daß kein Anderer 
durch ihr Unglück leide. Es gehört zu den Seltenheiten, 
Chriſten, Chriſtinnen zu ſehen, die ſich mit Gelaſſenheit vom 
Glück Alles rauben laſſen, was zu retten außer ihrer Gewalt 
liegt, aber hinwegblickend vom vergänglichen Staube, mit hoher 
Zuverſicht das Unvergaͤngliche halten; die mit Jeſu Chriſto, ihrem 
göttlichen Führer, in edler Weltentſagung Armuth, Schmach und 
Hohn tragen; mit Saulus ſagen können: ich kann niedrig ſein 
und kann hoch ſein, ich bin bei allen Dingen und in allen ge— 
ſchickt, beides, ſatt fein und hungern, übrig haben und Mangel 
leiden. Ich vermag Alles durch den, der mich mächtig 
macht, Chriſtum! 


— 344 — 


39. 


Vergangenes Leiden. 
Hebr. 10, 32. 


O Allmacht, Weisheit, Güte, 
Erquicke mein Gemüthe; 
Biſt Du nicht ſtets Dir gleich? 
Gewohnt die heißen Zähren 
Der Deinen zu erhören, 
Nicht unausſprechlich reich? 


Oft thuſt Du über Flehen, 
Mehr, als wir Menſchen ſehen, 
Und mehr, als wir verſteh'n; 
Und jetzt ſollt' ich vergebens 
Zum Vater meines Lebens, 

Zu meinem Heiland fleh'n? 


Nein, ich will Dich nicht verlaſſen, 
Im Glauben Dich umfaſſen, 
Als ſtändeſt Du vor mir. 
Ich weiß, Du hörſt mein Sehnen; 
Ich weiß es, meine Thränen 
Sind fchon gezählt vor Dir! 


O Gott! was wird noch aus uns werden? Welche Schickſale 
erwarten mich noch? Wie wird es noch in meiner Familie gehen? 
Wie werden wir überſtehen, was uns noch aus der Ferne be— 
droht? Wie manchen Verluſt könnte auch ich noch erleben? — 
ach, Verluſte, die viel herzzerreißender als alle ſchon gehabten 
wären! Ich wage es kaum, daran zu denken. Ich würde einer 
der unglücklichſten Sterblichen ſein. Könnte ich, wenn das 
Schrecklichſte für mich wahr werden ſollte, könnte ich es wohl 
ertragen? würde ich es überleben können? 

So frage ich mich, wenn ich an gewiſſe Umſtande in meiner 
häuslichen Lage, an das Schickſal mancher Perſonen denke, die 
meinem Herzen verwandt und theuer ſind. Ich ſuche Troſt; ich 
finde es nöthig, mir Faſſung zu verſchaffen, mich auf die bittern 
Hefen eines unbekannten Leidenkelches vorzubereiten, den mir 
die Zukunft darreichen könnte, damit ich ihn ausleere. Wohl kann 
man ſagen, und ich ſage zu mir ſelbſt: man muß ſich die Ge- 
danken an die traurigen Möglichkeiten aus dem Sinn ſchlagen. 


| 
| 
| 


u 


Aber es iſt nicht immer thunlich. Es ift oft wohlthaͤtig, den 
Blick auf die kommenden Tage hin zu neigen, und das Herz an 
den Empfang ſchwerer Schickſale zu gewöhnen. Wie ſoll ich ſie 
aber empfangen? Wo finde ich Troſt für das Traurigſte, das mich 
bedrohen mag? wo weiſe Kraft, das Schwerſte zu tragen? 
Du, o göttliches Wort, Wundermacht der Religion, ant⸗ 
worteſt dem fragenden bekümmerten Gemüth: Gedenket aber 
an die vorigen Tage, an welchen ihr erduldet habet 
einen großen Kampf des Leidens. (Hebr. 10, 32.) 

Der Rückblick auf vergangene Leiden alſo iſt es, was mir 
Muth, Weisheit und Standhaftigkeit gegen die allfaͤllig noch 
bevorſtehenden geben ſoll? Wie wäre dies möglich? Muß nicht 
die Erinnerung an das, was ich im Leben ſchon gelitten habe, 
mich muthloſer machen? Fühlt nicht mein Herz noch das Nach— 
bluten mancher halbgeheilten Wunde? O das Leben, welches 


ich gelebt habe, es hatte jo manche ſchreckliche Stunde, die ich 


gern aus meinem Gedaͤchtniſſe hinwegwiſchen möchte! Zwar auch 
viele heitere Sonnentage ſtrahlten auf meinem Lebenspfad; aber 
doch möchte ich ihn um den Preis nicht zurücklegen, daß ich zum 
zweiten Mal verlieren müßte, was ich ſchon dort verloren habe; 
daß ich zum zweiten Mal die Reue, den Verdruß, die Erniedri⸗ 
gung, die Todesſchrecken erfahren müßte, die ich ſchon erfahren 
habe. Lieber will ich mein Auge weiden an den verfloſſenen Zeiten, 
als an den geduldeten Schmerzen. Der Gedanke an ehemalige 
Seligkeiten wird mich wenigſtens erheitern. 

Gedenket aber an die vorigen Tage, an welchen ihr erduldet 
habet einen großen Kampf des Leidens! — Ernſte Gottesſtimme! 
Nicht vergebens rufſt du mir die Reihe der ſchwarzen Verhäng- 
niſſe zurück, unter denen ich oft alle Luſt und alle Hoffnungen 
verwelken ſah. In der That herrſcht in denſelben etwas Großes, 
Belehrendes. Auch bemerke ich eine wunderbare Verſchiedenheit 
zwiſchen den Freuden und Schmerzen, die mir noch bevorſtehen, 
und die ich ſchon genoſſen habe. 

Die angenehmen Ueberraſchungen des Glücks, die fröhlichen 
Zeiten, die für mich vielleicht noch im Schooſe der Zukunft lie⸗ 
gen, erwecken meine freudige Hoffnung, und ich fühle ſchon im 


— 346 — i 


Voraus ein dunkles Vergnügen an denſelben. Allein von ganz 
anderer Wirkung ſind auf mich die Erinnerungen längſt vergan⸗ 
gener Zeiten. Sie erfüllen mich mit leiſer Wehmuth. Es ſind 
verblichene Blumen, die hinter mir welkend zuſammenfielen. Ich 
frage, wo find die harmloſen Stunden der Liebe und Gefellig- 
keit? wo die Freunde meiner frühern Tage, mit denen ich zu⸗ 
weilen ſo glücklich war? Es iſt nicht mehr, wie ſonſt! Ach, ſo 
kommt es zu meiner trauernden Seele nicht wieder zurück. Hin⸗ 
gegen alle überwundenen Leiden der Vergangenheit, weit entfernt, 
daß ſie mich heute noch ſchrecken und quälen ſollten, erfüllen 
mich mit einer unnennbaren Zufriedenheit. Die Erinnerung an 
überwundene Gefahren iſt eben ſo angenehm, als der Gedanke 
an noch zu beſtehende peinigend iſt. Wer erzaͤhlt nicht gern und 
mit unverhehltem Vergnügen von den erlebten böſen Tagen; von 
Zeiten, da man ſich in der größten Noth befand? Dieſes ſonder⸗ 
bare Vergnügen entſpringt theils aus dem Gefühl der Sicherheit, 
in welcher wir uns jetzt befinden, theils aus dem ſtillen Wohl⸗ 
gefallen an unſerer Geiſtesgegenwart, an der Entſchloſſenheit und 
Kraft, die wir damals bewieſen, als wir uns in Trübſal befan⸗ 
den, und uns aus der verzweiflungsvollen Lage herausriſſen. 
Wir verkennen dabei auch gar nicht, wenn wir nur einigermaßen 
aufmerkſam auf uns ſind, daß wirklich Noth und Gefahr uns 
mehr genützt haben, als die allerfröhlichſten Tage. Unglück machte 
uns entſchloſſener, ſelbſtverſchuldetes Uebel machte uns vorſich⸗ 
tiger und behutſamer; Noth lehrte uns erſt unſere Krafte kennen; 
Gefahr gab uns erſt Herzhaftigkeit und Geiſtesgegenwart. So 
haben wir von unſern böſeſten Zeiten vielleicht die ſegensvollſte 
Aernte für uns gemacht, während die heiterſten Lebensaugenblicke 
in uns nichts als eine ſtille Wehmuth und unfruchtbare Sehn— 
ſucht zurückließen. Ohne in frühern Zeiten durch manche Wider— 
wärtigfeiten geprüft und geübt zu fein, hätten wir uns viel⸗ 
leicht nie zu dem entwickelt, was wir jetzt find; wären wir mit 
Geiſt und Herz nicht das geworden, deſſen wir uns gegenwaͤrtig 
erfreuen koͤnnen. Wohlleben erſchlaffte und laͤhmte unſere beſſern 
Eigenſchaften; aber der Kampf des Leidens gab uns Staͤrke, die 
Finſterniß draußen erfüllte unſer Inneres mit Licht. 


u. U 


Alſo iſt der Gedanke an vergangenes Leiden noch jetzt über 
uns wohlthuend, ſogar in manchen Fallen vergnügend; gewiß aber 
iſt er lehrreicher und auf das Gemüth heilſamer wirkend, als der 
Gedanke an die noch bevorſtehenden Uebel. 

Gedenket aber an die vergangenen Tage, an welchen ihr er⸗ 
duldet habet einen großen Kampf des Leidens! Ja, ich will ihrer 
gedenken. Der Muth meiner Seele erhebt ſich in ihrer Erinne— 
rung, und ich erſtaune über die Macht und Weisheit in An- 
ordnung meiner Schickſale, daß ich mehr für mich aus den 
ſchmerzlichſten Erfahrungen Gutes gewonnen habe, als aus den 
allerangenehmſten Lebensgenüſſen. Den Leiden gab Gott ſüße 
Nachempfindungen, den Freuden aber einen mit Bitterkeit ver— 
miſchten Nachgeſchmack. 

Alle Unnannehmlichkeiten meiner vorigen Jahre waren ent- 

weder Folgen meiner eigenen Verſchuldungen, und dann dienten 
ſie mir zur Warnung, Lehre und Beſſerung; oder ſie waren von 
Gott geſandt, ohne mein Erwarten, ohne mein Verſchulden; 
dann mahnten ſie mich an den ewigen Unbeſtand der Dinge auf 
Erden, an die Hinfälligkeit jedes ſogenannten Glücks, und lehrten 
mich aufblicken zu dem, was ewig dauernd iſt. 
Und dies Letzte, ich möchte es mir nicht laͤugnen, iſt auch für 
mich eine der ſchönſten Wirkungen vergangener Leiden geweſen. 
Ohne frühe und tiefe Schmerzen hatte ich vielleicht niemals mit 
Inbrunſt dich, o Jeſusreligion, umarmt, an deren Bruſt allein 
ich wieder Troſt und Ruhe gefunden habe. 

Ich lerne aus dem Kampf des Leidens voriger Tage, daß 
Widerwärtigkeiten jeder Art eine Wohlthat für das 
Menſchengeſchlecht ſind; daß ſie am meiſten zur Erhebung 
und Veredlung unſers Geiſtes beitragen. Die Noth iſt die vor— 
trefflichſte Lehrerin der Sterblichen; ohne ſie wäre keine Kunſt, 
keine Wiſſenſchaft entdeckt. Das Unglück und die Hinfaͤlligkeit 
des Irdiſchen ſchwaͤcht deſſen verführeriſche Reize ſehr, und macht 
die Seele geneigt, etwas Höheres, Bleibenderes zu ſuchen — 
das heißt, ihrer wahren Beſtimmung nachzueilen. - 

Dienn wie viel tauſend Menſchen leben, die nur das Daſein 
empfangen zu haben ſcheinen, um im Schweiße des Angeſichts 


— 348 — 


ihr Brod zu verdienen, vom Morgen bis zum Abend zu ar⸗ 
beiten, zu ſchlafen und zu ſterben! Wenn ſie ihren Gaumen mit 
einem beſſern Biſſen reizen, ihren Leichnam mit feiner gewebten 
Tüchern bedecken, ihren Kindern eine größere Geldſumme hinter⸗ 
laſſen können, ſcheinen ſie den ganzen Zweck ihres Erdenlebens 
erreicht zu haben. Clender Zweck! Und doch würden ſie ſich zu 
keiner höhern Anſicht erheben, wenn der einförmige Gang ihres 
irdiſchen Treibens nicht durch Stürme unterbrochen würde. Aber 
da zerreißt ein Erdbeben ihre Güter; da lodert in Kriegsflammen 
ihre Hütte empor; da ſterben ihre Kinder, für die fie Schätze ſam⸗ 
nelten. Nun beten ſie — nun wird ihr bisheriger Lebenszweck 
ihnen ohne Bedeutung — nun fragen ſie: welche Güter ver⸗ 
nichtet kein ſchreckenvoller Zufall? welches Lebensglück zerftört 
kein Krieg? für wen müſſen wir ſammeln, wenn unſere Kinder 
noch frühere Todesbeuten ſind, als wir? Und die Religion, welche 
für fie bisher nur eine Ehren- und Gewohnheitsbeſchaͤftigung, 
eine Nebenſache geweſen, wird ihnen wichtiger! Ihr tiefgebeugter 
Geiſt erhebt ſich auf den Flügeln der Andacht aus dem Staube 
des Alltagslebens hinauf zum Unvergänglichen und Göttlichen. 
Sie waren bisher arbeitſame Laſtthiere, die von der Arbeit zur 
Krippe, von der Krippe zum Lager gingen; jetzt werden ſie erſt 
Menſchen, da ihnen das Erdenleben nicht mehr Genüge thut, 
und ſie eine andere Heimath, ein anderes hoͤheres Ziel ahnen, und 
das Unſterbliche in ihrer Bruſt die verlornen Rechte zurückfordert. 

Leiden find größere Wohlthaten für den Geiſt, als 
Glück und Ruhe. Man liebt, man gewöhnt ſich nur an das, 
was man lange hat. Aber der Unbeſtand des Irdiſchen muß noth— 
wendig unſer Vertrauen zu demſelben ſchwächen; wir hüten uns, 
dasjenige mit allzugroßer Liebe zu umfaſſen, wovon wir voraus 
wiſſen, daß es doch nicht unſer iſt und nicht unſer bleibt. Beim 
Wechſel des Glücks und des Unglücks wird die oft getäuſchte, 
von ſo vielen Freuden ſchmerzhaft losgeriſſene Seele in ſich ſelbſt 
zurückgedrängt. Sie fängt an, da fie ſich bisher nur in den Außen» 
dingen verlor, in ſich ſelbſt zu leben, und findet endlich eine Ruhe, 
eine bleibende Zufriedenheit, die ihr das betrügliche Schauſpiel 
des Alltagslebens nie gewaͤhren konnte. 


— 349 — 


Leiden ſind Wohlthat. Sie offenbaren uns Gott, zu dem ſie 
uns führen. Der Geſunde hält ſich bald für unſterblich; der 
Glückliche für allmächtig. Er würde ſeinen Sinn nicht ändern, 
wenn der angenehme Traum nicht mit Schrecken endete. Aber 
nun zittern ſeine Nerven von den Schmerzen einer Krankheit; 
nun ſieht er vom Siechbette herab die Gräber, deren eins ihn er- 
wartet; nun ſind mit ſeinem treuloſen Glücke auch die Schmeichler 
und Verehrer entronnen, und demüthig ſieht er hinauf zu denen, 
die er vorher im Uebermuth manchmal verachtete. Nun erkennt 
er, es ſei der Menſch ein ſchwaches Geſchöͤpf, und wie ſehr ſich 
auch der Sterbliche brüſte, nichts ſei in ſeiner Gewalt. Nur Gott 
herrſcht. Nur Gott iſt der Allmächtige, und jede Kreatur neben 
ihm Ohnmacht. Die Noth ſteigt. Menſchen helfen ſelten, und 
die da helfen können, empfangen nur von Gott die gehörige Lei⸗ 
tung und Kraft. Im Schiffbruch aller ſeiner Freuden lernt der 
zum erſten Mal beten, der noch nie gebetet hatte, und beugt ſich 
vor der höhern Gewalt. So offenbaren uns die Leiden den Aller⸗ 
höchſten, und führen uns zu ihm. 

Gern denke ich an meine kummervollen Tage zurück — in 
ihnen offenbarte ſich mir die gütige Vorſehung am 
hellſten; ſie brachten mich zu Gott. Denn war gleich oft 
die Noth ſo groß, daß ich glaubte, nun könne es in dieſer Welt 
nie wieder gut mit mir werden: ſo war doch Gottes Hilfe mir 
nicht mehr fern. Er winkte; die ſchwarzen Wetterwolken zertheil— 
ten ſich, und Alles ward anders. O wie oft iſt mir dies geſchehen! 
Es iſt gut, daß ich zurückſehe auf die vergangenen Widerwaͤrtig⸗ 
keiten, denn ſie machen meinen Muth groß für die zukünftigen. 
Ich lerne aus ihnen feſtere Zuverſicht zu dem rettenden Vater, 
der mir auch zukünftig nahe ſein, und eben dann helfen wird, 
wenn es zu meinem Wohl der vortheilhafteſte Augenblick iſt. 
Aus dem Strom meiner Vergangenheit ſchöpfe ich lindernden 
Balſam für die Wunde von heute, und Kraft für jedes noch auf 
mich wartende Ungemach. 

Auch habe ich in der Schule überſtandener Schmerzen noch 
für jede Zukunft die wichtige Wahrheit gelernt: daß dem Men⸗ 
ſchen kein größeres Uebel begegnet, als er Kraft hat zu 


— 350 — 


ertragen. Gott, der die Schickſale ordnet und die Kräfte ver⸗ 
theilt, hat mit unendlicher Weisheit jene gegen dieſe abgewogen. 
Wer nur dieſen Glauben feſthält, wer nur nicht kleinmüthig an 
ſich ſelbſt verzweifelt, nicht ſeine Zuverſicht auf den Herrn des 
Lebens verläßt: der kann unmöglich untergehen. Er kann das 
Schwerſte tragen. Auch der gewaltigſte Schmerz iſt zu beſtehen, 
denn er geht zuletzt in Betäubung über. Je größer, je empfind⸗ 
licher der Schmerz, deſto bälder eilt er vorbei. Nur erträgliche 
Leiden halten langere Zeit an. 

Dreierlei Uebel ſind für den Menſchen die bitterſten: wenn 

er nämlich die tiefen, entehrenden Folgen ſeiner Vergehungen 
duldet; oder wenn er ſieht, wie ſein bisheriger Wohlſtand immer 
abnimmt; oder wenn ihm der Tod die Lieblinge aus den Armen 
reißt. Aber eben dieſe Uebel find auch diejenigen, welche am 
meiſten zu feiner Gemüthsveredlung wirken, es wäre denn, daß 
er ganz zur Thierheit geſunken. In ſolchem Falle geht er mit 
Verzweiflung in den Abgrund nieder; die Religion hat keine 
Stimme für ihn, weil die Thierheit keinen Sinn für Religion 
hat. Das vernunftloſe Weſen krümmt ſich unter dem Schmerz, 
und ſtirbt. Böſe Folgen unſerer Vergehungen ſind Zuchtruthen 
in der Vaterhand Gottes. Wir tragen die Strafen nicht unver⸗ 
dient; aber nicht zu unſerm bleibenden Elend, ſondern zu unferen 
Beſſerung. Eben weil es Strafen ſind, verwunden ſie uns am 
tiefſten. Das Gewiſſen legt zu allen Unannehmlichkeiten noch 
die Dornen des Vorwurfs. Eben weil es Strafen ſind, veredeln 
ſie uns am meiſten: fie ſchaͤrfen unſere Vorſichtigkeit, ſie machen 
uns das Laſter verhaßt, und lenken uns der Tugend zu. Es iſt 
um Rettung unſerer unſterblichen Seelen, es iſt um den Genuß 
einer Ewigkeit, um das Aufſteigen aus dem Staube der Vollen⸗ 
dung zu thun. 

Abnahme unſers Wohlſtandes, eintretende Duͤrftigkeit iſt ein 
großes Uebel. Viele Bequemlichkeiten, in denen wir uns bisher 
gefielen, nehmen ein Ende. Wir müſſen uns manches Vergnügen 
verſagen, das bisher unſere Tage erheiterte. Wir ſehen voraus, 
daß wir bei Menſchen, die nur den Werth des Menſchen nach 
feiner Wohlhabenheit ſchatzen, viel an der vorigen Achtung und 


- 351 — 


Freundſchaft einbüßen, daß wir uns endlich ganz ſelbſt überlaſſen 
ſein werden. Aber eben dieſes Uebel iſt ein großes Mittel Gottes 
zu unſerer Erhebung und innern Beſeligung. Nun erſt, entkleidet 
von äußerlichem Schmuck, werden wir gewahr, was wir ſelbſt 
werth ſind. Nun erſt lernen wir die wahren und falſchen Güter 
des Lebens, ſo wie die wahren und falſchen Freunde kennen. 
Nun erſt halten wir feſter an Gott, da uns eine treuloſe Welt 
und ihr Glück verläßt, und ſaugen aus Kleinigkeiten Freuden, 
die wir vormals oft in der glänzendſten Fülle nicht fanden. Wir 
ſind ſchon durch den Augenblick edler geworden, da wir das ver— 
loren, was bisher unſere Kräfte einſchlaͤferte. Vernichteter Wohl- 
ſtand iſt eine zerbrochene Geiſtesfeſſel; die Seele ſchwingt ſich 
freier und achtungsvoller zu Dem auf, dem Alles gehört, und 
ſammelt ſich Schätze, die kein Roſt verzehrt, kein Dieb raubt, ſon— 
dern welche durch die Ewigkeit fortdauern. Verarmung an äußern 
Gütern wird der Anfang zum Sammeln innern Reichthums. Und 
der kann wohl eine Welt vergeſſen, der einen Gott gewonnen hat. 

Das Abſterben eines treuen Freundes, einer zaͤrtlichen Freun— 
din, eines geliebten Kindes, oder hochverehrter Aeltern, iſt ein 
zermalmender Donnerſchlag, der uns betäubt, entkraͤftet, und in 
unſerer Denkart irre macht. Ein treues, geliebtes Herz verloren, 
Alles verloren! Das Leben wird zur Einöde. Ach, wie gern 
hätten wir Armuth und Schmerz übernommen, wenn der Tod 
uns um dieſen Preis die ſchöne Beute zurückgegeben hätte, — 
Aber jener verwüſtende, lähmende Wetterſtrahl durchs Leben, er 
iſt die höͤchſte Wohlthat. In feinen Flammen ſteht geſchrieben: 
Gott iſt der Herr! Du biſt Staub! In ſeinem nachrollenden 
Donner tönt die Stimme: Du bleibſt nicht auf der Erde — hier darf 
nichts weilen! — Alles eilt davon, zur Ewigkeit! zur Ewigkeit! 

Wer nie einen geliebten Todten zu beweinen hatte, der hat 
auch nie das Glück der Unſterblichkeit tief gefühlt, und nie die 
Seligkeit ſeiner Menſchenwürde erkannt in ihrer ganzen Größe. 
In allem, was Gott thut, iſt Erhabenheit; ſelbſt in den Zügen 
eines geliebten entſeelten Leichnams liegt unausſprechliche Maje⸗ 
ſtät, die uns predigt: Ich bin des Schöpfers! Ich bin ein ver- 


— 352 — 


laſſenes Haus; mein edler Bewohner lebt in ſeligern Welten. Er 
kennt dich noch; er liebt dich noch; er winkt dir aus den Fernen! 

Jeder unſerer verſtorbenen Geliebten zieht unſer Herz mit 
feſten, zarten, unſichtbaren Banden an die Ewigkeit; und das 
Wort, welches uns oft ſonſt gleichgültig am Ohr vorübergau⸗ 
kelte, wird von nun an bedeutungsvoller: Wir ſind unſterblich, 
darum iſt auf Erden kein wahres Leiden, als die Unvollkommen⸗ 
heit und Sünde. Wir ſind unſterblich, darum ſollen wir nicht 
weinen um vergängliche Dinge. Wer wird auch um Träume 
weinen! Aber Ehre, Wohlſtand, Gewalt, Armuth, Verachtung, 
Krankheit, ja das Leben ſelbſt iſt nur ein bildervoller, flüchtiger 
Traum. | | 

Im Tode unſerer Geliebten fühlen wir vielleicht den tiefſten 
Schmerz, aber auch die höchſte Wonne, deren der Menſchengeiſt 
fähig iſt — unſer Einsſein mit Gott, unſere Verwandtſchaft mit 
dem Jenſeits, unſer Bürgerthum mit dem Ewigen. 

Schweigend und ernſt werfe ich den Blick auf den Kampf 
des Leidens, welchen ich in vorigen Tagen gekämpft habe. Nicht 
immer dachte ich erhaben genug, daraus die größten Vortheile zu 
ziehen. Wenn ich oft ſchon viel verloren hatte, warum behielten 
die vergänglichen Güter des Lebens noch immer jo übermäßigen 
Werth für mich? Warum hing ich mich an ſie, als könnten ſie 
mir genommen werden? Warum jagte ich doch immer wieder mit 
ſo heißer Begierde nach Ehre, nach Vermögen, nach Vorzügen 
vor Andern im bürgerlichen Leben, da ich weiß, wie wenig dazu 
gehört, um deſſen Alles verluſtig zu ſein? Warum verzage ich 
noch zuweilen ſo ſehr, wenn mich Sorgen der Noth umringen, 
da ich doch weiß, daß Gott, mein Vater, mir jedesmal geholfen 
hat, und mir ferner helfen wird? Warum falle ich doch noch ſo 
oft in den alten Fehler zurück, da ich weiß, wie viele Leiden mir 
daraus ſtrafend zugewachſen ſind? Warum zittere ich, bleich und 
troſtlos, wenn ich denke, daß mir vielleicht eine meinem Herzen 
theure Seele unvermuthet durch den Tod entführt werden könnte? 

War denn die Leidensſchule ſo ganz vergebens, durch die du 
mich, o gütige Vorſehung, geführt haſt? Wo iſt denn die hohe 
Gleichmüthigkeit des Chriſten, welche ich gegen den Wechſel des 


mn — 


— 3353 — 


Glucks haben ſollte? Und doch empfing ich fo ernſte Lehren von 
dir, o Schickſal! — Wie ſteht es denn mit der weiſen Behand⸗ 
lung meiner Gegenwart, da ich durch vergangene Noth endlich 
genug gewitzigt ſein ſollte? Wo iſt denn meine Ruhe wegen der 
Zukunft, da hundert traurige und frohe Erfahrungen, mir Zus 
verſicht auf Dich, o Vater, o Weltregierer, hätten einflößen 
ſollen? Ich will mich in die Stille der Einſamkeit begeben; ich 
will mich meiner vergangenen Tage und Trübſale erinnern; ſie 
ſtehen wie warnende, liebende Engel hinter mir in der Ferne, und 
rufen: Wir kamen; Gott ſandte uns zu dir, dich Weisheit zu 
lehren; wir gingen, du haſt uns vergeſſen. Unglücklicher, wenn 


wir vergebens auf Erden gelebt! — Wir ſagten dir, es iſt im 


weiten Weltenreich kein Herr, als Gott, der Heilige, der Liebende; 
kein Unglück als das Laſter; keine Ehre, als Seelengröße; kein 
Reichthum, als Gemüthsvollkommenheit; kein Unſterbliches, als 
der Geiſt; kein Leben, als die Ewigkeit. — Aber du wandelſt 
und ſorgeſt, als regierteſt du die Schickſale mit eigener Kraft, und 
feſſelſt dich an das Zeitliche an, als wäre es ein ewiges Geſchenk. 

Die Stimmen vergangener Trübſale, Vater im Himmel, ſollen 
mir nicht vergebens rufen; denn Du gabſt ſie mir, nicht mich zu 
quälen, ſondern zur Wohlthat. Jedes Unglück, welches mir be⸗ 
gegnet iſt, und noch begegnen wird, iſt ein ernſter Bote von Dir, 
der mich zu Dir mahnt; jeder Verluſt im Irdiſchen ein Wink zum 
Gewinn der beſſern Schätze; jeder Todesfall eine feierliche An⸗ 
kündigung der Ewigkeit, in der auch meine Stelle bereitet iſt. 

O mein Gott, Du Gnadenreicher, der Du auch in das, was 
ich Leiden nenne, einen Segen für mich legſt, endlich werde ich 
mich ermannen, durch Jeſum Chriſtum Dein zu fein! — O wenn 
meine Kraft fehlen will, Vater, erhebe mich. Amen. 


40. f 
un verſchuldetes Leiden. 
Hebr. 12, 11. 


Was mir noth thut auf der Reiſe 
Durch die Welt, N 
Was mir fehlt, 

Weiß er, der Allweiſe. 
Sollt' er meiner je vergeſſen? 
Er mein Heil, 

Hat mein Theil 

Längſt mir zugemeſſen. 


Nährt den Vogel in den Lüften 
Nicht der Herr? 5 
Weidet er 

Nicht das Thier auf Triften? 
Kleidet er des Graſes Blume 
Nicht mit Pracht, 

Seiner Macht, 

Seiner Huld zum Ruhme? 


Rur auf mich ſollt' er nicht achten? 
In der Noth N 
Ließe Gott 
Hilflos mich verſchmachten? 
Ich bin ſein; mir ſoll en grauen! 
Väterlich 
Liebt Gott mich, 

i par wil ich vertrauen. 


Wenn das arme Menſchenherz hoffnungslos leiden muß — 
wenn es Alles einbüßen muß, was ihm durch langen Beſitz theuer 
geworden war, Alles, was ihm das Leben auf Erden verſüßen 
konnte: ſollte es dann nicht trauern? — Wer gebietet im durch- 
dringenden Schmerz feinem Auge, daß es die Thraͤnen zurück- 
halte, oder der friſchen Wunde, daß ſie nicht blute? Euer Troſt, 
ihr Glücklichen, iſt dem Unglücklichen vergebens. Ach, ihr gebet 
nur Worte. Ihr habet den mitleidigen Verſtand, aber der Tief— 
betrübte hat das blutende Herz. Gebet ihm nicht Worte, ach, 
gebet ihm ſein altes verlorenes Glück wieder, und dann könnte 
er euch danken, denn ihr hättet ihn wahrhaft getröͤſtet. 

Iſt es nicht Gott ſelbſt, der uns allen gleiches Recht zum 
Genuß der wenigen Lebensfreuden gab? Warum müſſen Tauſende 


— 3833 — 


froh fein können, während ich allein unter Tauſenden in meiner 
Bruſt den Gram und die Sorge beherberge? Der Aublick deſſen, 
was ihr Glücklichen beſitzet, kann nur meinen Kummer um das 


vermehren, was ich verloren habe. Oder verdiente ich denn 


weniger, beglückt zu fein, als ihr, als Tauſende? War ich laſter⸗ 
hafter, als Tauſende neben mir? Hat Gott nicht uns ſelbſt das 
Herz, dieſes für jede Lebensluſt empfängliche Herz, in die Bruſt 
gelegt? Warum muß ich für das empfänglich ſein, was zuletzt 
mein Elend werden ſoll? Warum muß ich mich mit Liebe an das 
hangen, was ich beſtimmt bin, ſchmerzlich zu verlieren? Warum 
dies Gefühl für alles Gute und Schöne, wenn es nur geweckt 
wird, um für mich eine neue Quelle des Grams zu werden? 
Wäre mir nicht wohler, wenn ich unempfindlich wäre, wie ein 
Felſenſtein? Da würde ich freilich viele Freuden nicht empfinden, 
aber ich würde ſie nicht entbehren, weil ſie mir ganz unbekannt 


blieben; hingegen würde ich auch dafür von allen Leiden befreit 


bleiben. 

Iſt nicht das Gefühl von gebensluſt das ae, was bei dem 
Kinde wach wird? Es reift und wächſt, und bildet ſich aus mit 
den wachſenden Jahren des Kindes. Es iſt weit eher vorhanden 
in feiner ganzen Starke, als alle Einſicht, Erfahrung und Ver— 
nunftüberlegung. Es wird dem Menſchen zum Bedürfniß, und 
wenn es das geworden, dann fordert ihr, man ſolle ſich wieder 
davon entwöhnen? Warum muß ich das grauſam verlieren, was 
der Schöpfer mich erſt lieben lehrte? 

Ihr wollet den Leidenden tröften, Er kennt eure Troſtgründe; 
boch beruhigen ſie ihn nicht. Hat er ſein Glück durch eigene Schuld 
verloren, wohlan, jo möge er ſich abfinden mit ſich ſelber, und 
ſprechen: ich habe Niemanden Vorwürfe zu machen, als mir 
ſelbſt. Allein, wie wird es, wenn wir ohne unſer Zuthun das⸗ 
jenige einbüßen müſſen, was das Glück unſers Lebens aus⸗ 


machte? — wenn heilloſe Böſewichte den Frieden unſers haͤus⸗ 


lichen Wohlſeins zerſtören? — wenn des Krieges Gräßlichkeit 
unſer Vermögen vernichtet, allen Fleiß vergangener Jahre um⸗ 


ſonſt macht, uns in Bettler verwandelt, in Wittwen und Wai⸗ 


ſen? — wenn allgemeine Umwälzungen der Dinge uns Stand, 


— 356 — 


Beruf und Nahrung rauben? — wenn die Hand des Todes uns 
dasjenige geliebte Herz am erſten entreißt, an welchem wir am 
zaͤrtlichſten hingen? — wenn ſchlechtdenkende Menſchen durch 
Spott und Verleumdung uns aus der Achtung unſerer beſſern 
Mitbürger und Lebensgenoſſen verdrängen? — wenn uns Mancher⸗ 
lei niederdrückt und zu Boden reißt, was das Auge keines Sterb⸗ 
lichen vorausſehen konnte? 

Halt ein, Unglücklicher! — Dein Schmerz kann groß, kann 
gerecht ſein; aber ſeine Klagen ſind weder groß noch gerecht. Der 
Schmerz iſt, wie die Freude, eine Frucht der irdiſchen Natur 
deines Weſens, aber das Urtheil darüber ſoll eine Frucht deines 
darüber erhabenen Geiſtes ſein. Du kannſt nicht dem Auge die 
Thräne, der Wunde nicht das Blut verbieten; doch aber deinem 
Geiſte, nicht ſeiner ſelbſt unwürdig zu werden, und dieſem 
Schmerze ganz zu unterliegen. Darin beſteht die Kraft eines 
weiſen Gemüthes, daß es zuerſt bedenke, wie das Geſchehene 
nun einmal geſchehen und nicht mehr zu ändern iſt, — ſo wollte 
es Gott! — dann, daß es bedenke, wie aus dem großen Unglück 
noch ein größeres Gute zu gewinnen ſei; denn vergebens hat die 
Vorſehung nicht über uns verhängt, was geſchah. 

Biſt du aber ſo ganz und gar in dein bloß irdiſches, halb⸗ 
thieriſches Sein verſunken, daß du dich nicht als ein Gottmenſch 
zu höhern Geſinnungen erheben kannſt: ſo verdienſt du in der 
Fülle deines Jammers unterzuſinken, wie das Thier, welches 
ſich nicht über den Schmerz durch Seelenſtärke emporſchwingen 
kann. Du beſtimmſt dich ſelbſt, noch elender zu werden, als du 
durch dein äußeres Schickſal geworden biſt; denn du beraubſt dich 
ſelbſt der Fahigkeit, aus dem Unglücke, fo dich traf, das bleibende 
Glück zu ziehen, wie aus der bittern Schale den ſüßen Kern. 
Alle Züchtigung, wenn ſie da iſt, dünkt ſie uns nicht Freude, 
ſondern Traurigkeit zu ſein; aber darnach wird ſie geben eine 
friedſame Frucht der Gerechtigkeit denen, die dadurch geübt ſind. 
(Hebr. 12, 11.) 

Wer in keinem Andern Troſt finden will, als darin, daß er 
fein altes, verlornes Glück zurück erhalte, gibt damit zu erkennen, 
ſeine Weisheit ſei höher, als die Weisheit der Vorſehung; denn 


ne 


dieſe war es, welche ihm, was er hatte, nahm, um ihn in ſchau⸗ 
derhaften Stunden, darin ſein irdiſches Glück zertrümmern mußte, 
von dieſem Leben ab und hinauf zu einem höhern Leben zu ziehen. 
Sie war es, welche ihn in ſchrecklichen Augenblicken lehren wollte, 
was der Menſch und alles Menſchliche ſei, um ihn feſter an Gott 
und das Göttliche zu ziehen. Sie war es, welche ihm das Glück 
und Unglück und das ganze Spiel des Erdenlebens zum ſeelen⸗ 
belehrenden Traum machen wollte, um ihn auf einen höhern 
Standpunkt zu heben, von welchem aus er die Nichtigkeit alles 
deſſen, was unter dem Monde wohnt, beſſer beurtheilen könnte, 
damit fein Geiſt ſich weiſer dem weihe, was unvergänglich iſt, 
wie er ſelbſt. 

Jedem auf Erden gab Gott das Recht der Freude; er gab es 
auch dem kleinſten Gewürme, deſſen Lebenslauf nicht länger als 
vom Sonnenaufgang bis zum Abend dauert. Und wem er das 
Recht verlieh, dem gab er auch den Genuß. Doch zum Licht ges 
ſellte die göttliche Weisheit auch den Schatten, und zu jeder Freude 
auch den Schmerz, damit der Sterbliche ſich immerdar erinnere, 
daß nicht die vorübergehende Erdenfreude das höchite Lebensziel 
ſei, ſondern daß es auch etwas Höheres gebe. Licht und Schat- 
ten, Freude und Schmerz wurde aber mit der wunderbarſten Ge» 
rechtigkeit und Genauigkeit unter den Menſchen vertheilt, alſo 
daß jeder davon gleichviel empfing. Es iſt daher ſchwer zu ſagen, 
wer glücklicher oder unglücklicher von uns ſei. Wer am reizbar⸗ 
ſten für die Freude iſt, der fühlt auch den Schmerz tiefer. Der 
Unempfindſamere wird von der Luſt, aber auch von der Unluſt 
weniger ergriffen. Was dem Einen viel werth iſt, ihn entzücken 
kann, läßt den Andern ganz gleichgültig. Darum ſoll man 
ſchlechterdings nicht die Glückſeligkeit der Menſchen nach bloßen 
Außendingen berechnen, wenn man nicht in großen Irrthum 
gerathen will. Was zuweilen Einer am Andern beneidet, iſt oft 
dem, der es beſitzt, eine wahre Laſt und die Quelle alles Leidens. 

Nur der ächte Weiſe, der wahre Chriſt iſt im Genuſſe einer 
hoͤhern innern Glückſeligkeit, als andere Menſchen. Er iſt es in⸗ 
zwiſchen nicht ſo ſehr durch äußerliche Güter, die ihm zu Theil 
werden, als vielmehr durch die richtigere Anſicht ihres Werthes, 


— 358 — 


und daß er ſie nie zur Grundlage ſeiner Zufriedenheit macht. 
Wer ſchon durch ſein Temperament verhindert wird, das ihm 
widerfahrne Unglück allzuſchmerzlich zu fühlen, hat freilich hierin 
einen Vorzug vor dem Gefühlvollern, den das gleiche Unglück 
faſt untröſtlich macht. Dieſer Vorzug aber wird von der andern 
Seite dadurch wieder aufgehoben, daß eben jener Unempfindliche 
weniger beglückt durch die Freude wird. Je tiefer du dich alſo 
gebeugt fühlſt, je ſicherer erwarte deine Wiedererhebung durch 
die Macht der Vorſehung. Je inniger, je herzzerreißender dein 
Schmerz, je innigere, ſeelenvollere Freude erwartet dich. 

Gott gab dir das empfänglichere Herz, aber nicht für die 
Lebensluſt allein; auch für die Noth des Daſeins ſollteſt du es 
haben, damit dein Geiſt um fo ftärfere Schnellkraft dadurch er⸗ 
hielte. Wer eines ruhigen, minder reizbaren Temperaments iſt, 
der iſt im Glück und Unglück leichter der Beſonnenheit faͤhig. 
Wer von ſeinen Empfindungen allzulebhaft hingeriſſen wird, 
bedarf größern Zwanges, ſich über die Macht derſelben zu ers 
heben; aber kann er es, dann genießt er auch einer tiefern Fülle 
wahrer Seligkeit. 

Allerdings iſt der Hang nach Lebensluſt und Wohlſein ſchon 
dem Kinde verliehen. Dieſer Hang reift und wächſt mit dem Kinde 
auf; das Streben nach Glück wird dem Menſchen Bedürfniß. 
Du fragſt: warum müſſen wir das wieder verlieren lernen, was 
der Schöpfer uns erſt lieben lehrte? — Aber lehrte er nicht auch 
ſchon den Säugling in der Wiege verlieren, was derſelbe liebt? 
Hat das Kind nicht feine Thränen, wie der Greis? Iſt das längſte, 
wie das kürzeſte Leben von der Wiege bis zum Sarge nicht ein 
fortwährender Unterricht in der ewigen Wahrheit: daß auf Erden 
keine Luſt, aber auch kein Schmerz von beſtändiger Dauer ſei? — 
daß wir zwiſchen beiden dahin wandern, um aus ihrem Wechſel 
fie belde gering achten zu lernen? — daß wir, indem uns end⸗ 
lich beide keine wahre Genugthuung ſchaffen, auf den Gedanken 
hingelenkt werden: es müſſe der Geiſt für ganz andere Dinge ge— 
boren ſein, als für das wandelbare Spiel irdiſcher Zufaͤlle, und 
die wahre Glückſeligkeit muͤſſe in hoͤhern Genüſſen beſtehen, als 
in denen welche unſere Umgebungen auf der Erde gewähren? 


— 359 — 


Wo aber ſollen wir nun dieſe höhern Genuͤſſe, dieſe unzerſtör⸗ 
bare Heiterkeit und Ruhe des Gemüths aufſuchen, wenn ſie nicht 
aus unſern Umgebungen hervorgehen kann? Wir müſſen ſie end⸗ 
lich in uns ſelbſt, in unſern religiöfen Verhaltniſſen zum Weltall, 
zum Hierleben und zur Ewigkeit, zu Chriſtus, zum Vater im 
Himmel ſuchen. Wir müſſen fie in unſerer Ueberzeugung von 
der namenloſen Weisheit und auch namenloſen Güte Gottes fin⸗ 
den, der Alles führt; wir müſſen fie in der ſtrengen Vollziehung 
unſerer Lebenspflichten aller Art, in der Ausübung jeder Tugend 
finden, deren der Menſch fähig iſt. — Nur aus dem erhabenen 
Selbſtgefühl unſerer Unſchuld und Tugend mint die reinſte, die 
bleibendſte aller Glückſeligkeiten. 

Es iſt daher eine gröbliche Vertrrung des Verſtandes, wenn 
man geneigt iſt, ſich einzubilden, über ein Leiden, das man ſich 
durch eigene Schuld zugezogen, könne man ſich leichter troͤſten, 
als über ein unverſchuldetes. — Weißt du nicht, daß es kein 
ſchrecklicheres Uebel auf Erden gibt, als dasjenige, welches den 
Menſchen zwingt, gegen ſich ſelbſt mit Haß und Verachtung zu 
wüthen? 

Wer feine Geliebten durch den Tod, feine zeitlichen Glücks⸗ 
umftände durch Krieg und Stillſtand des Gewerbes, feine Ach— 
tung und Ehre durch menſchliche Bosheiten entriſſen ſieht, hat 
viel verloren, aber noch nicht die Achtung für ſich ſelbſt. Er 
empfindet dies, und einen heiligen Stolz in der Bruſt, ſein 
Schickſal unverdient zu tragen. Ihn erquickt die Thraͤne fremden 
Mitleids; er erkennt darin noch die Liebe Anderer, wenn gleich 
keine Hilfe. Seine Armuth, ſeine Verlaſſenheit wird gewiffer- 
maßen ihm um jo mehr zum Triumph, je weniger er ſolche Un— 
faͤlle ſich durch eigene Nachlaͤſſigkeit zugezogen hat. Er ſpricht 
in ſich mit Ruhe: das war Gottes Wille. — Alle Noth, wenn 
ſie da iſt, dünkt fie uns nicht Freude, ſondern Traurigkeit zu fein; 
aber darnach wird fie geben eine friedſame Frucht der Gerechtig- 
keit denen, die dadurch geübt find. (Hebr. 12, 11.) Der äußere 
Menſch kann durch das Unglück tief gebeugt werden; aber der 
innere Menſch wird nur ſtaͤrker aufgerichtet, höher, als er je vor⸗ 


„ 


her war; er hört endlich auf, vor dem Schickſal zu zittern. Er 
fühlt es: Gott iſt mit ihm! 

Wir pflegen wohl im gewöhnlichen Leben diejenige Perſon 
zaͤrtlicher zu bemitleiden, welche unverdiente Leiden duldet, und 
hingegen den weniger zu beklagen, der ſich ſein Unheil ſelbſt an⸗ 
gerichtet hat. Auch dies hat einen ſehr natürlichen Grund. Wir 
empfinden dort noch Liebe, wo hier ſich in das Mitleiden ſchon 
Verachtung und Vorwürfe miſchen. Wir ſind in unſern Urtheilen 
gern richterlich, und halten ein Leiden für gerecht, wo es uns als 
wohlverdiente Strafe erſcheint; hingegen jammert uns die Noth 
deſſen, der, wenn das Schickſal immer Lohn und Strafe wäre, 
was es doch nicht iſt, wohl ein beſſeres Loos verdient hätte. Doch 
wenn der Grad unſers Mitleidens ſich nach dem hoͤhern oder 
tiefern Grad des Unglücks der Nebenmenſchen richtete, würden 
wir denjenigen gewiß mehr beklagen, der unter ſelbſt verſchuldeten 
Leiden ſeufzt. Er iſt immer und immer der Unglücklichere! 

Denn ungerechnet ſein äußeres Leiden, quält ihn noch ein 
innerer Schmerz, jene Qual des böſen, wider ſich ſelbſt empörten 
Bewußtſeins, wovon der Unſchuldige nichts empfindet. Er hat 
draußen, was ihm theuer geweſen, verloren; aber nicht dies 
allein — er könnte es bei reinem Gewiſſen noch muthig ertragen — 
er hat ſeinen eigenen Werth, gleichſam ſein beſſeres Selbſt, ver⸗ 
loren. Dies iſt der tiefſte Schmerz. Er ſieht ſeine Leiden nicht 
als einen Triumph an, ſondern als eine Strafe eigener Schlech⸗ 
tigkeit; er kann keine Seelengröße zeigen, ſondern die Verachtung 
der Schmerzen kann er nur noch durch Frechheit und ſchamloſes 
Weſen erkünſteln. Doch dieſes Künſteln iſt ein bitterer Zwang 
und ein neues Leiden. In jedem Mitmenſchen, von welchem er 
muthmaßt, daß derſelbe von ſeinem Schickſale wiſſe, erblickt er 
auch einen Richter, der das gerecht und gut findet, was ihn zu 
Boden drückt; und wenn ihn auch ſeine Freunde bedauern, ihr 
Mitleiden, ihr Troſt iſt ohne Erquickung für ihn. Immer ruft 
es in ihm: ich habe mein Loos ſelbſt verſchuldet; ich könnte glück— 
licher fein, wäre ich beſſer geweſen. Sogar die Seelengüte, welche 
ſich in dem Mitſchmerz feiner Freunde äußert, muß ihm oft qual— 
voll werden, weil er nicht unterlaſſen kann, zu denken, daß ſie 


= 361 — 


beſſer find als er ſelbſt; oder daß fie eigentlich weniger fein aͤußeres 
Unglück, als ſeinen Verſtand und ſein Herz beklagen ſollten. 

Darum erhebe dich, o tiefgebeugte, leidende Seele; das ſei 
dein Stolz, daß das, was geſchah, nicht die Frucht eines Ver⸗ 
gehens war. Deine Noth iſt Gottes Werk; du konnteſt ſie nicht 
abwehren. So faſſe Muth, deine Noth wird auch Gottes Sache 
bleiben! Er iſt reich an Macht und Hilfe. Er wird dir Segen 
entſpringen laſſen aus dem, was du für die unverſiegbare Quelle 
von Gram hielteſt. 

Er will dich nicht verlaſſen noch verfäumen. Das wahre 
Gute hat er dir nie entzogen. Aber verlaſſe du jetzt Gott nicht, 
verſaͤume du ihn nicht. Halt’ an ihm, dann erſt wird er dich auf- 
recht halten mit ſtarkem Arm. Achte gering, was du im Irdi⸗ 
ſchen verloren; erſt dann wirſt du gewahr werden, wie viel dir 
des Guten noch in deinem Innern geblieben iſt. Der Tag, der 
ſchreckliche Tag deines Unglücks ſollte für dich der Anfang einer 
innern Verklärung werden. Denn das Irdiſche, das Vergäng— 
liche oder doch ein Theil deſſelben, das dir bisher nur allzulieb 
geweſen, fiel von dir ab, um dir zu zeigen, wie wenig dauerhaft 
Alles hienieden ſei. So wird in deiner letzten Lebensſtunde end- 
lich Alles von dir abfallen, um deine Verklärung zu vollenden. — 
Beginne ſie alſo jetzt, damit der Todesengel etwas zu vollenden 
finde. Heilige dein Gemüth in Redlichkeit, Wahrheit, Muth, 


Menſchenliebe und allen göttlichen Geſinnungen. Streife deine 


letzten Fehler von dir ab, die deine Verbeſſerung hindern. Wirſt 
du ein Gotteskind, dann wirſt du nicht untergehen, wenn der 
Allmächtige, der Herr des Himmels und der Erde, dein Vater 
ſein will. 

Und er iſt es! Und was wir Irdiſches einbüßen, vergilt er 
himmliſch unſerm unſterblichen Geiſte. Was iſt das ganze Leiden 
dieſer Zeit gegen die Herrlichkeit, die er uns bereitet hat in einem 
andern Leben? Dort findeſt du zwar das irdiſche Gut nicht wie- 
der, das dich hier verließ, aber einen neuen Reichthum ſeiner 
Gnade; und die Seelen, die du hienieden liebteſt, o, fie find un- 
ſterblich, wie du ſelbſt; ſie vereinigen ſich dort wieder liebend zu 
dir. Alles, was wir auf Erden hatten, geht verloren, aber die 

III. 16 


— 362 — 


uns theuern Geiſter finden wir dort wieder, wo der Geiſt der 
Geiſter wohnt. 


41. 
In der Gegenwart leben. 
g Matth. 6, 34. 


Sei froh des Tags, den Gottes Hand 
Dir reicht vom Lebensbaum. 
Was morgen kommt, iſt unbekannt; 
Was geſtern war, ein Traum. 


Iſt es nicht ſeltſam, daß von ſo vielen Lebenden nur wenige 
verſtehen, wirklich zu leben? Sie glauben zu leben, weil ſie 
wachen, ſchlafen, eſſen, trinken, reden, denken. Aber, genau be⸗ 
trachtet, leben ſie den geringſten Theil der Zeit, in der ſie da ſind, 
ſondern ſie haben gelebt, oder wollen noch leben. 
Wir leben freilich auch, wenn wir ſchlafen. Aber wir ſind 
uns im Schlafe deſſelben unbewußt. Wir ſind da gewiſſermaßen, 
als wären wir nicht. Man kann von demjenigen erſt ſagen, er 
lebe ganz, der, was da iſt, mit vollem Bewußtſein erkennt und 
genießt. i 

Wir leben nicht eigentlich mit dem Leibe, ſondern mit dem 
Geiſte, der den Körper beſeelt. So ſind wir im ſtrengen Sinn 
des Wortes auch nicht eigentlich an derjenigen Stelle, wo ſich 
der Leib befindet, ſondern da, wo unſer Geiſt iſt. Daher können 
wir dem Leibe nach in großer Geſellſchaft und dennoch abweſend 
ſein, nämlich mit dem Geiſte. Und wir ſagen mit Recht zu einem 
geliebten, von uns getrennten Freunde, ich bin faſt befinden a nur 
bei dir, und nie bei meinen Gejchäften. 

Wer den größten Theil ſeines Tages mit den Gedanken in 
der Zukunft lebt, ſich immer voraus mit dem beſchäftigt, was er 
in den nächſten Stunden thun will, oder was in den folgenden 
Tagen geſchehen wird, vergißt darüber wirklich den Augenblick 
der da iſt, und lebt zwar mit dem Leibe in ihm, aber nicht mit 
dem Geiſte. Für ihn iſt die Gegenwart wie verloren, wie gar 


— 363 — 


nicht vorhanden geweſen. So kann man, indem man darüber 
mit voller Aufmerkſamkeit nachdenkt, Ort und Umgebung ver⸗ 
geſſen, wo man ſich befindet. Man ſieht, man hört nichts um 
ſich her; die äußern Sinne find gleichſam verſchloſſen, wie vom 
Schlaf. | 

Es iſt nun freilich wohl als eine Erweiterung des Lebens an⸗ 
zuſehen, wenn man vermittelſt der Erinnerung oder Voraus⸗ 
ſehung ſowohl in der längſtverfloſſenen oder zukünftigen Zeit, 
wie in der Gegenwart leben kann. Dies iſt ein hoher Vorzug 
des Menſchen, und ein Beweis von der Erhabenheit der menſch— 
lichen Natur. Denn die Eiche, welche ein halbes Jahrtauſend 
lebt, weiß weder von der Vergangenheit, noch Zukunft, noch 
vom gegenwärtigen Augenblick. Sie lebt im Grunde gar nicht, 
wenn wir ihr Daſein mit dem bewußtſeinvollen des Menſchen 
vergleichen. Das Thier ſieht weder in die kommenden Tage hin⸗ 
aus, noch in die verſchwundenen zurück. Es genießt nur den 
kleinen, engen Augenblick des Gegenwärtigen, und mit dem 
Augenblick iſt, wie er verſchwindet, deſſen Daſein auf immer für 
das Thier vernichtet, als wäre er nie geweſen. Es lebt daher, 
auch wenn es hundert Jahre alt würde, eigentlich nur einen 
Augenblick. Für Pflanzen iſt das Daſein eine ewige Nacht; für 
Thiere ein ſchwach erleuchteter, geringer Punkt um daſſelbe, wo 
es ſich eben befindet; für den Menſchen ein ſonnenheller Tag, 
in welchem er überſieht, woher er auf ſeiner Straße kommt, und 
wohin er noch geht. 

Unterdeſſen kann doch, wie alles Gute, auch dieſer Vortheil 
der menſchlichen Natur gemißbraucht werden. Es kann geſchehen, 
daß wir mit dem Geiſte mehr im Vergangenen und Künftigen, 
als im Gegenwärtigen leben; daß wir darüber den beſten Theil 
des Lebens ſelbſt verlieren, ihn gar nicht haben. Denn das 
menſchliche Daſein beſteht aus einer langen Reihe gegenwärtiger 
Augenblicke. So viel wir derſelben über das vergeſſen, was war 
oder ſein wird, ſo viele haben wir nicht gehabt. Denn was wir 
nicht empfinden und genießen, das haben wir auch wirklich nicht. 

Nun aber leben in der That die meiſten Menſchen ſelten in 
der Zeit, die da iſt, ſondern mit ihren Planen, Wünſchen und 


— 364 — 


Sorgen, Hoffnungen und Gedanken in dem, was noch nicht iſt. 
Und ſind ſie endlich zu dem Tage, zu der Stunde gekommen, der 
ſie ſchon ſo lange entgegenſahen, haben ſie wieder neue Entwürfe 
und Beſorgniſſe für das Folgende, und vergeſſen darüber, was 
ſie ſo lange erwarteten. Die meiſten Leute ſind einem Spazier⸗ 
gaͤnger ähnlich, der ſich vornimmt, zu feiner Erheiterung eine 
angenehme Gegend zu darchwandern. Gleich anfangs denkt er, 
wie weit er gehen wolle, und beachtet bei ſeinen Ueberlegungen 
nicht, was beim Anfange des Weges ihn freundlich umringt. 
Er geht weiter, neugierig, zu wiſſen, was hinter einem Hügel 
ſein wird, der ihm die Ausſicht verdeckt; er kommt dahin, achtet 
aber nicht auf die neuen Umgebungen, ſondern auf einen Bach 
in der Ferne, den er fürchtet, nicht durchſchreiten zu können, weil 
er ohne Brücke iſt. Aber das Waſſer iſt nicht tief; darum macht 
ihm dies minder Sorge, als ein ſteiler Fußweg, der über eine 
Höhe ſchlüpfrig emporgeht. Sein Wunſch iſt, nur dort oben zu 
ſein. Nur dahin iſt ſein Auge gerichtet, nicht auf die liebliche 
Wildniß um ihn her. Er kommt zur Höhe, und muß in einen 
Wald treten, wo der Pfad nicht recht kennbar iſt. Sein einziger 
Gedanke wird: ware ich nur erſt durch das Gebüſch, damit ich 
mich nicht darin verirrte. Er durcheilt es mit ſchnellen Schritten, 
und ermüdet ſucht er nun den kürzeſten Heimweg zu ſeiner 
Wohnung. Er freut ſich voraus, wie er dort der Ruhe pflegen 
will. Darum bekümmert er ſich wenig um das, was rechts und 
links bleibt. Er iſt im Geiſte ſchon zu Haufe. Er kommt dahin, 
und findet Nachrichten, die ihn ſchon wieder um das bedacht 
machen, was er thun müſſe. So hat er einen Spaziergang voll— 
endet, ohne denſelben zu genießen. Es bleibt ihm nur eine ganz 
dunkle Erinnerung von den dort bemerkten Gegenſtänden. Er 
war niemals da, wo er war. 

Dieſes Leben außer der Gegenwart iſt eine wahre 
Geiſteskrankheit; es kann zur Gewohnheit, zur andern Natur 
werden. Als ein hoher Grad derſelben kann die Zerſtreutheit des 
Gelſtes angeſehen werden. Die meiſten Menſchen leiden an dieſer 
Krankheit, und verlieren über das Vorausſorgen für den Genuß 
des Lebens den Lebensgenuß. Sie leiden beſtändigen Hunger, 


weil fie das Eſſen vergeſſen über das, was fie eſſen wollen. Diefe 
Krankheit des Geiſtes raubt uns die reinſten Freuden, welche 
Gott uns darbietet, weil wir über ſie weg nach denen ſehen, die 
wir noch nicht haben. Sie vermindert auffallend die Summe 
unſers haͤuslichen Glückes, weil wir nie im vollen Maße und 
mit ganzer Seele bei den lieben Unſrigen ſind, und unbefangen 
ihre Freuden, und was eben die erſte Stunde Schönes bringt, 

mit ihnen theilen. Darum kann man wohl ſagen: Wirklich zu 
leben iſt eine Kunſt. 

Jeſus Chriſtus, dieſer göttliche und erhabene Lehrer der 
wahrſten Lebensweisheit, ließ dieſen großen Fehler vieler Sterb- 
lichen keineswegs unbeachtet. Er mahnte ſehr dazu, man ſolle 
in der Gegenwart leben lernen. Sorget, ſprach er, ſorget doch 
nicht für den andern Morgen; denn der morgende Tag wird für 
das Seinige ſorgen! (Matth. 6, 34.) Fürchtet doch nicht, welches 
Ungemach euch der künftige Tag bringen werde, und vermehret 
damit nicht das Ungemach, welches ihr allenfalls ſchon habet. 
Es iſt genug, daß ein jeglicher Tag ſeine eigene Plage habe. 

Gewiß, es iſt nicht unſere eigene Vortrefflichkeit, die uns den 
Genuß des Lebens verbittert, ſondern unſere Schwäche. Eben 
darum ſprach Jeſus wider die Sucht, das, was wir haben, weg⸗ 

zugeben für das, was wir nicht einmal wiſſen, ob wir es be⸗ 
kommen werden. Darum ſorget nicht für den andern Morgen; 
genießet den gegenwärtigen Augenblick, und vertauſchet nicht das 
Gewiſſe für das Ungewiſſe. 

Nie ſchmecken wir das Daſein in vollerm Maße, und die 
Gegenwart in ihrer ganzen Kraft ſo ſehr, als in unſern Jugend— 
tagen. Das Kind gehört ganz dem Eindruck und der Gabe der 
eben vorhandenen Stunde. Es bekümmert ſich um das Ver- 
gangene wenig, obwohl es auch daran denkt; betrübt ſich auch 
um eine verlorne Freude nicht ſtark, weil es vom anweſenden 
Augenblick Erſatz und Entſchädigung annimmt. „Glücklicher 
Leichtſinn!“ ſprechen die Bejahrten, wenn fie ſehen, wie das 
junge Herz den Schmerz vergißt, ſobald er vorbei iſt; „beneidens⸗ 
werther Frohmuth!“ rufen ſie, wenn ſie ſehen, wie das Kind 
ſich mit einer Kleinigkeit erheitert, und wenig um das harmt, was 


— 366 — 


noch nicht da iſt, und von dem die Bejahrten in ihrer Weisheit 
ſelbſt noch nicht wiſſen, ob und wann und wie es kommt. Er⸗ 
ſcheint dem Kinde aber die böſe Stunde, ſo zollt es ihr ſeine 
Thräne, um von der nachfolgenden wieder Troſt zu nehmen. 

Mit dem Aufwachen der Leidenſchaften verfliegt der Frohſinn 
der Jugend. Volle Heiterkeit des Gemüths iſt nur Geſellin der 
Unſchuld. Der Jüngling und die Jungfrau, auf der Grenze 
zwiſchen Kindheit und Männlichkeit, empfinden noch vom Glück. 
der erſten, aber auch von der Thorheit der andern. Sie wollen 
eigentlich für die Zukunft leben, aber ſie leben ſchon in der Zu⸗ 
kunft; bauen Plane, und denken, hoffen, fürchten, ſorgen, 
wünſchen, können die Zeit nicht erwarten, der ſie entgegenſehen, 
und vergeſſen, in vollen Zügen den Becher der Freude zu trinken, 
welchen ihnen der Morgen und der Frühling ihrer Lebenszeit 
darbietet. 

Man wird älter; das Sorgen iſt mit den Jahren zur Ge⸗ 
wohnheit geworden. Man hat nun auch für Andere zu denken. 
Die Verhältniſſe find mannigfaltiger geworden. Nun find andere 
Leidenſchaften da, nun die Unruhe des Ehrgeizes, die Begierde 
der Habſucht, die Qual des Neides, die Angſt vor Krankheit, 
der Kummer um das Alter. Man iſt mit den Gedanken ſchon 
immer da, wo man noch nicht iſt; und wo man iſt, findet man 
gar nicht das Angenehme, was die Einbildungskraft einſt davon 
vorgeſpieglt hatte. Fliegt der Geiſt nicht in die Zukunft hinaus, 
ſieht er gern wehmüthig in die verlebten Tage zurück, preiſet die 
glücklichen Zeiten einer zu früh verſchwundenen Jugend und den 
Verluſt geliebter Geſpielen. Er lebt überall, nur nicht in dem, 
was iſt; und die Jahre des Greiſenthums ſind da, ehe man der 
Tage männlicher Kraft recht gewahr geworden. | 

Der Greis nun beklagt die Flüchtigkeit des Lebens, die Hin⸗ 
fälligkeit des Menſchen. Alles, was er hatte, gleicht ihm einem 
dunkeln Traum; er weiß wenig davon. Aus ſiebenzig Jahren 
haben vielleicht kaum ſiebenzig Stunden einen lebhaften, deut— 
lichen Eindruck bei ihm hinterlaſſen, weil er in den übrigen 
wenig oder gar nicht ihnen ſelbſt, ſondern denen lebte, die noch 
nicht waren. Daher weiß er von ſeinen Tagen nichts Anderes 


m 


zu ſagen, als: fie waren voller Sorgen, und die meiſten derſelben 
ganz vergeblich. b 

Das iſt die Lebensgeſchichte der meiſten Sterblichen. Sind 
wir nicht zu bedauern? Iſt das nicht die Summe der Weisheit, 
froher und glücklicher Zeiten theilhaftig zu werden, wirklich zu 
leben, was in dem Lehrſpruche Jeſu liegt: Darum ſorget nicht 
für den andern Morgen, denn der morgende Tag wird für das 
Seine ſorgen! 114 

Viele Menſchen wiſſen von ihrem Leben gar nichts 
zu erzählen, aus dem natürlichen Grunde, weil ſie es 
nicht gelebt haben. Höchſtens wiſſen ſie noch von einzelnen 
Vorfällen zu ſagen, die ihnen lebhafter als andere im Gedächt⸗ 
niſſe blieben. Dieſe Vorfälle find nicht einmal immer die aller⸗ 
wichtigſten, ſondern oft an ſich ganz unbedeutend. Und doch 
denken ſie mit Vergnügen an dieſelben zurück; ſie ſind ſich ſolcher 
aber beſonders darum ſo deutlich bewußt, weil ſie damals mit 
vollem Bewußtſein und ohne alle Rückſicht auf Anderes dem 
damaligen Augenblicke gänzlich angehörten. Auch aus dieſer 
Urſache erinnern wir uns aus den Kinderjahren her mehrerer Er— 
eigniſſe und Sachen, als aus ſpätern Zeiten, weil wir in der 
Kindheit uns ausſchließlich der Gegenwart opferten. Von nach⸗ 
folgenden Zeiträumen im Jünglings- und Mannesalter haben 
nur diejenigen Begebenheiten, oft ſehr geringfügige, die hellſte 
Vorſtellung hinterlaſſen, wo wir mit ganzem Gemüthe zugegen 
waren, nicht bloß mit dem Körper und getheilter Aufmerkſamkeit. 

Weil nicht viele Leute die glücklich machende Kunſt kennen, 
das, was der Augenblick gibt, in allen Einzelnheiten zu ſchmecken: 
die Kunſt, bei dem mit dem Geiſte gegenwaͤrtig zu ſein, was 
gegenwärtig iſt: ſo geſchieht es, das wenige Leute die nützliche 
Eigenſchaft der Geiſtes gegenwart bei unerwarteten Ereigniſſen 
beſitzen. Gelehrte, und überhaupt Perſonen, die ſich mehr in der 
Einſamkeit und mit Gedanken beſchäftigen, weniger mit dem, was 
der Augenblick rings um ſie her ſtellt, gerathen daher in der 
wirklichen Welt am leichteſten in dieſe Verlegenheit; wiſſen ſich 
weder zu rathen, noch zu helfen, und thun oft das Gegentheil 
von dem, was ſie hätten thun müſſen. Perſonen hingegen, deren 


— 368 — 


volle Aufmerkſamkeit das Vorhandene anzieht, die immer für den 
Augenblick leben, in dem ſie ſind, zeigen oft von der Geiſtes⸗ 
gegenwart Wirkungen und Vortheile der bewunderungswürdig⸗ 
ſten Art. 

Es iſt wohl nicht leicht möglich, daß ein Menſch, der es 
verſteht, in der Gegenwart zu leben, und, was ſie Gutes hat, 
zu pflücken, von Langeweile gequält werde; nur dem wird die 
Zeit lang, der die Gegenwart verkennt, weil er weit mehr von 
der Zukunft hofft. Kinder haben ſelten Langeweile, weil eine 
geringfügige Sache groß genug iſt, fie zu befchäftigen. Eben fo 
der Weiſe; nicht weil er ſich Berechnungen und Träumen über- 
läßt, oder Hoffnungen und Beſorgniſſen, ſondern weil er in 
Allem, was er vor ſich ſieht und hört, noch etwas Vergnügendes 
und Belehrendes wahrnimmt. Der Weiſe ſchlürft den Becher 
des Lebens in langſamen Zügen tropfenweiſe aus, und wird da= 
von durchdrungen. Der gewöhnliche Menſch dürſtet immerfort, 
und ſtürzt dann den edeln Geiſtertrank ſtromweiſe hinunter, 
ſchmeckt ihn nicht, nene verſchlingt ihn zur Betäubung, nicht 
zur Sättigung. 

Es hat uns Gott das Gedächtniß gegeben zur Erweiterung 
des Lebensgenuſſes, nicht zur Verbitterung deſſelben; zur Nahrung 
der Weisheit, nicht der Thorheit. Allein der Sterbliche ſtrebt 
nur allzugern das Gegentheil zu verſuchen. Man tödtet die heutige 
Wonne mit dem ſchwermüthigen Grämen um die verſchwundene, 
und verliert das neu aufblühende Glück in der Sehnſucht nach 
dem verlornen. Die gute alte Zeit wird gerühmt, und die gute 
gegenwärtige Zeit nicht genoſſen. So beſtiehlt ſich der thörichte 
Sterbliche ſelber, und nimmt ſich, was er beſitzt, und gibt es an 
ſich ab, wo er nicht mehr iſt. 

Lebe für die Vergangenheit, nicht in der Vergangenheit. 
Willſt du für ſie leben, ſo mußt du in der Gegenwart ſo 
gegenwartig ſein, daß, wenn ſie vergangen iſt, du ihrer immer 
noch froh bleibſt. Nur wer die Gegenwart ganz zu genießen ver— 
ſteht, dem vergeht ſie nicht gänzlich! Lebe in der Gegenwart, und — 
mache fie zu einem Schatze für die Erinnerung. Kannſt du eine 
ſchöͤne That hineinlegen, fo lebt der Augenblick, welchen du da— 


Be 


mit ſchmückteſt, ewig, wenn auch nicht jederzeit in deinen Ge- 
danken, doch in ſeiner fruchtbringenden Wirkſamkeit auf deine und 
fremde Schickſale. 

Lebe für die Zukunft, aber nicht in der Zukunft. Bereite 
in der Gegenwart durch Sorgfalt und Vorſicht die Freude für 
die noch zu erwartenden Tage. Pflanze und ſaͤe in der Gegen— 
wart deine einſtigen Aernten. Du haſt die Freude des Pflanzens; 
ob du die Freude der Frucht haben wirſt, kann Niemand wiſſen. 
Für den Weiſen hat das Leben gar keinen Winter. Die gegen— 
wärtige Stunde iſt für ihn immer Frühling, in welchem er nütz⸗ 
liche Saaten ausſtreut, und zugleich immer Herbſt, wo ihm 
frühere Saaten reif werden. Er nimmt die Sorge, ſie nimmt 
ihn nicht. Jede Stunde hat ihr Süßes, ihr Bitteres; jeder Tag 
ſeine eigene Plage. Lerne denn, wie die Biene thut, die aus jeder 
Blume den Honig zu ſchöpfen weiß, aber das Gift darin zurück— 
läßt. Iſt der Tag vorbei, iſt auch ſeine Plage vorüber. Wie 
thöricht iſt es doch, fie durch Furcht ſchon aus der Zukunft auf 
den heutigen Tag zu bringen, und ſie durch beſtändiges Seufzen 
zu verlängern, wenn ſie ſchon der Vergangenheit angehört! Was 
aber der gegenwartige Augenblick Böſes bringt, kann nie zu 
ſchwer ſein, weil der Augenblick nur ein Punkt in der Zeit iſt. 
Nur dann wird ein Augenblick zu ſchwer, wenn man in ihm mit 
unnützer Beſorgniß die von Gott auf das ganze Jahr vertheilte 


Noth zuſammenfaßt. Gott iſt freundlich und ſchonend; nur die 


menſchliche Thorheit iſt grauſam. 

Weißt du im Gegenwärtigen für das Vergangene und Künf⸗ 
tige zu leben, fo. lerne auch im Gegenwärtigen für die Gegen⸗ 
wart leben. Gehöre ihr mit unbefangener Gemüthlichkeit. Haft 
du das Deine gethan wegen der Zukunft, und was zu ordnen iſt, 
geordnet: ſo hänge der Sorge nicht weiter nach. Vertraue auf 
Gott: er wird zu dem Guten, was du thuſt, den Segen legen. 


Erfüllt er deine Erwartungen nicht ſo, wie du ſie hatteſt: gut, 


auch das iſt ein Segen für dich! Er hat dir das Beſte gegeben; 
aber du kennſt nicht immer das Beſte. Lebe mit harmloſer, Find» 
licher Hingebung für die Stunde, die da iſt; für die folgenden 
ſorget er weit beſſer, als du. Ringe und ſtrebe doch nicht erſt. 


— 370 — 


nach Genuß, ſondern genieße. Seufze nicht erſt nach Glück, 
ſondern ſei glücklich. Das Glück, welches dir die Stunde ge⸗ 
währt, in der du lebſt, iſt in derſelben Stunde dir das ange⸗ 
meſſenſte und beſte. Wenn du es verſchmähſt, haſt du nichts, 
und fühlſt dich unglücklich. 

Lebe in der Gegenwart, und vergiß dabei, ſo viel du es ver⸗ 
magſt, was war und was ſein wird. Fürchte nicht, es werde dich 
dies allzugeneigt zum Leichtſinn und zu ſchädlicher Sorgloſigkeit 
machen. Wahrlich, Vergangenheit und Zukunft drängen uns 
ſich von ſelber auf, weil wir unaufhörlich zwiſchen beiden ſtehen. 
Um uns ſelber aufrecht zu halten, daß wir nicht ganz in die eine 
oder andere verſinken, haben wir genug zu thun, uns ihres 
Dranges zu erwehren. 

Lebe in der Gegenwart; laß deinen furchtſamen Gram um 
das Vergangene, deine vergebliche Furcht und Sorge um das 
Mögliche der kommenden Zeiten fahren. Dein Gram belebt das 
Todte nicht wieder; deine Sorge löſet das Räthſel der Zukunft 
nicht. Freue dich wie ein Kind deſſen, was du eben haſt, wäre 
es auch noch ſo wenig. Denn nicht die Sache, ob ſie koſtbar oder 
gering iſt, bringt Freude; ſondern das Herz bringt die Freude zur 
Sache. Dem Unzufriedenen iſt die ganze Welt leer. 

Lerne in der Gegenwart leben, und denke dabei nicht immer 
rückwärts und vorwärts, ſondern erheitere dich an dem, was um 
dich iſt. Das wird dich genügſam mit dem Wenigſten machen, 
und reich, wo die Ungenügſamen arm ſind. Du wirſt mit Er⸗ 
ſtaunen Freudenquellen finden, wo du ſie vorher in deinem Leben 
nie vermuthet hätteſt, und die Thoren verlachen, die nach Ehren 
und Gütern, Luſtgelagen und Veränderungen, nach Berühmtheit 
und Herrlichkeit rennen, und nirgends finden, was ſie eigentlich 
wollen. Denn weil ſie immer in der Zukunft leben und ſuchen, 
was doch nothwendig nur in der Gegenwart liegen kann, ſind 
ſie gegenwärtig niemals glücklich. 

O mein göttlicher Lehrer, Du mein wahrer Seligmacher, 
wie oft habe ich das Leben verkannt! Nicht leicht hat mich eine 
Betrachtung Deines Wortes ſo tief erquickt, wie die Betrachtung 
des Spruches Deiner Weisheit: Sorget nicht für den andern 


Rx 


Morgen! Ja, oft will ich daran denken, wenn mir eitle Be⸗ 
kümmerniſſe oder Wünſche das Glück und den Genuß der Gegen⸗ 
wart entziehen. Amen! 


— 


42. 
Gefahren willkürlicher Träumereien. 


Matth. 5, 27, 28. 


Wer heilig iſt, der bleib' auch heilig, 
Wer fündigt, zittre! — Denn der Herr, 
Der uns bereitet hat, iſt heilig, 
Und heilig iſt fein Recht, wie er! 
Wohl dem, der ſchuldlos, rein und gut, 
Sein Bild wird, und was recht iſt thut. 


Wer zur Vollendung roher Sünden 
Zwar ſeines Körper Kraft nicht leiht, 
Gedanken aber und Empfinden 
Mit Bildern ſchnöder Luſt entweiht: 
Iſt der kein Sünder? und ſteht der 
Vor Gottes Auge heiliger? 


Gott ſieht, Gott prüft, Gott wäget Alles, 
Gedanken, Wunſch, Entſchluß und That, 
Der Tugend Werth, den Reiz des Falles, 
Der Sünden Keim und ihre Saat. 

Wer richtet zwiſchen Finſterniß > 
Und Licht, wie Gott, wer fo gewiß? 


Mehr oder weniger ſpielt wohl jeder Menſch gleichſam feine 
doppelte und dreifache Rolle faſt zu gleicher Zeit. Ein ganz 
anderer iſt er im öffentlichen Leben, im Umgang mit Freunden, 
Bekannten, Fremden, Vorgeſetzten, Untergebenen. Er ſtellk ſich 
ihnen immer, ſo viel er kann, nur von der achtungswürdigſten 
Seite dar; iſt begierig, ihnen zu gefallen, eine vortheilhafte 
Meinung von ſich beizubringen: ihnen Ehrerbietung einzuflößen. 
Er iſt, wenn auch nur dem Scheine nach, beſſer, recht⸗ 
ſchaffener, liebreicher, ſtrenger in feinen Pflichtverhältniffen. So 
wie er, wenn er aus ſeinem Hauſe geht, in ſeiner Kleidung ſorg⸗ 
fältiger, reinlicher, zierlicher iſt: fo iſt er auch in feinem Betragen 
behutſamer, höflicher, in feinen Reden bedachtſamer, überlegter, | 
in feinen Handlungen gefälliger und zuvorkommender. 


— 372 — 


Ganz anders, als außer dem Hauſe, kann der gleiche Menſch 
innerhalb ſeiner Wohnung ſein, wo er die Feſttagskleider nicht 
trägt, ſondern in der bequemern Haustracht geht. Da iſt er, wie 
im Aeußerlichen nachlaͤſſiger, auch in feinen Werken und Worten 
weniger vorſichtig. Seine Geſinnungen offenbart er unverhehlter; 
gegen ſeine Hausgenoſſen iſt er nicht, wie gegen die Fremden; 
oft leider das Gegentheil von Allem, wodurch er Fremden zu ge— 
fallen ſucht. Er läßt ſeinen guten und übeln Launen freiern 
Lauf; wägt ſeine Worte nicht ab; gibt ſeine Urtheile über Leute, 
mit denen er außer dem Hauſe Geſchafte hatte, ohne Rückſicht; 
mit einem Worte, er zeigt ſich natürlicher und wie er in der That 
beſchaffen iſt, nicht, was er Andern ſcheinen möchte. Wahrlich, 
der iſt für einen der edlern Menſchen zu halten, der auch inner⸗ 
halb ſeiner Wohnung, gegen die allervertrauteſten Theilnehmer 
ſeines häuslichen Lebens, nicht anders iſt, als er ſich zeigt; hier 
eben ſo dienſtgefällig, freundlich, nachgebend ſpricht und handelt, 
als außer dem Haufe; hier in ſeinen Urtheilen und Gefinnungen 
über Fremde nicht anders iſt, als er ſich ihnen ſelbſt durch ſein 
Benehmen äußerte. — Wie Wenige vermögen dies; wie Wenige 
ſind ſo wahr draußen, als daheim bei den Ihrigen! 

Aber ſelbſt noch ganz anders, als bei den Ihrigen, ſind end— 
lich die Menſchen im Innerſten ihres Gemüths. O, wer iſt rein 
genug, ſich in allen Gedanken und Empfindungen feinen ihn um- 
gebenden nächſten Freunden, ſeiner Gattin, ſeinem Gatten, ſeinen 
Kindern, Geſchwiſtern und vertrauteſten Geſellſchaftern zu offen— 
baren! Wer iſt unſchuldig genug, daß er ohne Furcht und Er— 
röthen Jedem Alles, was im Verborgenen ſeines Gemüthes zu— 
weilen vorgeht, leſen laſſen könnte! Alſo auch gegen unſere mit 
uns wohlbekannteſten Geliebten haben wir gleichſam noch eine 
verſchönernde Larve nöthig; alſo auch noch Geheimniſſe, die wir 
um Alles in der Welt nicht geſtehen würden, gegen die „vor 
denen wir dem Anſchein nach gar keine Geheimniſſe mehr haben! 

So ſpielt der Menſch, ſelbſt ſogar der beſſere, ſeine Doppel— 
rolle. Darum, ſo genau Einer den Andern zu kennen meint, 
kennt er ihn doch nie vollkommen. Nur Gott iſt allwiſſend; 
darum richtet nur Gott den Sterblichen gerecht. — Nach dem 


— 373 — 


Leben außer dem Hauſe richtet die Welt; ſie richtet daher meiſtens 
nur den Schein; ſie kann nicht wiſſen, aus welchen Abſichten das 
Wort und die That kam, die fie beurtheilt. Nach dem zwang⸗ 
loſern, häuslichen Betragen richtet der vertraute Hausgenoſſe, 
und ſchon weit ſtrenger, richtiger, als die übrige Welt. Denn 
im Hauſe läßt auch der Schlaueſte oft unwillkürlich die Maske 
der Verſtellung fallen, und aus einzelnen Worten und Geberden 
ahnen und erſpüren wir ſeinen verborgenſten Sinn. Aber den 
innern Menſchen richtet der Allwiſſende. Nur was der Sterb⸗ 
liche in ſich ſelber iſt, nicht was er von außen ſcheint oder 
ſcheinen will, macht feinen Werth oder Unwerth vor dem All- 
gegenwärtigen. Aus dieſem verheimlichten Innern hervor gehen 
die ausgeſprochenen Urtheile, Befehle, Bitten, Drohungen, 
Schmeicheleien, Rechtfertigungen, Klagen. Man vernimmt das 
Wort, man ſieht die That, aber die dabei im dunkeln Hinter⸗ 
grunde des Gemüths verſteckten Abſichten erräth awer Einer 
mit Gewißheit vom Andern. 

Alſo werde ich von Gott nicht nach meinen für Menſchen hin⸗ 
geſprochenen Worten, nicht nach meinen äußern Werken, ſondern 
nach meinen geheimen Abſichten, nach meinen Geſinnungen, die 
kein Menſchenkind erkennt, nach meinen Gedanken gerichtet. Nur 
dieſe, welche ſelten andern Perſonen offenbar werden, wie ſie 
ſind, können als die wahrhafteſten Aeußerungen meines 
Selbſtes gelten. Allwiſſender, der Du die Reihe meiner täglichen 
Gedanken klar durchblickſt, Du, vor dem nichts Verborgenes ſein 
kann, wie werde ich vor Dir beſtehen! 

Ach, wir täuſchen uns nur gar zu oft ſelbſt, indem wir nur 
auf unſere Worte und Werke Rückſicht nehmen, wenn 
wir in eine Selbſtprüfung eingehen, und unſern Werth und Un⸗ 
werth vor Gott beſtimmen wollen. Wenn wir einen Tag über 
nützlich und arbeitſam geweſen ſind; wenn wir hier einem Armen 
Almoſen, dort einem Leidenden Hilfe, einem Andern Troſt, 
einem Dritten guten Rath gegeben haben; wenn wir einen unſerer 
Gegner gütig behandelten; wenn wir Streit und Zank verhüteten; 
wenn wir uns keinen Ausbruch des Zorns, des Hochmuths, des 
Neides, der Laſterſucht, des Hohnes vorzuwerfen hatten, keine 


= Me. 


Lüge ſagten, keinen Betrug begünſtigten: dann ſchon glauben 
wir mit unſerm Tagwerk zufrieden ſein zu können! Dann ſchon 
erwarten wir von Gott einen huldreichen Richterſpruch! — 
Elende Selbſtverblendung! Als wenn das Auge des Allwiſſenden 
nur gleich menſchlichen Augen unſere Werke fähe, nicht auch 
die Gedanken, welche dabei waren! Nein, Gott richtet das Ge⸗ 
müth und deſſen ſtille Handlungen, die kein Ohr ſonſt ver⸗ 
nimmt, kein Auge ſonſt ſieht. — Am allerwenigſten fündigt der 
Menſch mit Werken; am allermeiſten ſündigt er mit den ſtillen, 
nie ausgeſprochenen Gedanken! i 

Inzwiſchen gibt es Viele, die ſich wohl einbilden, was 
Andern keinen Schaden thue, ſei auch keine Sünde. Sie er⸗ 
lauben ſich daher im Stillen Arges zu denken und zu wünſchen; 
genug, daß ſie in dem wirklichen Leben keine Hand dazu bieten. 
O, die Betrogenen! Sie haben das Verbrechen wirklich verübt, 
nicht vor Menſchen (denn fie hatten Scheu verrathen, um be⸗ 


ſtraft zu werden), ſondern vor Gott, vor welchem ſie ohne Scheu 


und Scham waren (als wenn ſie Gottes Gerechtigkeit leichter, 
denn die menſchliche, beſtechen könnten!) — Sie haben das Ver⸗ 
brechen wirklich vollzogen, indem ſie mit ihren Gedanken zwar 
Andern kein Böſes in der Wirklichkeit zufügten, aber dagegen 
ſich ſelber in ihrem Innerſten mit fündlichen Neigungen und 


Gefühlen beſudelten, und dadurch auch zur Ausübung des Böoſen 


wirklich reifer machten. 

„Ihr habt gehört,“ ſprach Jeſus Chriſtus, „ihr habt ge⸗ 
hört, daß zu den Alten geſagt iſt, du ſollſt nicht ehebrechen. Ich 
aber ſage euch, wer ein Weib anſiehet, ihr zu begehren, der hat 
ſchon mit ihr die Ehe gebrochen in feinem Herzen!“ 
(Matth. 5, 27. 28.) 

Es begegnet nicht ſelten, daß man in müßigen Augenblicken, 
etwa wenn man allein iſt, auf einſamen Spaziergängen, oder in 
ſchlummerloſen Stunden der Nacht, oder ſonſt, ſich den Spielen 
feiner Gedanken überläßt. Man findet Vergnügen an den 
Gaukeleien ſeiner Einbildungskraft; und ſo wie uns zuweilen 
im Schlaf angenehme Träume Ergotzung bringen, ſchaffen wir 


— 


uns auch wohl wachend willkürliche Träumereien von dem, was 
uns gefällig iſt. 

Wir pflegen dergleichen Träumereien insgemein für ſehr un⸗ 
ſchuldig zu halten, nennen ſie Luftſchlöſſer, welche wir bauen, 
die uns ſo lange unterhalten, als ſie dauern; wir entwerfen 
Plane, die wir im Ernſt nicht ausführen möchten, und halten 
Geſpräche in Gedanken mit Perſonen, die wohl nie geſprochen 
werden. Weil das Alles ſehr unſchadlich ift, machen wir uns 


deswegen kaum Vorwürfe. Von ſolchen Träumereien glauben 


wir keine Verantwortlichkeit zu haben; es wäre denn, daß wir 
wirklich in unſern Gedanken Entwürfe zum Schaden Anderer 
ausſpännen, und fie zu vollſtrecken Sinnes wären. Dieſe 
ſcheinen uns allerdings nichts weniger als ſchuldlos zu ſein. Der 
böfe Anſchlag, welchen wir faſſen, iſt ſchon die Hälfte der böfen 
That, ſie möge nachher erfolgen oder nicht. Hingegen ein bloßes 
Tändeln der Einbildungskraft, ohne allen andern Zweck, als 
einen Augenblick lang zu vergnügen, eine vielleicht langweilige 
Viertelſtunde abzukürzen, möchten wir kaum verdammen. Und 
bei allen Prüfungen unſers Herzens am Abend, oder im Gebet 
vor Gott, fällt uns vielleicht ſelten bei, auch jener Traͤumereien 
zu gedenken; und unter allen guten Vorſätzen, die wir vielleicht 
beim Antritt eines Tages, oder im Gebet vor Gott faſſen, iſt 
wohl ſelten auch der Vorſatz, in willkürlichen Träumereien, die 
wir uns bereiten könnten, aufmerkſamer auf uns ſelbſt zu fein. 
Aber dieſe Träumereien beſtehen aus Gedanken; jeder dieſer 
Gedanken iſt eine Handlung unſers Gemüthes; jede dieſer in 
unſerm Innern hervorgehenden Handlungen beweiſet, wie wir 
wirklich beſchaffen ſind, welche Neigungen wir heimlich haben, 
und was wir zu thun fähig ſein würden, wenn alle aͤußern Um⸗ 
ſtände dazu günſtig waͤren. Und dies unſer Inneres, unſer 
Ich, wie es wahrhaft iſt, nicht wie es unter der Erlaubniß äußerer 
Umſtände erſcheint, dies richtet Gott! 
Und iſt es in ſeinen Spielen der Einbildungskraft wohl immer 
ſo unſchuldig, als wir gern geneigt waͤren, uns zu überreden? 


Wer konnte und möchte wohl das, was er zuweilen bei ſich dachte, 
ganz wörtlich, und ohne alle Verhehlung, einer Perſon, vor der 


— 376 — 


er wahre Hochachtung hat, erzaͤhlen? Wie Mancher wuͤrde, wenn 
ſeine nach eigener Willkür gemachten Träume einem Andern ganz 
deutlich wären, nicht ſchamroth werden? Wie? und wir werden 
nicht ſchamroth vor dem allwiſſenden Gott, der die Gaukeleien 
unſerer heimlichſten Gedanken und Wünſche ſah? Wir erröthen 
nicht vor uns ſelber, daß wir uns geſtatteten, etwas Unwürdiges 
zu denken, uns im Stillen damit ſelbſt zu entehren? Wer die 
Achtung für ſich verloren hat, daß es ihn nicht mehr ſchmerzt, 
ſich zu entweihen; wer die Achtung vor Gott verloren hat, daß 
er ohne Scheu vor ihm Luſt am Sündlichen in Träumereien 
zeigt — wahrlich, der iſt nur ein Heuchler vor menſchlichen 
Augen, kein Gotteskind; der iſt, was Jeſus von den Phariſäern 
ſprach, ein übertünchtes Grab, welches innerhalb voller Moder 
und Verweſung iſt. 

Ja, auch dieſe leichtfertigen Gedankenbilder, in welchen wir 
uns an Gegenſtänden ergötzen, die entweder unerlaubt ſind, oder 
unerlaubte Begierden erregen, find ſündlich; dieſe fo unſchaͤdlich 
ſcheinenden Träumereien haben ihre Gefahren. Sie machen unſer 
Gemüth in der Stille mit dem, was Unrecht iſt, vertraut; ſie 
gewöhnen uns an das Anſchauen des Schlechten, und verderben 
damit unſern Geſchmack für das Edlere; ſie machen das Schänd⸗ 
liche allmälig einheimiſch im Heiligthum unſers Gemüthes, wo. 
es ein ewiger Fremdling fein ſollte. ö 

Man muß nicht erſtaunen, daß junge Leute, welche die aͤußer⸗ 
lich beſte Erziehung genoſſen hatten, welche von den trefflichſten 
Grundſätzen durchdrungen ſind, ſich wirklich die ſchönſten Vor⸗ 
ſätze gemacht hatten, ganz plötzlich und unerwartet aus der Art 
ſchlagen konnten, ſobald ſie ſich ſelbſt überlaſſen waren. Ach, 
daß ſie in Ausſchweifungen übergingen, geſchah nicht ſo ſchnell, 
als wir glauben: ihre Einbildungskraft war ſchon weit früher 
vergiftet; ſie hatten ſchon Vergnügen an Vorſtellungen des Un⸗ 
anſtändigen genoſſen. Ihr beſſeres Selbſt ſträubte ſich freilich 
gegen That und Wirklichkeit, aber — das Herz war auc win, 
und die böſe Begierde erwachte. | 

Wie der Menſch in feinen verborgenſten Neigungen iſt, ſo 
denkt er, ſo ſchafft er ſich auch wachend Traumbilder. Wer in 


* 


— 377 — 


Gedanken an verbotenen Früchten ſchwelgt, die er viel zu redlich 
iſt in That und Wirklichkeit zu rauben, macht ſich eine frevelvolle 
Freude, und unterhandelt wirklich ſchon mit dem Verbrechen ſelbſt. 
Es fehlen nur äußere Umftände und Begünſtigungen, die Schand— 
that zu vollbringen. Treten bequeme Gelegenheiten ein, ſo wird 
die Begierde eilen, das wirklich zu gewinnen, wovon ihr bisher 
in reizenden Einbildungen nur der Vorſchmack erlaubt ward. 

So bereiten demnach ſelbſt geſchaffene Träumereien 
ſehr oft das Gemüth zur Auübung einer Sünde vor, 
der es ſonſt ganz fremd war, und die es erſt in unanſtändigen 
Vorſtellungen allmälig lieb gewann. Und wie manche Perſon, 
die öffentlich weder des Ehebruchs noch der Hurerei ſchuldig iſt, 
aͤußerlich in Keuſchheit und Sittſamkeit Andern als Muſter gelten 
könnte, noch vor Zweideutigkeiten erröthet, und ſich ſchamhaft 
vom Unanſtändigen wegwendet, iſt zum Verbrechen reif, hat es 
in der Einbildung ſchon vollbracht. In ungeziemenden Traͤu— 
mereien ward die Reinheit des Herzens befleckt, ging die Unſchuld 
des Gemüths vor Gott verloren! — Vertraut mit dem Laſter 
durch die Gedanken, befreundet mit ihm in unzüchtigen Vorſtel⸗ 
lungen, iſt der Abgrund der Schandthat nahe genug, um beim 
erſten verleitenden Augenblick hinabzuſchwindeln. „Ihr habt ge⸗ 
hört, daß zu den Alten geſagt iſt, du ſollſt nicht ehebrechen. Ich 
aber ſage euch,“ ſprach Jeſus, „wer eine Perſon anſiehet, ihrer 
zu begehren, der hat mit ihr ſchon die Ehe gebrochen in ſeinem 
Herzen, iſt Wollüſtling, iſt Verführer, iſt Sünder vor Gott, 
von der Unſchuld abgewichen!“ 

Das iſt die Gefahr jener unſchaͤdlich ſcheinenden Traͤumereien, 
in welchen ſich unſere unanftändigen Neigungen erlauben, mit 
dem, was Unrecht iſt, zu ſpielen. In dieſem Spiele gewinnen 
ſie größere Stärke und Macht über das Herz; in dieſem Spiele 
feſſeln fie unmerklich den beſſern Willen, und blenden den Ver⸗ 
ſtand, daß er die Gefahr ſelbſt nicht mehr wahrnimmt. So ganz 
unſchädlich es auch zu fein ſcheint, wenn ſich zum Beiſpiel Je- 
mand, der auf ein Amt Hoffnung hat, in müßigen Augenblicken 
an den Vorſtellungen von ſeiner künftigen Würde ergötzt, wie 
er da Aufſehen erregen, wie er da den Neid von Dieſem oder 


— 378 — 


Jenem wecken werde, wie er da über ſeine Feinde triumphiren 
könne: fo find doch alle dieſe kindiſchen, lächerlichen, oft ganz 
vergeblich geſchehenen Einbildungen traurige Uebungen des Stol- 
zes, der Eitelkeit und der Schadenfreude. Dieſe Uebungen ſtärken 
und reizen nur die ehemals ſchwache Neigung zur Hoffart; und 
wenn das Amt und die Würde auch nicht gewonnen wird, bleibt 
doch die leidenſchaftliche Lüſternheit nach Aufſehen-Erregen und 
Neid⸗Erwecken zurück. 

Und wenn man auch ſelbſt über die Spielereien der Einbil⸗ 
dungskraft ſpottet, und es Luftſchlöſſerbauen heißt; wenn man 


eine reiche Erbſchaft oder ein großes Loos in Lotterien, oder einen 


andern glücklichen Zufall erwartet, der die Glücksumſtände ver⸗ 


beſſern ſoll; wenn man ſich da vorträumt, wie man dann ſeine 
Wohnung verſchönern, ſeinen Tiſch mit feinen Leckerbiſſen füllen 
wolle; wie man in Geräth und Kleidung glänzen, die Bewun⸗ 
derung aller Bekannten ſein und von hohen Perſonen mit Be⸗ 


gierde werde aufgeſucht werden: dennoch ſind dieſe und andere 


Tändeleien der Phantaſie gefährlich. Sie erfüllen unbemerkt das 


Herz mit Wuͤnſchen höchft entbehrlicher Dinge; fie entwickeln die 
Luſt an Prachtaufwand, den Hang zum Reichwerden und Geld⸗ 
gewinnen immer mehr; ſie machen mit dem, was Gott verliehen, 


unzufrieden, und rauben uns den ungetrübten Genuß vom Glück 


gegenwärtiger Verhältniſſe. 


Nicht genug dies; noch andere geidenſchaften werden zuletzt 
dadurch erzeugt, die ohne dies vielleicht nicht laut geworden 
wären. Wer ſich in feinen Vorſtellungen den Beſitz großen Reich- 
thums oder Anſehens vorſpiegelte, der ihm durch Ehrenſtellen, 
unvermutheten Gewinn oder anſehnliche Erbſchaften zufallen 


könnte, und nachher in feinen Erwartungen jehmählich getäuſcht 
ward, wird ſich kaum des Neides und der Schmähung gegen die 
erwehren, welchen die Würden oder Loos oder Erbſchaften zu 
Theil geworden find; wird ſich kaum enthalten können, mit feinem 
eigenen Schickſal zu grollen und wider Gottes allweiſe Vorſehung 
zu murren. 

Es ließen ſich unzählige Beiſpiele aufftellen, aus welchen 
deutlich würde, wie nachtheilig für Unſchuld, Einfalt, Ruhe und 


„ U 


Zufriedenheit des Herzens ſelbſtgeſchaffene Träumereien find; wie 
ſie an ſich anfangs ſchuldloſe Neigungen wecken, und zu einer 
verderblichen Herrſchaft über das Gemüth erheben; wie ſie un⸗ 
ſerer Thätigkeit oft ein Ziel vorſetzen, nach en wir niemals 
ſtreben ſollten. 

Sei es doch, daß dergleichen ergöͤtzliche Trümmern in müſ⸗ 
ſigen Augenblicken hundert- und noch hundertmal ohne Folge 
blieben, eben ſo ſchnell vergeſſen, als vergangen waren; aber 
dieſes hundert- und hundertmal Geträumte hat durch ſeine allzu= 
häufigen Wiederholungen beurkundet, daß es ſchon ſeine Macht 

auf dich geübt hat; daß ſchon in dir eine unedle Leidenſchaft da⸗ 

durch zu deinem frühern oder ſpätern Nachtheil genährt worden 
iſt, und noch immer mehr geſtärkt wird; daß du nicht mehr in dir 
jo frei, jo rein, fo edelmüthig und löblich biſt, als du von außen 
ſcheinſt; daß du ſchon oft vor Gott ſündigteſt, wenn dich die 
Menſchen noch für gut und laſterfrei hielten. 

Gott richtet den Sünder! Gott richtet nicht ſeine äußern Tha⸗ 
ten allein, ſondern die vor fremden Menſchen verborgenen Tha⸗ 
tenquellen im Gemüth. Gott richtet den Sünder! Gedanken ſind 
ſtille Thaten, die Verbrechen der Einbildungskraft ſtumme Sünden! 

Meide alle fruchtloſen, mit Fleiß dir gemachten Täu⸗ 
ſchungen der Einbildungskraft; alle willkürlichen Träu⸗ 
mereien vom Glück, das aus geſtillten ſinnlichen Begierden und 
Wünſchen hervorſteigen könnte. — Schon ſich ſelber täuſchen 
wollen, gehört zu den Thorheiten des Lebens; und das ganz 
Unnütze denken, heißt eine Zeit verſchwenden, in welcher das 
Nützlichere hätte gedacht werden müſſen; eine Zeit, deren Verluſt 
mit keinem Gut der Welt gekauft werden kann. 

Meide willkürliche Traͤumereien vom Vergnügen an 
erfüllten Hoffnungen und geſtillten Begierden. Eben 
dadurch werden deine Hoffnungen dein Verderben, und deine 
Begierden dir zum Sporn des Böſen. Vielleicht haſt du ſelbſt 
ſchon mehrmals die ſchädlichen Folgen erkannt. Wandelt dich 
die Luſt an, dich an Bildern zu ergötzen, die deiner Unſchuld, 
deiner Beſonnenheit, deiner Genügſamkeit und Ruhe Gefahr 
bringen, — zerſtreue dich! ermanne dich! und verachte es, am 


3 


bloßen Kitzel der Einbildungskraft Gefallen zu finden; rufe dei⸗ 


nen Verſtand auf, und erwäge, ſtatt der Luftſchlöſſer Herrlich⸗ 
keit, die ernſthaften Verhältniſſe deiner wirklichen Umſtände. 
Meide willkürliche Träumereien, wenn du deiner 


ſelbſt mächtig bleiben willſt. Denn je öfter du dich mit ihnen 


beſchaͤftigeſt, je dringender werden fie zu dir zurückkehren; je 
mehr die Begierde mit Vorſpiegelungen gereizt wird, je gebiete 


riſcher fordert ſie Erfüllung. Du ſelbſt wirſt ihr Sklave, wirſt Ehre, 


Unſchuld, frohes Gewiſſen und Lebensruhe ihr hinwürgen müſſen. 


Ach, Allwiſſender! ſchamvoll ſenke ich meine Augen vor Dir 


nieder. Nur allzuoft überließ ich mich den Spielen ſelbſtgebil⸗ 
deter Träumereien, die zum Vergnügen eines Augenblicks er⸗ 
funden wurden, aber ſich mit manchem unreinen Gedanken ver- 
miſchten, manchen Hang zum Ungerechten in mir lebendig machten. 


Ich war tief genug ſchon geſunken, wenn ich das Unbillige billigte 


in meinen Vorſtellungen, und vergaß, daß Du der Allgegen- 
wärtige ſeieſt, vor dem kein Geheimniß iſt im ſtillen Handeln 
unſerer Leidenſchaften. Herr, wer kann zahlen, wie oft er vor 
Dir fehle? 


Der geringſte Theil meines Lebens iſt oft derjenige, in welchem 
ich meine Denkart durch Handlungen offenbare; den allergrößten 


Theil des Lebens füllen dagegen meine Vorſtellungen, ſtillen 


Urtheile und die Geſpinnſte der immer thätigen Einbildungskraft 
aus. Und ach — bei weitem auf den größten Theil meines Le— 
bens verwendete ich bisher die kleinſte Aufmerkſamkeit! O wie 
oft mußte ich Dir durch meine Geſinnungen mißfallen! Wie viel 
von meinem eiteln und ſchädlichen Geträume habe ich wieder ver— 
geſſen! Aber, haſt auch Du es vergeſſen, richtender Gott! Und 
hat dies ſcheinbar flüchtige Getraͤume nicht nachher noch feinen 


ͤ—— Me Ä n * 


verderblichen Einfluß auf meine übrigen Urtheile, Gefühle und 


Thaten gehabt, und ihnen eine beſondere Richtung gegeben.“ 


O Vater, ich habe ſchwer vor Dir geſündigt. Ich komme | 
zu einer Erkenntniß von Schulden, deren ich bisher im Leben gar 


wenig gedacht habe. Vergib! barmherziger Gott, vergib auch, 
was ich vielfältig, allen Menſchen verborgen, im Herzen geſün— 


digt habe! Mit Erkenntniß der Schuld verbindet ſich meine auf 


en 


richtige Reue, und mit der Reue der Eniſchluß, vorfichtiger auf 
dieſes Gaukelſpiel ſelbſtgemachter Traͤumereien zu wachen, die 
jeden vernünftigen Menſchen entehren, und auch den tugendhaf— 
teſten in Gefahr und Sünde bringen können. — Stehe mir, 
Gott, bei mit Deiner heiligen Kraft. Amen. 


43. 
Selbst gef 4 lligkeit. 
Tobias 4, 14. 


Herr, was ich Gutes habe, 
Iſt Deine milde Gabe; 
Nichts iſt mein Eigenthum. 
Für das, was ich beſitze, 
Wodurch ich Andern nütze, 
Gebührt nicht mir, nur Dir, der Ruhm. 


Sowohl Verſtand als Kräfte 
Zum nützlichen Gefchäfte 
Hab' ich von Deiner Huld. 
Dein iſt's, wenn gute Thaten 
Dem Vorſatz wohl geratben. 
An Fehlern bin allein ich Schuld. 


Sollt' ich mich nun erheben, 
Wenn mir in dieſem Leben 
Viel Gutes widerfährt? 
Was hat Dich, Herr, bewogen, 
Daß Du mich vorgezogen? 
Bin ich wohl jemals deſſen werth? 


Es gibt eine Untugend, welche nicht ſelten das Eigenthum übri⸗ 
gens rechtſchaffener und verſtändiger Perſonen iſt, und wodurch 
ſie, wie wir täglich wahrnehmen, ſich ſelber vielen Schaden 
zufügen, ohne es zu wiſſen; ja, es ſind eben nur Perſonen, 
welche ſich gewöhnlich durch Geiſtesvorzüge auszeichnen, die in 
ſolche Untugend verfallen, und va dieſelbe beinahe allen ihren 
Werth verlieren. 

Diieſer Fehler iſt von fo a Art, daß man dafuͤr kaum 
noch den rechten Namen im Gebrauch hat. Es iſt ein allzuleb⸗ 
haftes und immer geſchäftiges Bewußtſein von Geiſtesgaben, die 
man hat, und eine daraus entſpringende, immer kitzelnde Begierde, 


— 382 — 


dieſe Vorzüge bei jeder Gelegenheit fühlbar werden und von An⸗ 
dern anerkennen zu laſſen. Es iſt nicht ſowohl ein Streben, An⸗ 
dern gefallen zu wollen, als vielmehr ein allzugroßes Gefallen, 
was man an ſich ſelbſt hat. Darum möchte ich dieſe Untugend 
Selbſtgefälligkeit heißen. f 

Dieſe Selbſtgefälligkeit eines Menſchen iſt ſehr verſchieden g 
von dem edeln Bewußtſein eigenen Werthes, welches auch 
| 
3 


— A 


der Chriſt, der Weiſe haben kann, und fogar haben muß, um 
ſtandhaft in der Tugend zu bleiben. Das Selbſtgefühl unſers 
innern Werthes beſteht in Ueberzeugung von der Rechtſchaffen⸗ 
heit unſerer Geſinnungen und Abſichten, wenn fie von der Uun⸗ 
wiſſenheit oder Bosheit der Menſchen verkannt werden. Der 
Weiſe hat keinen Stolz auf ſeine Verſtandesvorzüge, denn er 
weiß, daß er die Gaben des Geiſtes nur dem Urheber ſeines Le⸗ 
bens zu danken hat. Aber in die edelſte, gottgefälligſte Anwen⸗ 
dung dieſer Gaben ſetzt er einen hohen Werth. Er läßt ſich weder 
durch Verachtung und Spott, noch durch Hinderniſſe böswilliger 
Menſchen in der richtigen Anwendung ſeiner Kräfte irre machen. 
Nicht äußere Vorzüge, nicht glänzende Einbildungskraft, nicht 
Scharfſinn, Witz und Geſchicklichkeiten verleihen Werth vor Gott, 
ſondern nur frommer Muth und tugendhafter Wandel. | 

Wer auf eigene Einfichten und Fähigkeiten allzuhohen Werth 
legt, der hat keineswegs das richtige Selbſtgefühl ſeiner innern 
Würde, ſondern Stolz, ſo wie derjenige, welcher ſich auf ſeine 
äußern Vorzüge zu viel einbildet, nur Eitelkeit hat. Der Stolz 
entſpringt aus der übertriebenen Meinung vom Umfange der 
eigenen Kräfte, und äußert ſich durch Geringſchätzung derjenigen, 
welche weniger haben oder zu haben ſcheinen. Die Eitelkeit thut 
ſich auf den Beſitz äußerer Glücksgüter zu gut, auf körperliche 
Anmuth und Zierlichkeit, auf Pracht in Kleidern, Wohnungen, 
Hausgeräthen, auf gewiſſe erworbene Geſchicklichkeiten, die man 
gern zur Schau ausſtellt. | 

Man kann ſtolz fein, man kann eitel fein, ‚ohne deswegen 
ehrgeizig zu ſein. Ehrgeiz iſt Streben nach großen Auszeich— 
nungen vor andern Menſchen, und Unzufriedenheit mit dem Ruhm, 
oder Lob, oder Anſehen, welches man wirklich erworben hat. Mit 


ſchon gewonnenen Auszeichnungen und Würden ift nur der Hoch⸗ 
müthige zufrieden. Er wähnt ſich am Ziel, und will nun die 
Frucht ſeines Glückes in vollem Maße durch Genuß von Ehrer⸗ 

bietung haben, die ihm andere Menſchen leiſten ſollen. Der Ehr⸗ 
geizige kann ſehr beſcheiden ſein; der ER, kann es in der 
That nie ſein. 

Von allen dieſen unterſcheidet ſich der Selbſtgefaͤllige durch 
ſein Thun und Laſſen, ob er gleich von jenen Fehlern mehr oder 
weniger mit ſeiner Unart verbinden kann. Er iſt ſich ſeiner Klug⸗ 

heit und Verſtandeskräfte beftändig bewußt; immer, bald trotzig, 
bald ſchmeichelnd, bald offen, bald heimlich, bemüht, ſich bei 
Andern angeſehen und gültig zu machen; iſt darin vom Stolzen 
verſchieden, daß dieſer ſchon mit dem bloßen Bewußtſein von 
Kraft und Geiſtesvorzügen zufrieden iſt, und ſich in Gering- 
ſchätzung minder vorzüglicher Perſonen behagt. Der Selbſtge— 
fällige hingegen fürchtet immer, zu wenig anerkannt, zu wenig 
nach Verdienſt geſchätzt zu ſein. Er will daher herrſchen, Alles 
machen, Alles entſcheiden, in Allem das Wort führen, in Allem 
der Erſte ſein, um von Andern eben ſo ſehr bewundert zu wer⸗ 
den, als er ſich ſelbſt bewundert. 

Es iſt denkbar, daß er auch eitel fein könne. Aber er will 
nicht, gleich eiteln Perſonen, nur durch das Aeußere gefallen. 
Er iſt vielleicht weder fehön, noch reich, noch geſchmackvoll genug, 
um durch die Außenſeite zu gefallen. Ja, er kann ſogar Geſtalt, 
Kleidung und alle Umgebungen vernachläſſigen, um dagegen 
ſeine Geiſtesüberlegenheit deſto heller glänzen zu laſſen, in die er 
allein verliebt iſt, und die er von aller Welt geliebt ſehen möchte. 
Dabei iſt es ihm vielleicht nicht, wie dem Ehrgeizigen, um Er⸗ 
reichung öffentlicher Auszeichnungen und weit verbreiteten Ruhe 
mes zu thun. Er kann Klugheit oder Bequemlichkeit genug haben, 
um die Dornen zu ſcheuen, welche gewöhnlich auf der Bahn ir⸗ 
diſcher Ehren den Wandler verwunden, und die der von Ehr⸗ 
\ geiz Beſeelte nicht fürchtet. Nein, der Selbftgefällige, ohne des⸗ 
wegen in albernen Hochmuth zu verfallen, iſt ſchon zufrieden, 
wenn ihn nur alle Perſonen, mit denen er unmittelbar zu thun 
hat, als den vortrefflichſten Kopf anerkennen; nur was er fpricht, 


* 


— 384 - 


für das Beſte halten; nur feine Leitung annehmen wollen. Er, 
in beſtändiger Bewunderung und Hochſchätzung feines Verſtan⸗ 
des, ſeiner Klugheit und Einſicht, fordert auch von Andern nichts, 
als dieſe Bewunderung, und hält dafür, man We ihm dann nur 
erſt Gerechtigkeit widerfahren. 


Um feinen höchften Zweck zu erreichen, um 9 85 ſeinen Bekann⸗ 
ten fo glänzend an Geiſteskraſt zu erſcheinen, als er ſich ſelbſt in dem 


Spiegel erblickt, welchen ihm Eigenliebe taͤglich vorhält, ſpielt er 


alle Rollen, macht alle Umwege. Er iſt bald abſprechend, bald 
demüthig, bald vorſichtig; bald für gemeinnützige Gegenftände 
in heiligem Eifer, bald deren vornehmſter Gegner; bald frei⸗ 
geiſteriſch, aufgeklärt witzelnd, des Heiligſten ſpottend, bald frm⸗ 
melnd, andächtelnd. Er iſt nichts für die Sache ſelbſt, Alles 
nur, um Bewunderung zu ärnten von denen, mit welchen er zu 
ſchaffen hat. Er thut, was gerecht, gut und ſogar edel iſt, nicht 


aber der Tugend willen, ſondern in ſeiner Selbſtgefälligkeit die 


Bewunderung der Andern zu ärnten. Dieſe Begierde, ſo gern er 


ſie auch verhehlen möchte, wird immer wieder in ſeinen Aeuße⸗ 


rungen ſichtbar; fie verräth ſich in feiner Vorliebe für die, welche 


ſeiner Geiſtesüberlegenheit huldigen; in ſeinem herben Urtheil gegen 
die, welche ſich entweder derſelben nicht unterwerfen, oder wohl 


gar ähnliche Anſprüche auf Bewunderung machen, wie er ſelbſt. 


Er iſt kein groͤßerer Gegner von den Leuten ſeiner Bekanntſchaft, 


als von ſolchen, die ihm in ſeiner Unart gleich ſind. Er findet 
fie ſelbſtſüchtig, einbildiſch, herrſchſüchtig, ungerecht, und im Um⸗ 
gang unverträglich. 

Der Selbſtgefaͤllige, wo er auch ſtehe, was ihm auch begeg— 


. r 


nen möge, vergißt ſich niemals über etwas Anderes. Er iſt ſich 
ſelber jederzeit der Erſte, der Wichtigſte. Jede Kleinigkeit von 
dem, was er hat, denkt, thut, ſcheint ihm bedeutender, als das 


Wichtigſte, was Andere angeht. Im Geſpräch wird er überall 
gern, wenn gleich mit ſorgſamer Beſcheidenheit, ſein geliebtes 
Ich anbringen, von ſich erzählen, von ſeinen Erfahrungen, 
feinen Anſichten, feinen Hoffnungen ſprechen, und keinen Um- 


ſtand unbenutzt laſſen, um ſein Ich von allen Seiten darzuſtellen, 


damit man es eben ſo liebe, ſo preiſe, wie er es in ſeinen Ge— 


= Bl = 


danken ſelbſt thut. Er wird empfindlich gekränkt, wenn man in 


Geſellſchaften irgend einem Verdienſte anderer Perſonen Gerech⸗ 
tigkeit und Lob zollt, ohne zugleich durch einen Seitenblick auf 


ihn zu verſtehen zu geben, daß man feinen höhern Werth voll⸗ 


kommen zu würdigen wiſſe. 

Die unmäßige Selbſtgefälligkeit und thörichte Verehrung 
eigener Geiſtesvortrefflichkeit iſt oft der Fehler von Leuten, die 
allerdings ſowohl wegen ihres Verſtandes als Herzens ſehr ſchaͤtz⸗ 
bar ſein können. Aber indem ſolche Neigung, immer nur auf 
ſich ſelbſt zu ſehen, immer nur auf Huldigung erpicht zu ſein, 
endlich im Gemüthe vorherrſchende Leidenſchaft wird, verdunkelt 
und entwerthet fie auch die andern löblichen Eigenſchaften. Leiden⸗ 


ſchaft, das heißt, eine gewaltige Neigung, welche den beſſern 


Willen feſſelt, die Klarheit der Vernunft trübt, und allein Haupt⸗ 
quelle unſerer Geſinnungen und Beſtrebungen werden will, iſt 


Sünde. Denn nur Vernunft, nur das Geſetz Gottes, nur eine 


reine Liebe zu Gott und Menſchen, mehr denn Died zu uns ſelbſt, 
ſoll uns regieren. 

Hoffart laß weder in deinem Herzen, noch in dei— 
nen Worten herrſchen, denn ſie iſt ein Anfang alles 
Verderbens. (Tob. 4, 14.) So ſpricht warnend die heilige 
Schrift. 

Sie iſt ein Anfang alles Verderbens; oder wo waͤre jemals 
ein leidenſchaftliches Leben der Anfang alles Guten und Be⸗ 
glückenden geweſen? 

Der Selbſtgefällige ſchadet ſich durch die Ueberſchahung ſeiner 


Verſtandesvorzüge am meiſten. Das feine Selbſtlob, welches er 


ſich gar zu gern zollt, oder welches er Andern abzwingen möchte, 
wird anſtößig für die, welche mit ihm umgehen. Sie mögen 
feinen Werth erkennen oder nicht, in jedem Falle werden fie ge— 
wahr, daß er ſelbſt eine allzuüberſpannte Meinung von demſelben 


habe. Da es für ſie keineswegs eine angenehme Empfindung iſt, 


| ſich beftändig überſehen, beftändig gedemüthigt zu fühlen, erhebt 
| ſich in ihnen Wunſch und Wille, ihn zur rechten Würdigung 


ſeiner ſelbſt und zur Beſcheidenheit zurückzuführen. Oft miſcht 


ſich damit noch * Oft wird der Neid ſich mit der 


III. 17 


— 386 — 


Schadenfreude vereinigen, und, ſtatt der geforderten Achtung, 
Verachtung zurückgeben. ö 8 

Wo unläugbare Verdienſte und Vorzüge ſind, wird der Neid 
eben ſo geſchäftig ſein, als wo nur zufällige Glücksbegünſtigun⸗ 
gen glänzen. Der Selbftgefällige gibt ſich alſo muthwillig den 
Unannehmlichkeiten preis, welche der Neid der Menſchen herbei⸗ 
zuführen weiß; ja er fordert dazu auf. Und jo verächtlich ſonſt 
die Leidenſchaft des Neides iſt, wird ſie hier Jedem minder ta⸗ 
delnswürdig dünken, da durch den anmaßenden oder ſelbſtſchmeich⸗ 
leriſchen, ſelbſtgefälligen Ton Alle gekränkt werden, auch die, 
welche vom Neide rein ſind. A eie 

Es iſt ſehr gewöhnlich, daß Leute von ausgezeichneten Ver⸗ 
ſtaudesgaben das allerübelſte Mittel wählen, ſie in Anerkennung 
zu bringen — nämlich witzige Spöttelei über Andere. Dadurch 
gelingt es ihnen, ſich ſelbſt über ſolche Perſonen eine ſcheinbare 
Ueberlegenheit zu verſchaffen, welche ihnen ſonſt an Geiſtesvor⸗ 
zügen nicht nachſtehen, aber entweder die Leichtigkeit des Witzes 
nicht beſitzen oder zu beſitzen verſchmähen. Man liebt freilich in 
Geſellſchaft die heitern Einfälle, auch die boshaft ſtechenden; aber 
man liebt nicht den, der ſie hat. Denn wer lächelnden Mundes 
einen Andern lächerlich machen kann, wird, wenn Anlaß erſcheint, 
auch uns ſelbſt nicht ſchonen. Der Selbſtgefallige hat in der 
Welt nur einen Einzigen, den er von Herzen bewundert, achtet 
und liebt: dieſer Einzige iſt er ſelbſt. Für einen einzigen witzigen 
Einfall opfert er jedes andere ſchätzenswerthe Verhältniß auf. 

Man klagt wohl oft und mit Recht darüber, daß die geiſt⸗ 
vollſten Männer am meiſten verkannt und zurückgeſetzt zu werden 
pflegen. Doch darf man ſich nicht bergen, daß ſie ſelbſt das Meiſte 
dazu beitragen. Der Spotter, hätte er auch das beſte Herz, iſt 
der erſte Verleumder deſſelben;z man belacht ſeine Gedanken, aber 
haßt ſeine Denkart; und ſchwer wird ihm, zu beweiſen, daß am 
beißenden Scherz nur der Kopf, aber nicht das Herz Theil habe. 

So erwahrt ſich das Wort der heiligen Schrift: Hoffart iſt 

der Anfang alles Verderbens. Der Selbſtgefällige vereinzelt ſich, 
ſtößt die Zuneigung Anderer zurück und bringt ſich ſelbſt um die 
allgemeine Achtung, nach welcher er geizt. | 


u 


Aber er beraubt auch feinen eigenen Geift aller Vortheile, 
welche ihm die Ueberlegenheit gewähren könnte. Er hindert ſich 
ſelbſt, das Gute alles zu ſtiften, was er zu leiſten fähig wäre, 
weil er durch ſein Betragen Jedermann mehr oder weniger ge— 
reizt hat, ſein Gegner zu ſein. Was er auch unternehme, man 
hält ſeine Abſichten nicht für rein; man weiß oder fürchtet, es ſei 
ihm nicht um das Gute der Sache, ſondern um die Schauſtellung 
der Talente zu thun. Man gefällt ſich ihm zu widerſtreben; iſt 
es nicht aus Neid, ſo iſt es aus Schadenfreude, aus Rache der 
gekränkten Eigenliebe. Denn ſo beſcheiden auch Jedermann von 
ſich ſelbſt denken und ſo willig man immerhin die Verdienſte oder 
Vorzüge des Andern eingeſtehen möge, werden doch wenige Men— 
ſchen ſein, die damit geſtehen möchten, daß ſie ſelber ohne allen 
Werth ſeien. 

Was man auch in der Welt Nützliches wirken wolle, man 
wird immer Gegner finden, die wegen Mißgunſt, eigenthümlichen 
Muthwillens, Eigenutzes, Hangs zum Gewohnten u. ſ. w. Hin⸗ 
derniſſe in Menge herbeizuſchaffen bemüht ſind. Es gehört bei den 
edelſten Abſichten oft der größte Aufwand von Klugheit dazu, 
fie ins Werk zu ſetzen. Mit jener anſtößigen Selbſtgefälligkeit 
vermehren wir aber die Menge Schwierigkeiten, und alle Geiſtes— 
vorzüge helfen nur dazu, daß wir weit weniger ausführen kön- 
nen, als der Mann von geringern Kräften und größerer Be— 
ſcheidenheit. 

Es ſchadet ſich folglich der Selbſtgefällige bei aller ſeiner 
Klugheit in der Achtung, die er wünſcht, in der Freundſchaft, 
deren er würdig wäre, in den Unternehmungen, die er bezweckt. 
Das heißt, ſeine glänzenden Eigenſchaften dienen ihm zum eigenen 
Nachtheil. Er handelt bei aller Klugheit unklug. Man hätte 
Recht, über dieſen Widerſpruch zu erſtaunen, wenn man nicht 
wüßte, daß jede Leidenſchaft eine wirkliche Selbſtverblendung, 
ein einſeitiger Wahnſinn wäre. 0 

Ein Fehler iſt gern die Quelle von andern. Die Ueber⸗ 
| ſchätzung eigener Geiſtesgaben und die Sucht, ſich durch ſie be— 
deutend zu machen, kann ſelten lange beſtehen, ohne, neben manchen 
| Verdrießlichkeiten von außen, manche Verſchlimmerung des Ge- 


“u 
2 


— HE 


müths zur Folge zu haben. Niemand ift geneigter, darüber zu 
klagen, daß man ihn verkenne, als der Selbſtgefällige. Es ſetzt 
ſich bei Niemand leichter Bitterkeit und Verhärtung gegen andere 
Menſchen an, als bei ihm, da er ohnehin ſchon geneigt ift, An⸗ 
dere zu überſehen und gering zu achten. Keiner wird empfaͤng⸗ 
licher für die Qualen des Neides ſein, als er, wenn er zu ſeinem 
Veidruſſe wahrnimmt, daß man bald Dieſem, bald Jenem Vor⸗ 
züge einraͤumt, die er ſelbſt mehr denn jeder Andere verdient zu 
haben glaubt, wenn es nach Recht und Billigkeit gegangen wäre, 
Niemand wird ſich williger als er zeigen, blind gegen das Gute 
zu ſein, was Andere haben, beſonders wenn es von der Art iſt, 
daß es ſeinen eigenen Vorzügen den Rang ſtreitig zu machen 
droht — — und ſo quillt eine Untugend aus der andern. Sünd⸗ 
liche Geſinnungen färben den Willen, und ein unreiner Wille 
leitet zum Vergehen. Hoffart iſt ein Anfang alles Verderbens. 
Jede Leidenſchaft, die einmal ihre Wurzel tief in unſer Leben 
eingeſchlagen hat, iſt ſchwer auszurotten; Vernichtung der Selbſt⸗ 
gefälligkeit vielleicht mit am ſchwerſten, weil ſie eine ungeheure 
Entartung der natürlichen Selbſtliebe des Menſchen iſt. Wer 
von ihr eingenommen ward, und fühlt, wie viel er ſich ſchadete, 
wird lange Zeit um die rechte Grenzlinie zwiſchen billiger Ach⸗ 
tung eigenen Werthes und Ueberſchaͤtzung deſſelben verlegen fein. 
Ohnedem iſt denen, welche von ſich in hoher Einbildung leben, 
eigen, daß ſie zuweilen gänzlich und an allem ihrem Werth mit 
großer Niedergeſchlagenheit zu verzweifeln pflegen, wenn ſie durch 
einen Anlaß zur Erkenntniß gelangen, daß ſie weniger in Dieſem 
und Jenem leiſten, als ſie leiſten zu können glauben. Selten 
werden ſie Maß halten. 

Ohne ächt⸗religibſen Sinn iſt die Ausrottung dieſer Untu— 
gend und ihres Verderbens ungedenkbar. Durch Klugheit zwar 
kann man ſich in den Aeußerungen derſelben befchränfen; man 
kann ſich zähmen, ſich verſtellen. Aber Heuchelei iſt nur ein Uebel 
mehr, und fo wenig die Tugend der Beſcheidenheit ſelbſt, als 
roth geſchminkte Wangen eines Sterbenden das Zeichen der Ge⸗ 
ſundheit find, Heuchelel von Demuth neben geheinter Anmaßung 
und innerer Selbſtbewunderung bilden die widerlichſte Verzer⸗ 


„ 


rung; verrathen ſich einander, als entgegenſtehende Laſter, bei 
den meiſten Gelegenheiten, und geben ſich der Verachtung preis. 
Klugheit kann dir ſagen, daß, wer ſich gern vordrängt, ge⸗ 
wöhnlich den Schmerz erfährt, zurückgeſetzt zu werden. Klugheit 
kann dir ſagen, daß du durch die Art, wie du entweder Andere 
demüthigſt, oder dich und deine Talente zur Schau ſtellſt, Geg⸗ 
ner erweckſt und dir ſelber ſchadeſt. Klugheit kann dir Vorſicht 
anrathen. Allein dieſe Vorſicht ſteht mit den Zwecken deiner Ber 
gierde im Widerſpruch. Du bemühſt dich vergebens, die Art und 
Weiſe zu ändern, in welcher fich deine Neigung zu glänzen und 
zu denken offenbart — die Neigung ſelbſt mußt du vertilgen. 
Aber du kannſt ſie nur vertilgen durch reine Religioſitaͤt, durch 
wahren Ehriſtusſinn: Habe Gott vor Augen, nicht Menſchen⸗ 
beifall! Liebe das Gute, was du ſtiften kannſt, darum weil es 
gut und recht iſt, nicht weil du dabei Gelegenheit findeſt, dich zu 
zeigen. Verlauge nichts für dich, Alles für Andere. Erwirb 
Andern Lob, nicht dir. Verläugne dich ſelbſt, und folge Jeſu 
nach, der bei erhabneren Eigenſchaften und unendlich groͤßern 
Verdienſten um die Menſchheit dennoch das liebenswürdigſte Bei⸗ 
ſpiel der Demuth war. 
Dieſe Lehren freilich ſind leichter gegeben, die Vorſätze auch 
wohl bälder gefaßt, als erfüllt, ſelbſt wenn es wirklich darum 
zu thun wäre, einen Fehler abzulegen, der im Leben fo viele trübe 
Augenblicke und geheimen Verdruß ſchuf. Aber ſchon der einzige 
Gedanke, daß alle deine vortrefflichen Eigenſchaften ihren beſten 
Werth verlieren, weil du ihnen Werth beilegſt; daß dich Andere 
nicht loben, weil du fie auf feinere oder gröbere Weiſe zum Loben 
zwingſt; daß dich Niemand von Herzen lieben kann, weil du dich 
ſelbſt mit Unmäßigkeit liebſt und ſchmeichelſt, Andere hingegen 
allzulieblos ihren geringern Werth fühlen läſſeſt — ſchon dieſer 
Gedanke muß dir auch das Schwerſte erleichtern. So wie eine 
Jungfrau minder ſchön iſt, ſobald ſie ihre Schönheit anerkennen 
machen will, und die am liebenswürdigſten iſt, welche nicht weiß, 
daß ſie es iſt: jo umringt den Beſcheidenen die herzlichſte Freund— 

ſchaft, die ungeheucheltſte Hochachtung, der darauf die allerwenig⸗ 
ſten Anſprüche zu haben glaubt. 


— Mi = 


Erinnere dich, daß deine Vollkommenheiten keineswegs darum 
ſchätzenswerth ſind, wenn du ſie haſt, ſondern erſt, wenn du 
Andern damit Nutzen oder Freude bringſt. Erinnere dich, daß 
du die falſchen Mittel wählteſt, dir Liebe und Zutauen zu ge⸗ 
winnen, wenn deine Eitelkeit die Selbſtliebe Anderer verwundet. 

Außerdem iſt gewiß, daß jeder Menſch ſeinen eigenthümlichen 
Werth hat, Gaben und Eigenſchaften, in denen er dich übertrifft. 
Gerecht war Gott in Vertheilung ſeiner Güter; du aber biſt auf 
Erden nicht der Begünſtigte. Andere übertreffen dich in dem, 
worin du ſchwach biſt. So, bei aller ſcheinbaren Ungleichheit, 
herrſcht unter Geiſtern mehr Gleichheit, als du vermutheſt. Es 
iſt möglich, daß du ſchnellere Urtheilskraft, durchdringendern 
Scharfſinn haſt, als Dieſer oder ein Anderer; er aber übertrifft 
dich vielleicht durch ruhigere Ueberlegung, durch Kraft des Ge⸗ 
dächtniſſes, durch beſſere Ordnung in ſeinen Vorſtellungen. Du 
prangſt mit regerer Einbildungskraft und Empfindungsvermögen; 
ein Anderer übertrifft dich durch Gründlichkeit der Kenntniſſe. 
So haben wir von Gott allerlei Gaben empfangen, nicht Einer 
Alles, daß wir uns damit unter einander dienen ſollen. Und 
derjenige, welcher nach deiner Meinung dir wohl in allen Dingen 
nachſteht, iſt dennoch vorzüglicher, und gerade dadurch Vielen 
angenehmer, daß er weniger anſpruchvoll, dünkelhaft und heim⸗ 
lich ſtolz iſt, als du biſt. 

Blicke auf das, wodurch andere Perſonen Liebe und Beifall 
erlangen, und du wirſt empfinden, daß dir noch Vieles fehlt. 
Sie haben mehr und aufrichtigere Freunde, als du, folglich für 
andere Menſchen wahrern Werth als du. Blicke auf deine eigenen 
Unvollkommenheiten; und wenn es dir die groben Täuſchungen 
deiner Eigenliebe noch geſtatten, einen Augenblick gerecht gegen 
dich ſelbſt zu ſein, ſo wirſt du erkennen, daß du nicht vorgezogen 
zu werden verdienſt, weil Andere in der That beſſer ſind, als du 
biſt; daß man dich nicht allgemein ſchätzen und lieben kaun, weil 
du nicht ſo liebenswürdig zu ſein weißt, wie es Andere ſind. 

Und dann, mein Schöpfer, mein Richter, von dem ich jede 
gute Eigenſchaft meines Geiſtes empfing, als ein Pfund, mit 
welchem ich nicht glänzen, ſondern nützen ſoll: welch ein Recht 


— 391 — 


kann ich haben, auf das ſtolz zu ſein, was ich nur Deiner Gnade 
danke, und für deſſen Anwendung ich Dir verantwortlich bin? 


Warum ſollte ich doch nach Bewunderung und Beifall von Men⸗ 
ſchen dürſten, die, wenn ich heute ſtürbe, mich in wenigen Tagen 
vergeſſen haben würden, während Du ewig lebſt, und ewig mich 
betrachteſt! Dein Wohlgefallen iſt das wahrhaft wünſchenswerthe 
Ziel des unſterblichen Geiſtes. Was liegt daran, um Bewun⸗ 
derung von Menſchen zu buhlen, die in ihren Urtheilen ſo be— 
ſchraͤnkt und veränderlich find, daß ihnen heut gleichgültig wird, 
was fie geſtern über Alles erhoben? Du, Herr, biſt unveränder⸗ 
lich, in Deinem Segen und in Deinem Gericht! — Ach, daß ich 
um die mir anvertrauten Gaben nie dieſes zu fürchten, immerdar 


jenen zu hoffen hätte! Amen. 


44. 
Der Chriſt in den Erholungsſtunden. 


Pred. Sal. 3, 1. 


Schon oft habe ich über die würdigſte Beſchaͤftigung meiner 
Nebenſtunden nachgedacht. Dieſe Nebenſtunden, in welchen ich 
meinen Geiſt zerſtreuen ſoll, damit er neue Kräfte, neuen Muth 
ſammle, find demjenigen nicht gleichgültig, welcher mit dem Föft- 
lichen Geſchenk des Lebens recht wuchern, und keinen Augenblick 
deſſelben thöricht verſchwenden möchte! Dieſe Nebenſtunden find 
ein großer Theil meines Daſeins; auch von ihnen und ihrer wei- 
ſen Anwendung werde ich einſt Rechenſchaft ablegen müſſen, als 
von einem Theil des mir anvertrauten Pfundes! 

Wie falſch verſteht der Menſch oft fein Leben, wie wenig be> 
greift er den Werth der kurzen Augenblicke, die ihm hienieden 
zu fein vergönnt find! Oft iſt ihm die Zeit eine Laſt, die er ab⸗ 
werfen möchte. Er ſeufzt über die Länge der Zeit, welche, wenn 
er früher oder ſpaͤter am Ende derſelben ſteht, wie ein flüchtiger, 
kurzer Morgentraum vorübergeeilt iſt. Umſonſt ſchmachtet er dann 
nach den fruchtlos verlornen Wochen, nach den verſchwendeten 


— 892 — 


Jahren. Umſonſt wünſcht er dann ſein Leben erneuern zu können, 
um es mit größerer Weisheit zu genießen. Umſonſt fühlt er dann 
die furchtbare Wahrheit, daß jede durch eigene Schuld verlorne 
Minute ein Selbſtmord, ein Raub an ſeinem Leben war, daß 
fruchtlos gelebt zu haben, kein Leben mehr war. } 

Man ſpricht vom Zeitvertreib; man erfindet Künſte, die Zeit 
zu vertreiben, dieſe köſtliche Gottesgabe! — O Thoren, bemühet 
euch nicht, die Zeit zu vertreiben, wahrlich, ſie vertreibet euch! 

Die Stunden fliegen an üns mit reißender Eile hin. Wo 
ſind die Jahre geblieben, die du lebteſt; was haſt du von ihnen 
behalten? Eine zerriſſene, ſchwache Erinnerung. Wo ſind die 
Blumen, die du einſt in ſeligen Augenblicken pflückteſt? Sie ſind 
Erde und Aſche geworden. Wo ſind die Freunde, mit welchen 
du dich einſt ſo innig verbunden hatteſt? Der Strom der Zeit riß 
ſie von deiner Seite, manchen in die Fremde, manchen in das 
Grab. Und die Geſänge der Freude, in welche du ſo oft deine 
Stimme miſchteſt? Sie ſind verhallt. Und die Geſpielen deiner 
Jugend? Sie ſind veraltet, und kennen dich nur noch kaum. Und 
ſo manche große und kleine Entwürfe, die du machteſt für die 
Zukunft? Sie ſind zum Theil ausgeführt und vergeſſen. Was 
iſt dir endlich von allen deinen Hoffnungen und Sorgen, von 
deinem Fleiße und deinem Trachten, von deinen Thränen und 
deinen Wünſchen geblieben? Nichts als dein vorgerücktes Alter. 
Du retteſt nichts, nicht deinen Vater, nicht deine Mutter, nicht 
deine Geſchwiſter, nicht deine Kinder, nicht dein Haus, nicht 
deine Stärke, nicht deine Schönheit: Alles reißt der eilende Strom 
der Stunden endlich mit ſich hinweg, bis du ganz verlaſſen, ganz 
einſam am Ufer der Ewigkeit ſtehſt; — die letzte Stunde ergreift 
dich nun ſelbſt, raubt dir das Leben — du behältſt nichts, als 
dich ſelbſt. Dein von Allem entkleideter Geiſt ſteht vor Gott, 
ſein Urtheil zu hören! 

Die Stunde flieht, und die Minute iſt ſchneller als dein Ge⸗ 
danke. Der Augenblick, den du jetzt empfindeſt, gehört dir nicht 
mehr, und der kommende iſt ſchon wieder an dir vorübergeflogen. 

Sinne nicht auf das Vertreiben der Zeit; ſie ver— 
treibt dich. Sie hat dich vertrieben aus dem Paradieſe der Kin— 


— 393 — 


derjahre, da du ſorglos umherhüpfteſt; ſie vertreibt dich aus den 
Armen deiner Lieben, aus dem Hauſe deiner Aeltern, aus dem 
Schooße deiner Familie, aus dem Leben hinweg. 

Daran erkennt man den Weiſen, daß er die göttliche Gabe 
der Zeit zu würdigen verſteht, daß er mit den Stunden wuchert. 
Weil ihm endlich nichts bleibt, als ſein Geiſt, ſo trachtet er, 
dieſen Geiſt zu veredeln und feine Vollkommenheit zu vermehren. 
Denn nur dieſe, ſonſt nichts, rettet er aus der vernichtenden Fluth 
der Jahre; nur dieſe, ſonſt nichts, nimmt er als Beute aus dieſem 


Leben mit ſich hinüber in ein zweites Leben. 


Auch die Stunde der Erholung will der Chriſt nicht ver⸗ 
ſchwenden. Der Menſch iſt für das erhabene Ziel, dem er nach— 
eilen ſoll, zu arm an Zeit, darum hat er keinen Augenblick 
wie einen Ueberfluß wegzuwerfen. 

Gewöhnlich legen wir in unſerm Leichtſinn auf die ſoge— 
nannnten Nebenſtunden zu wenigen Werth. Wir halten ſie 

gleichſam für etwas Erſpartes, mit dem wir nach Willkür ſchal⸗ 
ten können. Wir denken zu ſelten daran, daß auch unſere Er⸗ 
holungen einen Werth für die Ewigkeit haben müſſen. Wir ſind 
gleichgültig in der Auswahl unſerer Vergnügungen, und halten 
ſie dann ſchon für gut, wenn ſie uns die Zeit angenehm ausfüllen, 
die wir ihnen widmen wollen. Wir vergeſſen es oft, daß wir 


eben in den Stunden der Zerſtreuung von ernſten Arbeiten auf 


uns ſelbſt am mehrſten achten ſollen, weil die Ruhe des Gemüths 
da am erſten geſtört, und der Grund zu mancherlei innern und 


aͤußern Leiden gelegt werden kann. 


Ein Jegliches hat ſeine Zeit, und alles Vornehme unter dem 
Himmel hat ſeine Stunde! ruft uns der Prediger Salomo zu. 
Allerdings ſind für uns Stunden der Ruhe, Ergötzlichkeiten oder 


der Genuß ſinnlicher Freuden unentbehrlich. Auch ihnen muß 
ein Theil unſerer Zeit gewidmet bleiben. Sie ſind unentbehrlich 


für unſern Geiſt, daß er immer zur höhern Thaͤtigkeit fähig bleibe, 
und nicht unter anhaltender Arbeit erſchlaffe; ſie ſind unentbehr⸗ 


lich zur Erhaltung unſerer Unverdroſſenheit und Munterkeit, zur 
Stärkung unſerer Leibeskräfte, zur Bewahrung unſerer en, 
heit und unſers Lebens. 


— 394 — 


Nicht vergebens hat Gottes Güte uns mit ſo unzähligen, zum 
Genuſſe einladenden Gegenſtänden umringt; nicht vergebens legte 
er den Trieb zur Freude in unſere Bruſt. Gott, der ewig gute 
Vater, will die Freuden ſeiner Kinder. Die Fröhlichkeit aller 
ſeiner Geſchöpfe ermuntert uns zum heitern Genuß des Lebens, 


und ſein Wort ſelber fordert uns dazu auf. Freuet euch in dem 


Herrn allewege! (Phil. 4, 4.) 


Allein die Arten der Ergötzlichkeiten, welche wir aufſuchen, 


und die uns Gott in unſern Verhältniſſen zu genießen geſtattet, 
ſollen für uns nur Mittel ſein zur Erheiterung des Gei⸗ 
ſtes, zur Stärkung unſerer Geſundheit; wir ſollen aus 
ihnen nicht den Zweck unſers Lebens machen. Wir ſollen uns 


laben, um nicht müde zu werden im Gutesthun. Nur derjenige 
hat am meiſten gelebt, der am meiſten gethan und gewirkt hat; 


ſo wie Gott immerdar wirket in unſerer Seligkeit. Derjenige hat 


am wenigſten gelebt, welcher, unbekümmert um Menſchenglück, ſo 


er befördern ſollte, nur in ſinnlicher Wolluſt ſchwelgte, nur ge⸗ | 


noß, wie das Thier auch genießt, ohne ſich höherer Zwecke be⸗ 
wußt zu ſein. f 
Die Stunden der Erholung muͤſſen daher jederzeit 


in einem zweckmäßigen Verhältniſſe zu den Stunden | 
nützlicher Beſchäftigungen ſtehen. Chriſtus, in feinem. 


Leben voll heiliger Thaten, ruhete nur, wenn feine Kräfte von 


ihm wichen. Er entſchlief unter Sturmwinden. (Luk. 8, 23.) 
So ſoll auch jeder ſeiner Nachfolger nur dann erſt Erholung 


ſuchen, wenn er fühlt, daß die Kräfte feines Geiſtes und feines 
Leibes unter der Anſtrengung zu erliegen drohen, und daß eine 
Zerſtreuung des Gemüthes, ein angenehmer Wechſel der Ber 
ſchaͤftigungen wohlthätig ſei. 

Wie leicht man aber über dies Mittel zur Geſundheit des 


r * 


Geiſtes und des Leibes den wahren Zweck deſſelben vergißt, 
und wie leicht und lebhaft die Begierde nach Zerſtreuungen in 


uns auflodert, davon erfahren wir täglich Beiſpiele. Wir ſehen 


Menſchen, die ſich nicht die Arbeit zu einem Vergnügen, ſondern 
das Vergnügen und die Zerſtreuung zu einer Arbeit, zum Haupt⸗ 


zweck machen. Sie haben genug zu ſorgen, um ihre Vergnuͤgungs⸗ 


5 


* 


— 395 — 


arten zu erfinden, mannigfaltig zu machen, zu ordnen. Sie kennen 
keine größere Mühe, als ſich die verſchiedenſten Luſtbarkeiten zu 
verſchaffen, weil der übermaͤßige alltägliche Genuß derſelben ihnen 
Ueberdruß erregt. 

Dieſe Sucht nach Zerſtreuungen iſt eine wahre Seelenfranf- 
heit, ein Laſter unſerer Tage, welches nur ſelten dafür gehalten 
wird, und ſich immer weiter über alle Stände ausbreitet. Es 
verſchlingt die ſchönſten und koſtbarſten Stunden, welche man 
den Berufsgeſchäften entzieht, und erzeugt endlich Entwöhnung 
von nuͤtzlicher Arbeitſamkeit. Man vollſtreckt feine Pflichten nur 
zwangsweiſe, und ſinnt darauf, wie man ſich der Arbeit entziehen 
könne, um wieder in den Kreis der Luſtbarkeiten einzutreten. 
Man wird zu allen Verrichtungen unfähig, welche Anſtrengung 
und Ausharren erfordern; man verliert den Geſchmack für nütz⸗ 
lichere Beſchaftigungen; man entſchlägt ſich der fchönften Pflich- 
ten; man verliert den Sinn für die zarten Freuden des Gemüthes; 
man ſieht den Verfall, die Zerrüttung feines Hausweſens, die 
Entfremdung ſeiner Freunde; man opfert dem Genuß nicht nur 
ſein Vermögen durch unbeſonnenen Aufwand, ſondern ſelbſt ſeine 
Ehre, ſeinen Ruf. Man genießt, ohne zu genießen, und macht. 
den Genuß zuletzt nicht zu einer Freude, ſondern au ei einem quälen 
den Bedürfniſſe der Gewohnheit. 

Wer iſt's, wer kennt nicht die ſchreckliche Seite der Zer⸗ 
ſtreuungsſucht, dieſes taglich beliebter werdenden Laſters? — 
Sehet die Jünglinge, welche, von der Lebensweiſe ihrer Vaͤter 
entartet, ihre Tage im geſchaͤftigen Nichtsthun vergeuden! Ihr 
findet ſie auf den Straßen, an allen Orten öffentlicher Luſtbar⸗ 
keit — ſelten im rühmlichen Gewerbe. Entwöhnt von der Ar- 
beit, verſchwenden ſie das Gut ihrer Vorfahren, und nutzlos für 
das Vaterland, nutzlos für die menſchliche Geſellſchaft, ſpotten. 
ſie der bürgerlichen Ordnung, die ihre Lüſte beengt, bis das Laſter 
ſie entnervt einer traurigen Armuth oder einem frühen Grabe aus⸗ 
liefert. — Sehet den Hausvater, den die Zerſtreuungsſucht ver⸗ 
giftete. Er gehört nicht mehr feinen Gefchäften, nicht mehr der 
Gattin, nicht mehr den Kindern, nicht mehr ſich ſelbſt, fondern- 
den lachenden Geſellſchaften, in welchen er unter elenden Nichts⸗ 


— 396 — 


würdigen Alles vergeſſen kann, was gut und groß und gerecht 


iſt. — Sehet die zerſtreuungsſüchtige Hausmutter — ach, fie iſt 
des edeln Namens der Hausmutter nicht mehr würdig! Dem Ge⸗ 
finde überläßt fie die Sorge um das Haus, und ihre Kinder ſtehen 
wie Waiſen da, welche nur ſelten das Glück haben, die verach- 
tungswerthe Mutter zu umarmen, welche lieber am Spieltiſch 
oder im Tanze ſchimmern, oder in müßigen Verſammlungen 
glänzen will. Die Mutterpflichten ſind ihr fremd geworden; 
häusliche Glückſeligkeit iſt ihr etwas Unbekanntes; in ihrer eigenen 
Wohnung wird ſie ſich unerträglich; nur unter Fremden iſt ſie 
daheim, unter Freunden und Kindern iſt ſie fremd. 

Woher ſo manche unglückliche Ehe? Woher ſo manche Ent⸗ 
artung der Kinder? Woher ſo mancher Ruin der Geſundheit? 
Woher ſo mancher Verfall eines rühmlichen Wohlſtandes? — — 
Es find die Geißeln, welche das Laſter über feine eigenen Ver⸗ 
ehrer ſchwingt; es ſind die unſeligen Wirkungen der Wuth nach 
Zerſtreuungen. 


Der Chriſt iſt in den Stunden ſeiner Erholung nicht uner⸗ 


ſättlich. Er liebt ſie, aber mit Vorſicht und Mäßigung. Er liebt 
ſie, wie ein müder Arbeiter die Ruhe. Seinen höchſten Genuß 
findet er, wie Gott, in der größten Thätigkeit für Menſchenwohl 
und im Anſchauen ſeiner Werke. 


Welche Wolluſt liegt für mich in dem Gefühl, das Glück 


meiner Familie, meiner Mitbürger auf irgend eine Art vermehrt, 
meine Berufsgeſchäfte mit ehrenvoller Treue geübt, und Anſpruch 
auf die Achtung und Dankbarkeit der Welt erworben zu haben! 
Wie ſüß iſt nach dieſen nützlichen Anſtrengungen meiner Kräfte 
die Erholung! 

Aber auch in den Stunden der Erholung muß ich Chriſt 
ſein. Es iſt nicht gleichgültig, welche Art der Ergötzlich— 
keit ich mir wähle. Nenne mir deine Unterhaltungen in den 
Nebenſtunden, und ich will dir ſagen, was du werth biſt! 

Der Chriſt verſchmäht jede Erholung, welche nicht zu den 
unſchuldigen Lebensfreuden gezählt werden darf. 

Unſchuldig alſo ſollen meine Erholungen ſein, daß heißt, 
an ſich ſelbſt nicht böſe. Es iſt der Würde des Chriſten un⸗ 


— 397 — 


angemeſſen, ſeine Freuden auf Unkoſten fremder Glückſeligkeit zu 
genießen. Nur die Hölle mag ſich in den Thränen Anderer ein 
Entzücken bereiten, und Wolluſt in Anderer Schmerz ſuchen. — 
Wehe dem, der, um ſich zu erholen, feine Freuden am Scha⸗— 
den des Bruders findet. Er reißt wie ein Wahnſinniger 
das Gute in den Stunden der Ruhe nieder, was ſeine Hand in 
den Stunden des Fleißes baute, und knüpft an ſeine flüchtige 
Luſt den Fluch der Erde und des Himmels. 

Nein, nicht des Chriſten würdig, nicht unſchuldig iſt das 
Frohlocken über Fehler, Gebrechen oder üble Ereigniſſe des 
Nächſten; nicht unſchuldig ſind jene Freuden der Verleumdung, 
jene Ergüſſe der Klatſchereien, wodurch ſchon der Friede ſo manches 
Hauſes unterbrochen, jo manches Band der Freundſchaft zer- 
riſſen ward! — Ein edlerer Geiſt ſucht edlere Genüſſe. Gefällt 
ſich das vernunftloſe Thier in ſeinem Schlamme, der Sünder in 
ſeinen Leidenſchaften: der Chriſt gefällt ſich nur in dem, was 
ſeiner Würde, feiner hohen Beſtimmung gemäß, was unſchuldig 
iſt und edel. j 

Selbſt ſolche Erholungen genießt er mit Vorſicht, die, ob« 
wohl an ſich ſelbſt ganz unſchuldig, dennoch leicht zum Böſen 
anreizend ſind. Dahin gehören alle diejenigen Vergnügungen, 
welche das Gemüth mit ungewöhnlicher Lebhaftigkeit ergreifen, 
und die Sinne gleichſam berauſchen. Hier iſt's, wo der Nach- 
folger Jeſu am meiſten über die Unſchuld zu wachen hat; hier 
iſt's, wo die Sünde ſich mit Roſen umkränzt, das Verbrechen 


im Gewande der Fröhlichkeit lächelt, und die Leidenſchaft ihr Gift 


unter den Honig der Freuden mengt. 

Unſchuldig iſt das Spiel, welches eine leichte Uebung des 
Scharfſinnes und Witzes ſein kann; Karten und Würfel, indem 
ſie die Gewinnſucht oder den Stolz wecken, werden mörderiſche 
Werkzeuge für deine Gemüthsruhe in den Händen der Freude. 
Das Spiel hört auf, Mittel zur Erheiterung des Geiſtes zu ſein, 
wenn es, ſtatt zu vergnügen, die Empfindungen des Verdruſſes, 
der Angſt, oder der Schadenfreude erweckt. Es iſt nicht mehr 


Erholung, wenn es die frohe Laune raubt, die du in dieſer Art 
der Zerſtreuung ſuchteſt. N 


— 398 — 


Unſchuldig iſt die harmloſe Theilnahme an den Freuden, wo 
der geſellige Scherz und der Reiz edler Getränfe das Gemüth 
höher ſtimmt, und in heiterer Begeiſterung emporhaͤlt. Aber 
ſchlüpfrig iſt der Pfad der Luſt, und leicht im Taumel des Ver⸗ 
gnügens die zarte Grenzſcheide überſchritten zwiſchen dem Genuſſe 
der Freude und wilder Ausgelaſſenheit. 

Unſchuldig iſt noch manche andere Art der Erholung, aber 
ſchuldig wird fie durch den Mangel weiſer Nüchternheit, feſter 
Beſonnenheit. — Nicht im Augenblick der Gemüthsſtille, nein, 
in dem Augenblicke, wo lebhaftere Empfindungen das Herz be- 


ſtürmen können, iſt der Chriſt am meiſten Chriſt; denn da gilt 1 


es den Kampf um Herzensreinheit und Seelenruhe. 

Aber wie mancherlei Ergötzlichkeiten ſind nicht noch vorhan⸗ 
den, wie vielerlei Erholungen, welche, weit entfernt, dem Her— 
zen gefährlich zu fein, ihm wahrhafte Wohlthat werden; Er- 
holungen, mit welchen ſich ſogar nützliche Zwecke verbin⸗ 
den laſſen! 5 

Fröhliche Unterhaltungen, Scherze und belehrende Gefpräche: 
im engern Kreiſe der Familie, harmloſe Spiele mit unſern Kin⸗ 
dern und Freunden ſtimmen das Gemüth zur reinen Freude, und: 
oͤffnen es zärtlichen Empfindungen. — Das Leſen nützlicher 
Bücher erhebt den Geiſt über das Alltägliche des gemeinen Lebens, 
erfüllt ihn mit neuen Kenntniſſen der Welt, des Menſchen und: 


der Natur. Er veredelt ſich dadurch auf eine ſchnellere Weiſe; 


und je heller feine Einſichten werden, je würdiger werden feine 


Vorſtellungen von der Größe und Majeſtät Gottes. — Oder 
willſt du die Einſamkeit meiden, tritt hinaus in den Tempel der 


Natur, und ergötze dich in Betrachtung der göttlichen Schöpfungen. 
Betrachten heißt dann aber nicht ein bloßes, gedankenloſes An— 
ſchauen der Dinge um dich her, ſondern auch Nachdenken uber 
die Abſichten, Zwecke und wunderbaren Einrichtungen derſelben. 
Wähle dir den Umgang einſichtsvoller Freunde, die dich über 
Manches ſelbſt belehren, oder durch Empfehlung eines weiſen, 
Buches deine Kenntniſſe in der Natur aufheitern können. Nicht 
minder ſüß und edel und des Chriſten würdig iſt das Erforſchen, 
der Lage unglücklicher Familien, leidender Perſonen. Suche ſie 


r 


EN. 


7 


— 399 — 


auf, zeige ihnen deine Theilnahme, bringe ihnen nach deinen 
Kräften zweckmäßige Unterſtützung, hilf ihnen mit deinem Rath! 

Wenn Engel einer Erholung bedürften, ſo würden ſich 
Engel auf dieſe Weiſe ergötzen. 

Doch, es iſt genug, daß ich jetzt lebhaft überzeugt bin, daß 

ſelbſt die Stunden der Zerſtreuung und Erholung dem Chriſten 
von hoher Wichtigkeit ſein müſſen. Ich will mir hier nicht alle 
Arten froher Genüſſe ſchildern; wie könnte ich's auch, da Gottes 
Güte mir dieſelben ſo reichlich und abwechſelnd jeden Tag ent⸗ 


gegenbietet! — 


Du läſſeſt, o Quell aller Freude, o ewiger Urheber aller 
Seligkeit, keines Deiner Geſchöͤpfe ſchmachten. Jedem haft Du, 
dem Seraph vor Deinem Throne und dem Wurme, der am 
Halme hängt, eine Luſt bereitet in ſeiner Art. Warum ſoll ich 
denn nach Zerſtreuung jagen, und ſie ſo begierig aufſuchen, da 
Du doch, o mein Gott, mein Schöpfer, überall an meinem Le- 
benswege Freuden groß und klein ausgeſtreut haſt! 


4 5 


45. 
Der Tag der Sorgen. 
Matth. 6, 34. 


Gott iſt meine Zuverſicht; 
Der mich ſchuf, wird mich bewahren! 
Ihm vertrau'n iſt Luſt und Pflicht; 
Er kann wenden die Gefahren. 
Freude, Dank, Vertrau'n gebührt 
Dem, der mich bisher geführt. 


Dab ich troſtlos je geweint? 
Bluteten ſtets meine Wunden? 
Wo ich hilflos mich gemeint, 

Hab' ich Hilfe nicht gefunden? 
Ward ich, wenn ich zu ihm floh, 
Selbſt nicht meiner Thränen froh? 


Führe Du mich, Vater, Du; 
Nichts kann mein Vertrauen rauben: 
Weisheit iſt's und Seelenruh', er 
Kindlich treu' an Dich zu glauben. e 
Seh’ ich keinen Strahl von Licht: I: 
Du biſt mein; ich zage nicht. 


Wer hat ihn nicht gehabt, wer hat ihn nicht noch, ſeinen Tag 
der Sorgen? — Wo wäre ein Sterblicher ohne ihn? Selbſt das 
harmloſe Kind iſt ihm nicht fremd. 


Und wie mancherlei ſind die Sorgen, die ſchwarzen Begleiter 


unſers Lebens, die Jeden quälen! — Wie manches Geſicht lächelt 
uns an, welches ſich eben ſo ſchnell in der Einſamkeit wieder 
verfinſtert; wie manches gute Herz verhehlt den nagenden Wurm, 
von dem es gefoltert iſt! 

Man pflegt ein ſorgloſes Leben das glücklichſte zu nennen — 


allein auf dieſe Weiſe iſt kein Menſch einer ungetrübten Glück⸗ 


ſeligkeit fähig. 

Inzwiſchen müſſen wir doch auch hier eine Wahrheit beken⸗ 
nen, daß, ſo ſchmerzlich und beängſtigend wohl das Sorgen ſei, 
es dennoch für den Menſchen eine Quelle künftiger Zufrieden— 
heit iſt. 

Es iſt gut, daß wir zuweilen unſere Sorgen haben, denn es 
bringt Ernſt und Nachdenken in unſer Leben. In ununter- 


— 401 — 


brochener Luſt würde die Luſt und das Leben uns zuletzt anekeln; 
würden wir ſelten unſers beſſern Werthes, unſers höhern Be⸗ 
rufs gedenken; würden wir vergeſſen, daß wir durchaus für uns 
nichts ſind, nichts haben, ohne den Beiſtand und Willen Got⸗ 
tes. — Viele Sterbliche, die lange ohne den Gedanken und die 
Empfindung der Religion dahin lebten, erhoben ſich erſt zur 
wahren Andacht, zum innigen Gebet, zur ächten Religioſitaͤt, 
zum Halten an Gott, wenn ſie in ſchweren Bedrängniſſen keinen 
Troſt, keine Hilfe, keine Ausſicht fanden. 

Es iſt gut, daß wir zuweilen auch den Tag der Sorgen er⸗ 
leben, denn ohne ihn würden wir planlos, wie das Thier, von 
einem Augenblick zum andern hinleben, ohne der Zukunft ein⸗ 
gedenk zu ſein. Wir würden leichtſinnig in der Jugend unſerer 
alten Tage vergeſſen; wir würden unterlaſſen, zur rechten Zeit 
die Saaten auszuſtreuen, von deren Aernten wir uns erhalten 
wollen; wie würden, unbekümmert um das Schickſal unſerer 
Nachkommen, dieſen die Mittel anftändiger Verſorgung ent⸗ 
ziehen. Nur der Leichtfertige verkennt ſeine Pflichten gegen die 
kommenden Zeiten; nur der Verſchwender ſcherzt mit dem gegen- 
wärtigen Augenblick allein, um mit einem künftigen Jahre zu 


klagen. 


Es iſt gut, daß wir auch den Tag der Sorgen kennen Halle ; 
er iſt's, der uns auf unfere eigenen Fehler und Unbeſonnen⸗ 
heiten aufmerkſamer macht, als der treueſte Freund, indem er 
uns vor den Folgen unſerer unklugen oder leidenſchaftlichen 


Handlungen zittern läßt. Der Menſch, welcher, unbekümmert 


um Recht oder Unrecht, nichts mehr fürchtet, iſt eben io elend, 
als wer nichts mehr zu hoffen hat. Furcht und Hoffnungen ſind 
die Wegweiſerinnen des irrenden Sterblichen zum Tempel der 
Tugend und dauerhaften Seligkeit. 

Wenn ich die Natur der menſchlichen Sorgen betrachte, um 
zu ergründen, wie ich mich von den quälendſten derſelben all⸗ 
mälig befreien könnte, muß ich nothwendig auf die Urſache ihrer 
Entſtehung zurückblicken. 

Die meiſten derſelben entſpringen aus der Furcht vor den 
Folgen meiner Unbeſonnenheiten und der von mir einge 


= WB 5 


ſchlagenen Fehlwege. Sie find alſo nur die bittere Frucht meiner | 


Leidenſchaft, oder Ungerechtigkeit, oder meines Leichtſinnes, der 
allerdings oft eben ſo ſtrafbar ſein kann, als die Bosheit ſelbſt, 
weil beide zu gleichen Vergehungen leiten. — Keine Art der 
Sorgen iſt für das menſchliche Gemüth peinigender, und doch 
auch keine leichter von uns abzuwehren, als dieſe. Laſſen wir 
uns durch das unglückliche Beiſpiel Anderer, die aus ähnlichen 
Gründen ähnliche Schuld büßten, vor ähnlichen Unklugheiten 
warnen, und vorſichtiger in Worten und Unternehmungen wer⸗ 
den. Laſſen wir uns warnen durch die erſte Furcht vor den Fol⸗ 
gen allzuleichtſinnig begangener Fehler — und vermeiden wir 
dieſe in Zukunft mit jeder möglichen Vorſicht. Hier iſt kein An⸗ 
derer die Urſache der uns drohenden Uebel; hier ſind wir es allein 
ſelbſt. Wer die Furcht meiden will, meide die Unbehutſamkeit, 
welche unangenehme Folgen nach ſich zieht. — Nicht die Ver⸗ 
drießlichkeiten, welche eine Frucht unſers Benehmens ſind, kön⸗ 
nen wir zurücktreiben; wohl aber ſteht es in unſerer Macht, ob 
wir die Saat des Uebels ausſtreuen wollen oder nicht. 

Manche andere Sorge entſpringt bei uns in der Ungewiß⸗ 
heit der Zukunft und der Furcht vor ſolchen Ereigniſſen, die 
wir weder verſchuldet, noch veranlaßt haben, noch durch unſere 
Kraft verhindern können. — Hier ſtehen wir in höherer Gewalt, 
in der Hand deſſen, der dem Maͤchtigſten der Sterblichen wie dem 
Schwächiten fein unvermeidliches Schickſal bereitet. — Fühlſt 


du dich rein von eigenen Vorwürfen, ſo lerne, in deine Unſchuld 
gehüllt, feſten Muthes jedes Schickſal erwarten, und ſieh der zu⸗ 
kunft fo männlich entſchloſſen, jo chriſtlich ſtolz entgegen, als dau 
männlich und chriſtlich in deiner Vergangenheit gehandelt haft. — 


F ˙ LA LA u a nn, 


an 


e. 


Du trachteſt umſonſt, das, was geſchehen ſoll, abzuwehren, du 


kaͤmpfeſt umſonſt gegen die Allmacht des Weltregenten! Deine 
einzige Pflicht unter ſo ſchweren Drohungen der Zukunft bleibt, 
allen Ernſt, alle Klugheit anzuwenden, dem anrückenden Uebel, 
auszuweichen, oder ihm nicht Alles preiszugeben. Und haſt du 
dieſe Pflicht gethan, daß du nicht mehr thun konnteſt, dann ver» 
zage nicht. Dann hoffe auf den allhelfenden Gott; er hat deiner 


nicht vergeſſen. Dein Schickſal, wie das Schickſal der Mächtige 


ui Me 


ften auf Erde, und des kleinſten Wurms, ift berechnet. Glaube 
an ihn, und was dir auch geſchehe, er iſt der Gott der Liebe! 
Sein Ziel für dich iſt Liebe, Wohlthat! — Er gibt dir dein 


Glück, und ſelbſt im Tode iſt kein Unglück, wenn du erhaben 


genug biſt, Chriſt zu ſein! — Wahrlich, der hat um die Be⸗ 
drückungen der jetzigen Zeit, oder wegen der Gefahren, die ihm 
noch bevorſtehen, weniger Sorgen, geringere Furcht, der Gottes 
Macht und Liebe recht zu beherzigen weiß, und voll Vertrauens 
ihm ſeine Sache anheimſtellt, während der Bedrängte von der 
andern Seite alle Klugheitsmittel ergreift, jedes mögliche Un- 
glück von ſich und n Seinigen abzuwenden, oder es doch zu 
vermindern. 

Aber der Hang zum augſtlichen Kümmern, Fürchten und 
Sorgen entſpringt gar oft auch nicht eigentlich aus bevorftehen- 
den oder gegenwärtigen wirklichen Uebeln, ſondern aus einem 
krankhaften Zuſtande des Körpers, aus Nervenſchwaͤchen 
und allzugroßer Reizbarkeit. Viele Menſchen ſind heutiges Tages 
mit dieſem Uebel behaftet, welches eine natürlich Folge entweder 
unſerer eigenen verzaͤrtelten Lebensart, oder derjenigen der Ael- 
tern geweſen ſein mag. 

Unter ſolchen Umftänden iſt die Heilung von übertriebener 
Furchtſamkeit allerdings ſchwierig, aber keineswegs unmöglich. 
Du haſt dieſe Krankheit, ſobald du fühlſt, daß du gegen Alles 
eine ſtarke Empfindlichkeit äußerſt; daß dich das Gute wie das 
Schlimme allzulebhaft ergreift. Hier iſt's deine Pflicht, den 
Rath eines verſtändigen Arztes zu vernehmen. Oft iſt 
ſolch ein Uebel beſtändiger Aengſtlichkeit nur Anzeichen größerer 
Krankheiten, die in deinem Körper entſtehen wollen. Hier hilft 
oft ſchon eine einfachere, ſtrengere Lebensart, vielfältige, oft er» 
zwungene Zerſtreuung, wo die trüben Gedanken durch fremde 
Gegenſtände und Beſchäftigungen ſchnell verdrängt werden. Frei⸗ 
lich nicht in den erſten Tagen iſt damit das Uebel verſcheucht — 
ſtrengere Lebensordnung und regelmäßige Zerſtreuung muß Mon- 
den und Jahre lang fortgeſetzt werden, um den ungeſunden Zu⸗ 
ſtand allmälig zu verbeſſern. 

Doch nicht körperliche Bewegungen und Zerſtreuungen, oder 


— 404 — 


die Mittel des Arztes, find allein vermögend, auf den Leib wohl- 
thätig einzuwirken — auch der Geiſt ſelbſt muß das Seinige thun. 


Er hat auf den Leib einen ungemein großen Einfluß; und fo 


gewiß es iſt, daß Menſchen bloß durch ihre krankhaften Einbil⸗ 
dungen in der That ihre Geſundheit zerſtören können, eben ſo 
gewiß iſt es, daß ein an ſich ungeſunder Leib durch Ruhe und 
ſtille Heiterkeit des Gemüths geneſen und gerettet werden kann. 
Daher finden wir, daß diejenigen Perſonen das hoͤchſte Alter zu 
erreichen pflegen, welche immerdar eine gewiſſe Gleichmüthigkeit 
zu bewahren wußten, und ſich weder einer allzugroßen Traurig⸗ 


| 


keit und Furcht, noch einer allzuunbändigen Freudenbezeugung 
überlaſſen. Sprich nicht: Aber dies kann der Menſch ſich weder 


nehmen noch geben; das liegt einmal in der Natur: Nicht Jeder 
vermag ſo viel über ſich! O du, der ſo redet, du gibſt damit zu 
verſtehen, du ſeieſt ſchon allzuſehr Sklav deines Fleiſches gewor⸗ 
den, ſo ſehr Sklav, daß du ſelbſt nicht einmal mehr den Ge⸗ 
danken zu denken wagſt, dir Gewalt anzuthun. Iſt es dir un⸗ 
bekannt, daß Gewohnheit endlich auch die Natur des Menſchen 
ganz verwandeln kann? Iſt es dir unbekannt, daß die Gewohn⸗ 
heit nur eine Folge von anhaltender Uebung iſt? — Verſuche 
es alſo, dir in allen deinen Verhältniſſen einen unzerſtörbaren 
Gleichmuth zu erhalten; in der Freude wie im Schmerz gleich 
enthaltſam zu fein, nichts allzulebhaft über dich herrſchen zu laf⸗ 


ſen, ſondern dich von Allem, es freue oder betrübe dich, durch 


augenblickliche ſchnelle Zerſtreuung und Abänderung des Gegen⸗ 
ſtandes loszuketten. 


Faſſe gewiſſe, durch tauſend Erfahrungen und durch deine 


eigene Vernunft bewährte Grundſätze, und hange 
dieſen mit eiſernem Willen an. — Du biſt gerettet. Deine 
Aengſtlichkeit, deine Sorgfalt wird dir verſchwinden, wie ein 
düſterer Nebel, durch welchen die fröhliche Sonne bricht. Deines 
Geiſtes ſtiller Gleichmuth wird dich vor unzähligen Mißgriffen 
in deinem Leben bewahren, zu welchen dich bisher allzugroße 
Empfindlichkeit oft verleiten mochte, und du wirſt ſchon darum 
natürlich weniger Unglücksfälle oder Unannehmlichkeiten für dich 


0 


= 


und die Deinigen zu befürchten haben, weil durch dein beſonnenes, 
ruhiges Betragen weniger Anlaß dazu gegeben wird. 

Eine übermäßige Furcht vor bevorſtehenden Widerwaͤrtigkeiten 
iſt das Kennzeichen ſchwacher Seelen. — Starke Gemüther ken⸗ 
nen die Sorge auch, aber ſie benutzen dieſelbe zur Vorſicht und 
zum entſchloſſenen Handeln für ihre Rettung. Der Schwächling 
verzagt, und geht im Strome des Uebels unter, weil er in der 
Angſt, von der er ſich zu ſehr einnehmen läßt, ſelbſt die Ret⸗ 
tungsmittel nicht ſieht, die doch nahe genug vor ihm liegen. Der 
Starke, Beſonnene verliert mit dem Glück nicht zugleich den 
Muth, es wieder erobern zu können. Er hält ſich kraͤftig über 
den Wellen empor, bis er ein Brett vom Schiffbruch erhaſcht, 
welches ihn rettet. 

Uebermaͤßige Sorge, der wir uns fortgeſetzt überlaſſen, ft 
eines der ſchrecklichſten Gifte für den Leib. Angſt und Kummer 
ſtören die Thätigkeit unſerer innerlichen Theile, hemmen die Frei⸗ 
heit derjenigen Gefäße in uns, welche edle und unedle Säfte von 
einander ſcheiden ſollen, oder deren Kreislauf befördern müſſen. 
So entſtehen mit den ungeſunden Säften wahrhafte Verletzungen 
unſers Korpers, die nicht ſelten deſſen ganze Auflöſung nach ſich 
ziehen. Wie viele Menſchen ſahen wir nicht, welche ohne maͤnn⸗ 
liche Faſſung, ohne Chriſtenthum, der Raub ihres Grams und 
ihrer Sorgen wurden; die unmerklich, ihrem traurigen Hange ſich 
überlaſſend, verblühten, hinwelkten und ſtarben! — — Sie ſind 
Selbſtmördern gleich zu achten, welche das Gift langſam ein⸗ 
ſchlürfen, an welchem ſie ihren Geiſt aufgeben wollen. 

Doch nicht allein der Körper wird durch das anhaltende 
Sorgen und Grämen geſchwächt, ſondern der Geiſt ſelbſt. Wie 
willſt du dich retten, wenn dann die befürchtete Noth wirklich 
eintritt, da du ſchon früh mit übertriebener Furcht die Kräfte 
deines Verſtandes gelähmt haſt? — Das aber verderbt den Geiſt 
am ſtärkſten, was ihn ohne Unterlaß beſchaͤftigt. Denn dies 
Einerlei der Sorge und Angſt ermüdet ihn; Ermüdung zieht 
Entkräftung, Stumpfheit, und in gewiſſen Lagen des Lebens 
endlich wahrhaften Blödſinn nach ſich. Hingegen Abwechſelung 
der Beſchäftigungen und Gedanken erquickt und ſtaͤrkt den Geiſt. 


— 406 — 


Sie macht ihn nicht zur nichtigen Beute einer einzigen Vor⸗ 
ſtellung, ſondern übt ſein Vermögen auf das Mannigfaltigſte. 
Dies aber iſt das Uebel der Furcht und Sorge, daß ſie den 
Geiſt immer nur mit einer und derſelben Vorſtellung bes 
ſchäftigt. Dadurch wird er unfähig, etwas Anderes zu über⸗ 
legen, auch andere Dinge gehörig zu prüfen, und ſie zu ſeiner 
Rettung in Anſchlag zu bringen. Wiſſen wir nicht, daß allzu 
aͤngſtliche und furchtſame Perſonen oft wie geblendet handeln, 
und alle Beſinnung verlieren? — daß ſie eben dadurch oft unter⸗ 
gehen, wo es jedem Andern leicht geworden ſein würde, ſich ohne 
große Mühe aus der Verlegenheit zu retten? So lange iſt noch 
nichts verloren, als man den Glauben an ſich ſelbſt und das 
Vertrauen auf Gottes allmächtige Vaterhand nicht verloren hat. 
Die Sorge und Bekümmerniß, wenn man ſich ihr allzuwill⸗ 
faͤhrig überläßt, und ſie nicht oft gewaltſam durch irgend eine 
mächtige Zerſtreuung unterbricht, wird endlich zur herrſchenden 
Gewohnheit. Dann ſieht die erhitzte, kränkliche Einbildungs⸗ 
kraft nichts, als was ſie fürchtet; ja ſie ſieht die bevorſtehenden 
Uebel viel ſchrecklicher, als ſie in der That ſind, wenn ſie endlich 
dicht vor uns ſtehen. Und ſind ſie vorüber, ſchafft ſich das an 
Sorgen und Aengſtlichkeit gewöhnte Gemüth in allen Kleinig⸗ 
keiten neue Vorboten neuen Unglücks. Es verbittert ſich muth⸗ 
willig jeden Lebensgenuß, und macht ſich unfähig, das Leiden 
zu tragen oder abzuſchütteln, wenn es uns überfällt. 
So macht demnach anhaltendes Sorgen, immerwährendes 
Nachdenken über einerlei Uebel daſſelbe ſchlimmer, als es iſt. 
Nicht zwar das Uebel ſelbſt wird an ſich größer, als es iſt, ſon⸗ 
dern wir werden nur ſchwächer an Kräften, es mit demſelben 
aufzunehmen. e 
Darum höre auf das Wort des Weiſeſten, der jemals die 
Noth des Lebens zu tragen hatte. Sorget nicht, ſprach er, für 
den andern Morgen, denn der morgende Tag wird für 
das Seine ſorgen. Es iſt genug, daß ein jeglicher Tag 
feine eigene Plage habe! (Matth. 6, 34.). 
Jeſus Chriſtus, als er dieſe Regel der wahren Lebensweis⸗ 
heit gab, wollte keineswegs zum Leichtſinn ermuntern, welcher 


u 


nichts in Erwägung zieht, von keiner Gefahr zu größerer Bora 
ſicht gewarnt wird, ſondern blindlings ins Verderben hinein 


ſchwindelt; — nein, ermuntern wollte er ſeine Nachfolger, alles 


Schickſal, welches wir zu tragen beſtimmt ſind, mit leichtem 
Sinne zu nehmen. Wer aber mit Vorſicht in allen ſeinen 
Unternehmungen und Reden zu Werke geht, und in allem 
Uebrigen auf Gott eine feſte Zuverſicht ſetzt, der fürchtet nicht 
bald mit Uebermaß irgend ein Uebel; der läßt ſich von demſelben 
nicht bald niederdrücken; ſondern er geht voll leichten Sinnes 
unter ſeinem Ungemach hin, und denkt: Gott wacht noch über 
mich! Er ſtrengt ſeine Kräfte zur ehrenvollen Rettung an, und 
ſieht freudig einem beſſern Tag entgegen, denn er weiß: Wie es 
iſt, bleibt es nicht! Unterm Monde wechſelt Alles! 

In der That iſt das quälende Sorgen ſchon darum eine 
Thorheit, daß wir die Noth, welche wir befürchten, unnützer 
Weiſe ſchon thätig gegen uns machen, ehe ſie noch da iſt; daß 
wir ſchon den heutigen und morgenden Tag um dasjenige mit 
Jammer und Angit anfüllen, was noch nicht erlebt iſt. — Wie 
es iſt, bleibt es nicht; unterm Monde wechſelt Alles. Wozu dein 
ewiges Dichten und Trachten? Habe nur Muth, noch heute deiner 
Stunde froh zu werden, dann wirſt du auch Kraft gewinnen, 
die ſchwarze Stunde froh zu empfangen. Wie es iſt, bleibt es 
nicht; unterm Monde wechſelt Alles! Wie vielmal haſt du es 


erfahren; warum bleiben dir auch die ſchönſten Erfahrungen 


fruchtlos; warum ängſtigſt du dich, als würden dieſe Verhaͤlt⸗ 
niſſe nun nie wieder anders werden können? Siehe, kein Tag 
gleicht dem andern. 

Ohnehin lehrt uns die Erfahrung daneben, daß gewöhne 
lich dasjenige am wenigſten eintrifft, was man am 


ängſtlichſten und längſten beſorgt hat. Wozu alſo die un⸗ 
nütze und frühzeitige, voreilige Bangigkeit? Wie wenig kann der 
Menſch von einer Stunde zur andern vorſehen, was ſich Alles 


begeben und abändern werde? Nur Gott regiert die Zufaͤlle und 


lenkt die Herzen der Menſchen durch Umſtände, mit welchen er 


ſie umgibt. Meiſtens trifft uns das Unglück von ganz andern 
Seiten, als wir es erwarten. Daher fruchtet dein ängſtliches 


= 41 > 


Kuͤmmern zuletzt wenig. Sorget nicht für der andern Morgen, 
denn der morgende Tag wird auch für das Seine ſorgen. — 
Wandle muthig deinen Weg, mit Vorſicht, Klugheit, Redlichkeit 
und Vertrauen auf Gottes Fürſorge, dann kannſt du auch, wenn 
dich hart dein Verhangniß trifft, leichten Sinnes wandeln. 
i Und dann, wenn das Uebel vorhanden iſt, ſuche auch 
an ihm ſogar das Gute und Wohlthätige auf. Denn es 
‚tft auf Erden kein Unglück, welches nicht auch irgend vortheil⸗ 
hafte oder angenehme Seiten habe. Wende den Blick auf dieſe, 
und meide, bloß an dem Gegenſtande zu hangen, der dich am 


meiſten betrübt. So wirſt du unvermuthet ſelbſt deines ſchweren 


Schickſals Meiſter werden; ſo wirſt du ſelbſt an Dornen Roſen 
für dich finden; ſo wirſt du erhabener als dein Schickſal, wahr⸗ 
haft Chriſt und Weiſer ſein. 


Iſt aber die Noth am größten, dann ſteht dir Gottes 


Hilfe am nächſten! — Kleinmüthiger, muſtere die Tage deines 
vergangenen Lebens durch, und gedenke des Beiſtandes der Vor⸗ 
ſehung, die dir nicht nur Leiden tragen half, ſondern ſie auch oft 


in eben ſo großes Glück für dich verwandelte. Auch damals in 


deinen bangſten Augenblicken verzweifelteſt du: Wie wird dies 
enden! — Auch damals dachteſt du zitternd: Nein, nun kann 
ich in meinem Leben nie wieder froh werden! — Und ſiehe, wo 
ſind jene Wetterwolken geblieben, die dich ſo ſehr erſchreckten, dir 
alle Faſſung raubten? Sie find weit hinter dir verfloſſen und 
verſchwunden; du biſt längſt jener Angſt entledigt, und haſt noch 
manchen freudigen Tag erlebt. — Warum denn biſt du jetzt in 
unmäßiger Unruhe? Warum verzagſt du jetzt an Allem? — 
Freilich das nächfte Unglück ſcheint immer das größte von allen; 
aber es wird endlich auch uͤberſtanden ſein, und dann hinter dir 
klein werden. Der Gewitterhimmel iſt nur dann am ſchwaͤrzeſten, 
ſo lange noch keine Blitze lodern; er wird ſchon heiter, wie die 
Wetter über deinem Haupte ſchweben. — Wird deine Noth am 
größten, iſt dein Gott am nächften. — 

Ja, Du biſt mir nahe, denn Du biſt ja auch mein Vater, 
Gott, Allbarmherziger, Troſt des Unglücklichen! Du biſt mir 
nahe, wenn Alles von mir weicht. In Deiner Hand liegen die 


cc 


„ 


Verhaͤngniſſe; Du regierſt den Sinn der Sterblichen und die 
Begebenheiten der Augenblicke. Du winkſt, und das Heiterſte 
wird zur Nacht; und Du winkſt abermals, und die Finſterniſſe 
hellen ſich unerwartet vor mir auf. 

Allernächſter, Allerhöchſter! Wenn ich auch in meiner Nieder— 
geſchlagenheit an Allem verzweifeln ſollte, doch an Deinen 
Führungen will ich nimmer verzweifeln. Du, vielmals mein 
Retter, wirſt mich auch in künftigen Anfechtungen retten, und 
Deine Stärke zeigen, und die Macht Deiner Gnade. Vater der 
Barmherzigkeit, ſo richte ich mich in meinem Angſtgedraͤnge 
glaubensvoll an Dir auf. Du hilfſt dem, der an Dir hält. Und 
ich bin nicht verlaſſen, da Du mich nicht verlaſſen willſt. Du 
zählſt meine Thränen, Du hörſt meine Seufzer, Du kennſt das 
geheime Sehnen meines Herzens, Du bereiteſt auch mir ſchon 
die Stunde neuer Freuden vor, welche der Lohn meiner Traurig⸗ 
keit werden ſoll. 

So verſinke ich nicht in vergeblichen Harm und Kummer. 
Du biſt mein Gott! So will ich muthig in mein Verhängniß 
eintreten; denn Du biſt mein Gott! — Ging Dein ewiger Sohn 
nicht unerſchrocken in den Leidenskampf, wo nichts ihm blieb, 
als ſein Erbarmen flehender Blick zu Dir? Ging er nicht feſten 
Muthes den Todesweg zum Kreuze — glaubensvoll an Deine 
Weisheit? Was können Menſchen mir ſchaden, Vater, Allbarm⸗ 
herziger, unergründlich Liebevoller, wenn Du mit mir biſt? 


III. 18 


— 410 - 


48. 


\ 
Von einigen gemeinen Fehlern im Berbeijer 
unſerer Vermögensumſtände. 
Sirach 11, 20 — 23. \ 


Ueberall vertrau' dem Herrn, 
Nie iſt ſeine Gnade fern, 
In der freudenreichen Zeit, 
Wie in der Widerwärtigkeit. 


Geh', erfülle deine Pflicht, 
Kümm're dich um Andres nicht. 
Iſt dein Werk vollbracht, wohlan! 
Gott hat ſeines auch gethan. 


Im Berufe fromm und treu, 
Frage nicht, was beſſer ſei; 
Gib du dem Berufe Werth, 
Dann wirſt du durch ihn geehrt. 


Geht es auch nicht, wie es ſoll, 
Aermlich oft und ſorgenvoll: 
Nun wohlan, ſo ſchlimm es ſei, 
Gottes Leitung iſt dabei. 


Blick' auf Gott und handle recht, 
O fürwahr, fo kommt's nicht ſchlecht, 
Reines Herz und froher Muth 
Geht wohl über Geld und Gut. 


Es iſt mir ſchon mehrmals ſehr aufgefallen, wie eifrig und ohne 
Unterlaß Jedermann ſucht, bemittelter an Glücksgütern zu wer⸗ 
den; wie der Landmann, der Handwerker, der Kaufmann, ſelbſt 
der Gelehrte, der obrigkeitliche Beamte, nach größern Einnahmen 
trachten, und wie dann andrerſeits wieder manche Geiſtliche und 
Lehrer gegen das Streben und Ringen nach Reichthum eifern, 
den Reichthum ſogar verachten, und die Armuth preiſen, gleich 
ſam als wenn kein Anderer ſelig werden köͤunte, als der Noth 
leidende und Dürftige. Noch auffallender wird es, wenn ma 
dergleichen Aeußerungen von Perſonen hört, die entweder ſell 
ſehr wohlhabend find, oder wenigſtens von kei aer Nahrungsſor, 
wiſſen, oder doch nach beſſern und eintraͤglichern Stellen ger 


verlangen. 
Es gehört gewiß zu den verfehrieften Begriffen, wenn me 4 


a Mm =. 


glaubt, es ſei eines Chriſten unwürdig, ſich den zeitlichen Sorgen 
zu überlaſſen, um nach größerm Vermögen zu arbeiten; wenn 
man immerdar auf den irdiſchen Mammon ſchilt, als ſei Reich— 
thum ein unüberwindliches Hinderniß zur Seligkeit. Wer der- 
gleichen in vollem Ernſte behauptet, iſt ohne Kenntniß der Welt 
und des menſchlichen Herzens; falſch verſtandene Stellen der 
heiligen Schriften brachten ihn zu übertriebener Verachtung des 
Irdiſchen und zu ſchwaͤrmeriſchen Grundſätzen. Wer aber den 
Reichthum öffentlich verachtet, und br ſelber ihn gern beſitzt, 
iſt ein Heuchler. 

Chriſtus Jeſus verachtete den Reichthum und deſſen Früchte 
keineswegs, noch weniger hielt er alle reiche Leute für verlorne 
arme Seelen. Wie hätte er alle Fürſten, alle Bermöglichen ver— 
dammen, oder von ihnen fordern ſollen, daß ſie ihre Habe und 
Gut weggäben? Würde das geſchehen fein, fo wären Bettler 
wieder an die Stelle der Fürſten und Reichen getreten. Auch 
unter Jeſu erſten unmittelbaren Schülern und Freunden waren 
angeſehene und ſehr begüterte Perſonen. Ein ſolcher iſt unter 
andern Joſeph von Arimathia geweſen, ein Rathsherr; der war 
nicht nur ein guter frommer Mann, wie der Evangeliſt Lukas 
ihn nennt, ſondern ein reicher Mann, welcher auch ein Jünger 

Jeſu war, wie Matthaͤus (27, 57.) ſchreibt. 

Es hat der heilige Lehrer des menſchlichen Geſchlechts nur 
gegen die unmäßige Sorge und Bekümmerniß wegen zeitlicher 
Guter geſprochen. Er empfahl den Armen Zufriedenheit und 
Vertrauen auf Gott, den Bemittelten Genügſamkeit, und den 

Reichen Barmherzigkeit gegen Nothleidende. Reichthum und deſſen 
Genuß galt ihm für keine Sünde; er verbot nicht, durch Fleiß 
und Rechtſchaffenheit feine Bermögensumftände zu verbeſſern; 
er ſchaͤrfte nur die einzige große Wahrheit allen feinen Anhängern 
wiederholt ein: daß irdiſches Gut nicht das Höchfte und Beſte für 
uns auf Erden ſei; daß es noch etwas Höheres und Beſſeres für 
uns als unſterbliche Weſen gebe, welches wir mit uns hinüber⸗ 
nehmen ins Ewige, und nicht wie anderes zeitliches Glücksgut im 
Tode hinter uns zurücklaſſen. 
Wenn ſich die Menſchen bemühen, ihr Eigenthum zu ver⸗ 


— 


— 412 — 


mehren, es ſei dies nun groß oder klein, ſo erfüllen ſie nur eine 
natürliche Pflicht gegen ſich und die Ihrigen. Die Schöpferhand 
Gottes hat zu dieſer Pflicht den Reiz ſelbſt in unſere Natur ge⸗ 


legt, weil dabei weit höhere Abſichten obwalten, als bloßes Geld⸗ 


ſammeln. Gott gab dem Menſchen Bedürfniſſe, und zwang ihn 
damit zur Thätigkeit. Durch Froſt und Hitze, durch Durſt und 
Hunger wurden die erſten Sterblichen zur Arbeit angetrieben. 
Sie befriedigten ihre Bedürfniſſe anfangs unvollkommen, aber 
die Noth ward ihre Lehrmeiſterin, das Beſſere zu verſuchen. Ge⸗ 
webte Kleider traten an die Stelle der Thierfelle; Häuſer an die 


Stelle der Höhlen. — Der Erfindungsgeiſt ward aufgeweckt, 


und indem er ſich zu dem Nothwendigen auch mit dem Ueber⸗ 
fluſſe verſehen wollte, lernte man erſt die mannigfaltigen Erzeug⸗ 
niſſe der Erde und den großen Reichthum der Schöpfung genauer 


kennen und zweckmäßiger benutzen. Sofort mußten nothwendig i 
die Begriffe von Mein und Dein entſtehen; die Grenzen des 


Eigenthums wurden geordnet, und Jeder bei dem Seinigen be⸗ 


ſchützt, er mochte viel oder wenig beſitzen. So kamen die Vor⸗ 
ſtellungen von dem, was gerecht und billig, erhaben und nütz⸗ 


lich ſei, unter die Menſchen. Sie erfanden Geſetze und gemein⸗ | 
ſame Anftalten. Was der Eine nicht hatte, tauſchte er vom | 


Andern ein; dadurch entſtand der erſte Handel, und zur Er⸗ 


leichterung des Verkehrs ward das Geld erfunden, als ein 
Werthzeichen für alle Waaren. Wer mehr beſaß, konnte den 


Dienſt der Aermern nicht entbehren, und der Arme hatte die 
Hilfe des Vermöglichern nöthig. So wurden durch das Streben 


nach Eigenthum und Vermehrung deſſelben die ſonſt zerſtreuten 
Menſchen immer enger mit einander verbunden, und ſich gegen⸗ 
ſeitig unentbehrlicher. Die Fortſchritte des Gewerbfleißes und 
Handels verknüpften endlich ſogar die von einander entfernteſten 
Nationen. Kein Weltmeer war zu groß, kein Gebirge zu hoch, 
feine Wüſte zu gefährlich, daß man nicht zu einander gereiſet 
wäre. Ehemals ſorgte nur Jeder für ſich allein, oder höchſtens 
für ſeine ganze Familie; nun ſorgte man auch für ganze Ge— 
meinden, für ganze Länder und Völker. Man lernte die Pflichten 


der Gemeinnützigkeit kennen. Man faßte die geſammte Menſch⸗ 


— 


L 
. 


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— 43 — 


heit und ihr Beſtes ins Auge. Hohe allgemeine Wahrheiten, 
allgemeine Rechte, allgemeine Pflichten wurden erkannt, von 
denen der Menſch vorher keine Ahnung haben konnte, ſo lange 
er ohne Eigenthum in der Einſamkeit lebte. Und in dieſem ganzen 
Spiele der Nothwendigkeiten und Verbeſſerungen, in dieſem 
großen Treiben aller Kräfte des Menſchen offenbarte ſich die Herr- 
lichkeit und Weisheit der Abſichten Gottes mit dem menſchlichen 
Geſchlechte. Hätte der Trieb nach Wohlſtand und Vermehrung 
des Eigenthums gefehlt, wir lebten gleich den wilden Thieren 
in Einöden und ihnen ähnlich. 

Daß wir alſo ſuchen unſere Vermögensumſtände zu verbeſ— 
ſern, iſt nicht nur kein verächtliches Bemühen, ſondern wahrhafte 
Pflicht. Nur müſſen wir uns hüten, daraus nicht die Haupt⸗ 
ſache des ganzen Lebens zu machen, denn wir leben nicht 
bloß für diefe Welt und für Geld und Gut, ſondern für etwas 
Erhabeneres als irdiſchen Staub. Der Wunſch: im Wohlſtand 
zu leben, ein betraͤchtlicheres Eigenthum zu beſitzen, iſt keine 
Sünde; nur müſſen wir uns hüten, falſche Mittel anzuwen⸗ 
den, um Reichthum zu erwerben. Es iſt keineswegs uner⸗ 
laubt, ernftlich auf ein gutes Auskommen für uns und die Unſrigen 
bedacht zu ſein; nur müſſen wir uns hüten, daß das Sorgen 
um Glücksgüter uns nicht den Genuß desjenigen Glücks 
raube, welches wir wirklich ſchon beſitzen. i 

Ich habe ein herrliches, lehrenvolles Wort in der heiligen 
Schrift geleſen, das mich in dieſer Hinſicht immer erquickt und 
gehoben, und wenn ich irgend einmal wankte, immer wieder auf 
den richtigen Weg zurückgewieſen hat. Ich will es mir auch hier 
wiederholen, und auch heute daraus ächte Lebensweisheit lernen. 
Es lautet alſo: „Bleibe in Gottes Wort und übe dich darinnen; 
und beharre in deinem Beruf; und laß dich nicht irren, wie die 
Gottloſen nach Gut trachten. — Vertraue du Gott und bleibe 
in deinem Beruf; denn es iſt dem Herrn gar leicht, einen Armen 
reich zu machen. — Gott ſegnet den Frommen ihre Güter, und 
wenn die Zeit kommt, gedeihen fie bald.“ (Sir. 11, 20 — 23.) 
Bleibe in Gottes Wort und übe dich darinnen. Dies 
iſt das Hauptwerk unſers Lebens, treu den göttlichen Anweiſungen 


— 414 — 


zu unſerer Glückſeligkeit zu ſein. Die Glückſeligkeit liegt aber 
nicht in größerm oder geringerm Gute, ſondern in unſerm Herzen. 
Wäre ich bloß ein Thier, wäre mit dieſem Leben unterm Monde 
Alles aus, ſo möchte gut Eſſen und Trinken, und bequemes und 
behagliches Daſein wohl die Hauptſache in der Welt ſein. Aber 
an mir iſt etwas Unſterbliches, der helle Gottesfunke, mein ewiger 
Geiſt; dem nützen offenbar die Reichthümer der Erde nichts, denn 
ſie folgen ihm nicht in die Ewigkeit nach. Er läßt Leib und Gut 
zurück. Nur das Heilige und Göttliche, das er ſich erworben, 
behält er; je vollkommener hier, je vollkommener dort. 

So bleibe denn in Gottes Wort und übe dich darinnen. Chri⸗ 
ſtus Jeſus hat es dir gebracht. Denke weit mehr darauf, der 
Tugendhafteſte und Liebenswürdigſte unter deinen Bekannten, 
als der Reichſte und Wohlhabendſte unter ihnen zu ſein. Sinne 
weniger darauf, wie du großes Vermögen erwirbſt, als vielmehr, 
wie du das nützlich für dich und deine Mitmenſchen anwenden 
kannſt, was du ſchon beſitzeſt. Verlange und gebrauche für dich 
ſo wenig als möglich; — Andern leiſte deſto mehr. Wer für ſich 
wenig bedarf, hat noch Ueberfluß für Andere. Der Reiche iſt 
arm, wenn er mehr für ſich gebraucht, als er hat. Froher Muth 
iſt nicht um Geld feil, du kannſt ihn nicht um Tonnen Goldes 
kaufen. Aber dem Zufriedenen geht Alles wohl von ſtatten; 
darum mehrt ſich ſein Wohlſtand ſichtbarlich. Lebe göulig? wie 
Jeſus, der Menſchenfreund, in Gott; bete, arbeite. 

Und beharre in deinem Beruf. Es iſt ein großes Uebel 
zu unſerer Zeit, daß ſo viele Menſchen mit ihrem Stande und 
Berufe unzufrieden ſind. Stolz und Eitelkeit, oder Geldſucht, 
treibt ſie, immer höher hinauf zu wollen. Ohne ihr Vermögen, 


ohne ihre Kräfte zu berathen, nur gereizt von ihrem Eigendünkel, 


wählen ſie einen andern Stand und verderben darin. Daher 
kommt es, daß in vielerlei Berufsarten und Geſchaͤften ſo vielerlei 
Stümper und Pfuſcher gefunden werden. 

Da ſieht man Landleute: haben fie einiges Vermögen, jo maß 
ihr Sohn zum Handelsſtande erzogen werden oder ſtudiren. Ob 
der Sohn erforderliche oder ausgezeichnete Neigung und Fähig— 
keit zu Geiſtesarbeiten beſitze, das wiſſen fie nicht, konnen fie nicht 


— 45 — 


zeurtheilen, darnach fragen fie auch nicht; ſondern ihnen iſt ſchon 
genug, zu glauben, der Sohn könne in anderm Berufe beque- 
mere Tage leben. So wird manches mühſam erworbene Ver⸗ 
mögen nachher zerſplittert; oder der Jüngling, ohne hinreichendes 
Gut, eine Handlung zu gründen, oder ohne glänzende Anlagen 
oder wichtige Verbindungen, in höhere Stellen einzurücken, wird 
einer der Gemeinen oder Letzten in ſeiner Art, wahrend er einer 
der Erſten unter den Landleuten geworden fein würde. 

Da ſieht man Handwerker; manche derſelben, welche nicht 
einmal Geſchicklichkeit genug haben, wahre Meiſter in ihrem Be— 
rufe zu ſein, folglich verachtet ſind, und wenig verdienen, wählen 
entweder ein anderes Gewerbe, welches ihnen ergiebiger ſcheint, 
und verderben auch endlich darin, oder ſie widmen doch ihre Kinder 
einem höhern Stande. Andere, denen es nicht an Verſtand fehlt, 
aber auch nicht an Hochmuth, ſchamen ſich ihres Berufes, in 
welchem ſie etwas Vorzügliches leiſten könnten, und werfen ſich 
in Fächer, worin fie wegen mangelnder Kenntniſſe immer hintenan 
ſtehen; oder buhlen um allerlei Aemter und obrigkeitliche Plaͤtze, 
treiben Vielerlei, verſehen Vielerlei; zerſplittern ihre Zeit und 
Kräfte; leiſten daher in Keinem etwas Vorzügliches, und kommen 
in ihren Vermögensumſtänden immer weiter zurück, als vor⸗ 
wärts. — Woher rührt heutiges Tages an ſo vielen Orten die 
Verſunkenheit des vor Zeiten hochgeachteten goldenen Handwerks- 
ſtandes? Weil ihn thörichterweiſe der Handwerksmann, der gern 
mehr fein möchte, zuerſt geringſchätzt. Woher an fo vielen Orten 
der Verfall des Handwerks und der Kunſt, die ſonſt blühend war? 
Gewiß nicht allein durch die Schlechtheit der Zeiten, oder durch 
das Entſtehen zahlreicher Fabriken; ſondern gewiß auch daher, 
daß ſtolze Aeltern ihre Söhne, wenn dieſelben Fähigkeiten zei- 
gen, oder wenn ſie ihnen anſehnliches Vermögen hinterlaſſen 
können, dem Berufe des Handwerkers entziehen. Wenn nun dem 
Handwerke die beſſern Köpfe und wohlhabenden Lehrlinge ent⸗ 
riſſen werden: wie ſoll es aufblühen? Es muß ſich nothwendig 
verſchlechtern und in Verfall gerathen durch die Armſeligkeit und 
Hilfloſigkeit derer, die es treiben, fo wie durch die Mittelmäßig⸗ 
keit oder den Mangel der erforderlichen Geiftesanlagens 


— 416 — 


Solche Thorheiten des Stolzes werden in allen Standen 
begangen, und ziehen in allen daſſelbe nach ſich. Und ſo wie man 
mit den Söhnen und ihrer zukünftigen Beſtimmung Unfug treibt, 
eben ſo mit der Erziehung der Töchter. Sie ſollen mehr werden, 
als die Mutter; in einen höhern Stand hinüber heirathen. Sind 
fie nicht mißgeſtaltet, haben fie die gewöhnliche Anmuth, welche 
die Jugend gibt, ſo werden ſie mit unmäßigem Aufwande aus⸗ 
geſchmückt, um die Augen der Höhern auf ſich zu locken. Man 
unterrichtet ſie in den Künſten des Gefallens und Vergnügens ſo 
eifrig, oft eifriger als in den Wiſſenſchaften und Tugenden einer 
beſcheidenen, frommen, thätigen, Ordnung liebenden Hausfrau. 
Wahrlich, wahrlich, eine große Zahl unſerer Jungfrauen, die 
den Vorwurf der Putzſucht, der Schönthuerei, Gefallſucht, un⸗ 
ſittlichkeit und Zeitverſchwendung mit Recht verdienen, find zu 
allen dieſen Untugenden erſt mit großer Mühe von ihren eigenen 
Aeltern angeleitet worden. Weit entfernt, daß man die Tochter 
einem fleißigen, redlichen Jüngling zur Ehe gibt, der fähig iſt, 
ein Weib, zwar nicht im Aufwand, doch ehrlich und anſtändig 
zu ernähren, und deſſen und des Mädchens Herz vielleicht ſchon 
Liebe verband, wird die Unglückliche aufgeſpart, in Erwartung, 
daß ein Vornehmerer oder Reicherer um ſie werbe. Sie eine Stufe 
unter ihrem Stande hinzugeben, ſcheint dem Stolze eine Tod⸗ 
ſünde zu ſein, nicht aber, daß die Beklagenswürdige vielleicht in 
eheloſer Verlaſſenheit bleibt, oder einem Manne aufgeopfert wird, 
mit welchem ſie in unglücklicher Ehe untergeht, weil er zwar 
Alles Andere, nur nicht die Tugenden beſitzt, ein gutes Weib 
glücklich zu machen. Wie mancher Fluch ruht ſchwer auf der 
Aſche ſtolzer Aeltern! 
Beharre in deinem Berufe! Ehre ihn, und er wird dich 
wieder ehren. Iſt es nicht rühmlicher, Meiſter und Vortrefflicher 
in deinem Gewerbe und Stande zu ſein, als einer der Letzten in 
jedem ſogenannten höhern? Du kennſt die Vortheile und Nach» 
theile des deinigen, bei weitem aber nicht das Schwierige in jedem 
andern. Glaubſt du, ein anderes Gewerbe oder ein anderer Stand 
werde dir reicheres Vermögen bringen? Nein, größerer Fleiß, 
größere Geſchicklichkeit, größere Sparſamkeit und größeres Glück 


— 417 — 
bringen größeres Gut. Aber Bequemlichkeit, Traͤgheit, Unge— 
ſchicklichkeit, Aufwand über Vermögen, find überall von Unſegen 
begleitet. 

Laß dich nicht irren, wie die Gottlofen nach Gut 
trachten. Wer recht arbeitet in ſeinem Fache und geſchickt, dabei 
in feinen Bedürfniſſen und Ausgaben die nöthigen Einſchrän— 
kungen zu machen weiß: der hat zu leben, und von Menſchen 
Ehre, von Gott Segen zu erwarten. Aber Ungenügſamkeit mit 
den Früchten des Berufs führt in höhern und niedern Ständen 
immerdar zu Armuth und Verderben. 

Derjenige iſt ſchon halb verloren, der, um ſich noch mehr 
Geld zu machen, auf Nebenſachen den Blick wirft, die mit ſeinem 
Berufe in keiner Verbindung ſtehen. Er vernachläſſigt dieſen 
ganz gewiß, weil er ihm einen wichtigen Theil der Aufmerkſam— 
keit und Zeit entzieht, die er erfordert. Sei lieber mit mäßigem 
Gewinn zufrieden, als ihn durch zeitverſplitternde Nebengewerbe, 
oder durch gefährliche Wageſtücke, oder wohl gar durch unan⸗ 
ſtändige, verbotene Hilfsmittel zu vermehren. Ein ſolcher geht 
früher oder ſpäter doch endlich zu Grunde.“ 

Was dir deine redliche Hand erwirbt, iſt beſſer, als was man 
dir ſchenkt, und was du im Schweiße deines Angeſichts errungen 
haſt, dauert länger, als ein Schatz, den du von ungefähr ge— 
funden. Auf Anderer Koſten leben und Schmarotzereien treiben, 
iſt ein unedles Gewerbe, iſt vornehmthuende Bettelei, und zieht 
den Verfall des eigenen Hauſes nach ſich. Denn wer da ſchmarotzt, 
muß Andern mehr gehören, als ſich ſelber. Darum ſchalt auch 
der Jeſusjünger Paulus dir Trägeh, welche ſich gern bei Andern 
wohl ſein ließen. Wir gebieten ihnen und ermahnen ſie (ſprach 
er) durch unſern Herrn Jeſum Chriſtum, daß fie mit ſtillem 
Weſen arbeiten und ihr eigenes Brod eſſen. (2. Theſſ. 3, 12.) 

Die verderbliche Sucht iſt ziemlich allgemein geworden, durch 
Glücksſpiele und Lotterien ſeinen Wohlſtand zu vergrößern. Man 
möchte ohne Mühe im Schlafe reich werden, und denkt, ich kann 
ſo gut gewinnen, als ein Anderer. Darüber wird das Erſparte 
und Erübrigte an fruchtloſe Hoffnungen verſchwendet, mit frucht- 
loſen Hoffnungen das Häusliche verfäumt, der Beruf nachläffiger: 


— 418 — 


betrieben; je mehr verloren wird, je ungeſtümer und draͤngender 
wird das Bedürfniß, zu gewinnen. Es iſt das durch die Lotterien 
erzeugte mannigfaltige Elend in zahlloſen Familien, die Ausſau⸗ 
gung und Verarmung von Land und Leuten, die damit zu Grunde 
gerichtete Sittlichkeit in vielen Haushaltungen ein gerechter und 
ſchwerer Vorwurf, der den Staatsverwaltungen zu machen iſt. 
Vielleicht mag ihnen der Druck der Zeiten zur Entſchuldigung 
dienen, daß man Mittel anwenden müſſe, vom Volke Geld zu 
ziehen. Allein unter allen Mitteln iſt doch dieſes wohl das un- 
weiſeſte, weil es die Sitten vergiftet, den Wohlſtand untergräbt, 
und die Menge der Verbrecher wie der Armen ſelbſt in den höhern 


Volksklaſſen mehrt. Lotterien find gefährliche Staatsauflagen 


auf die Thorheiten und Laſter der Landesbewohner; und man 
nährt Laſter und Thorheit, um deſto mehr Geld davon zu löſen. 
Laß dich nicht irren, wie die Gottloſen nach Gut 


trachten. Sie haben immer ſchlechten Gewinn. Tauſendfältiges 
Zeugniß hat die Erfahrung gegeben, daß unrecht Gut nie gedeiht. 


Mögen es die Einen mit Verfälſchung ihrer Waaren, mit Ver⸗ 
fälſchung von Maß und Gewicht, mit Uebervortheilung und gro— 


bem oder feinerm Betrug erwerben; Andere durch falſche Eide; 


Andere durch verruchte Ränke und ſchändliche Prozeſſe; Andere 
durch Kuppelei und Hurerei; Andere durch Speichelleckerei bei 


den Großen, und heimtückiſche Verdrängung der Rechtſchaffenen; 


Andere durch ehrloſe Angebereien; Andere durch Umgehung oder 
Uebertretung der Landesgeſetze, Einſchwärzung verbotener Waa— 
ren; Andere auf andere unerlaubte Weiſe: — es iſt unrecht Gut. 
Und es hangt ein Fluch daran, der ſich nicht losreißt, und Alles 
wieder verdirbt. Nie bleibt dem Mifjethäter der Tag aus, da 
ſein Wohlſtand in Armuth, fein Anſehen in Schmach untergeht — 
der Tag gefährlicher Entlarvung und Offenbarung. 


Vertraue du Gott und bleibe in deinem Berufe; 


denn es iſt dem Herrn gar leicht, einen Armen reich zu 
machen. Haſt du das Nothwendige, ſei zufrieden; warum be— 


gehrſt du denn das Ueberflüſſige? Du glaubſt, es werde dich und 


die Deinigen beglücken. Nein, weißt du es beſſer, als Gott? Gibt 
er dir Mangel, ſo iſt dieſer gewiß der Weg zu deinem Glück. Gibt 


— 419 — 


er dir Reichthum, fo iſt es gewiß in der Stunde, welche die aller— 
vortheilhafteſte iſt zu deinem Heil. In ſeiner Hand ruht das 
Weltall und jeder Faden am Gewebe des Schickſals. O glaube 
es doch, ihm iſt es leicht, dich arm oder reich zu machen; welches 
zu unſerm Segen ſei, weiß er am beſten. So viel aber weiß ich, 
daß denen, die Gott lieben, alle Dinge nothwendig zum Beſten 
dienen müſſen. 

Gott ſegnet den Frommen ihre Güter, und wenn die 
Zeit kommt, gedeihen fie bald. Wer iſt denn fo fremd in 
der Welt, daß ihm unbekannt geblieben wäre, wie viele ehrliche, 
arbeitſame, gottesfürchtige Familien zu großem Wohlſtande ka— 
men, und wie dieſer wieder verſchwand, ſobald die übermüthigen 
Beſitzer oder Erben dadurch zu Thorheiten verleitet wurden? 
Wem wären ſo viele Beiſpiele unbekannt geblieben, wie das Gut 
ehrlicher Familien unvermuthet herrlich gedieh? Immer iſt einmal 
die Zeit gekommen, und was den frommen Aeltern nicht ward, 
gereichte noch ihren Kindern zur großen Segensfülle. 

Ach, mein Gott, in ſtummer Ehrfurcht bete ich Dich an, 
und vertrauensvoll wendet ſich mein Auge zu Dir empor. Ich 
bitte ja nicht um Reichthum, nur um Weisheit bitte ich, daß ich 
nie vergeſſe, wie Genügſamkeit, Berufstreue, ehrlicher Sinn, 
und unverdroſſene Arbeitſamkeit, verbunden mit heiliger Liebe 
zu Dir, die Quellen des Glückes und alles dauerhaften, wahren 
Reichthums ſind, der noch den Kindern zum Segen wird. Thue 
mit mir, wie Dir gefällt; mache mich arm oder reich: ich werde 
zufrieden fein. Du biſt ja mein Gott, Du kannſt mich nicht un- 
glücklich machen. Sollte ich unglücklich werden, ſo bin ich's nicht 
durch Dich ſondern durch meine Fehler, und daß ich das Irdiſche 
jemals lieber hatte, als das Göttliche und Ewige. Ach, mein lieber 
Gott, ſtärke mich in dieſer Geſinnung! Amen. 


4 


47. 1 
Verſechwie genheit 
Spr. Sal. 25, 9. 


Laßt uns halten Treu und Glauben, 
Flieh'n, was Andern Schaden dräut; 
Keinem das Geheimniß rauben, 

Was er nicht von ſelbſt uns weiht. 
Was der Freund dem Freund vertraut, 
Werde Keinem Dritten laut. 


Laßt uns nie, was wir verſprechen, 
Widerrufen, weil's uns reut; 
Nie, was zugeſagt iſt, brechen! 
Meidet die Geſchwätzigkeit! 
Flamm' und Schwert verheeren viel, 
Mehr noch falſcher Zungen Spiel. 


Eine viel zu wenig beachtete Urſache von zahlreichen Unannehm⸗ 
lichkeiten des Lebens, die wir theils Andern, theils uns ſelbſt 
machen, iſt der unüberlegte Gebrauch unſerer Worte. Wie viele 
Verdrießlichkeiten und Feindſchaften ſtiften wir uns und Andern, 
oft ohne es zu wiſſen, oder zu vermuthen, durch allzugroße Offen- 
herzigkeit! Daher iſt es ein wichtiger Theil chriſtlicher Lebens⸗ 
weisheit, welche die heilige Schrift empfiehlt, da ſie ſagt: Wer 
leben will und gute Tage ſehen, der ſchweige ſeine Zunge. 
(1. Petri 3, 10.) | 

Wohl reden ift eine Kunſt, aber die Kunſt des, Schweigens 
oft noch eine größere. Wir fehlen, ſagt der Apoſtel, Alle man⸗ 
nigfaltiglich. Wer aber auch in keinem Worte fehlet, der iſt ein 
vollkommener Mann, und kann auch den ganzen Leib im Zaume 
halten. (Jak. 3, 2.) 

Rede, wo es nützen kann; ſchweige, wo s ſchaͤden kann! In 
dieſen wenigen Worten haft du die ſchöͤne Tugend der Offen— 
herzigkeit und die eben ſo ſchoͤne Tugend der Verſchwiegen— 
heit enthalten. 

Durchgehen wir unſere Städte, unſere Dörfer: wie viel Miß⸗ 
trauen überall! Wie ängftlich beobachtet da der Eine den Andern, 
wie viel Heuchelei lächelt da aus allen Mienen — und woher 


— 421 — 


dieſer Mangel gegenſeitiger Zutraulichkeit und Herzlichkeit? Man 
iſt zur unrechten Zeit verſchwiegen und zur en Zeit offen⸗ 
herzig. 

Wie viele Familien, die ſonſt find mit nit verbunden‘ 
waren, find jetzt getrennt, gehäſſig und feindſelig zuſammen! 
Und doch hat keine die andere um Gut und Vermögen betrogen, 
keine die andere gefliſſentlich ins Verderben geſtürzt. Was hat 
die Trennung bewirkt? Unvorſichtige Geſchwätzigkeit! 

Du klagſt über Mangel an wahren Freunden; über die Kälte 
oder Gehäſſigkeit der Leute gegen dich; du klagſt, daß du kein 
Wort reden dürfeſt, welches nicht ſogleich mißdeutet würde; du 
weißt nicht, wodurch du dieſe Behandlung verdient habeſt; du 
biſt in dir überzeugt vielmehr, daß du Jedem alles Gute gönneſt; 
daß du gern beiſtehſt, wo man deine Hilfe begehrt; daß du dich 
gegen Jeden freundlich und gefällig gezeigt haſt; du weißt dir 
keinen Vorwurf zu machen, und doch hält man ſich von dir in 
einer gewiſſen Entfernung. Woran liegt es? Ach, vielleicht an 
einer unbeſonnenen Viertelſtunde, da du deine Zunge allzuwenig 
im Zaume hielteſt, und Aeußerungen über Dieſen oder Jenen 
thateſt, die den vorſichtig gegen dich machten, gegen den du ſehr 
unnütz offenherzig warſt, und den dir zum Widerſacher machteſt, 
über welchen du geſprochen haſt, was ihm nicht lieb ſein konnte. 
Aber du magſt dich vielleicht deiner Worte und ſelbſt der Viertel- 
ſtunde nicht mehr erinnern; das iſt aus deinem Gedächtniffe längſt 
verwiſcht, worauf du damals in unvorſichtiger Geſchwätzigkeit 
gar keinen Werth gelegt, und womit du gar keine böſe Abſicht 
verbunden hatteſt. Allein, vergiß es nicht, wer mit ſeinem Schwerte 
in der Schlacht kämpft, vergißt leicht diejenigen, welchen er Wun⸗ 
den beibringt, aber die, welche Wunden empfingen, denken lange 
daran, ſo oft ſie die Narben erblicken. 

Darum ſei die goldene Lehre der heiligen Schrift jedem Chri- 
ſten Geſetz im Umgange mit Menſchen: Handle deine Sache mit 
deinem Nächſten und offenbare nicht eines Andern Heimlichkeit. 
(Spr. Sal. 25, 9.) 

Gewöhnlich macht man ſich von der Verſchwiegenheit einen 
ganz falſchen Begriff, indem wan darunter nur Geheimhaltung 


— 422 — 


deſſen verſteht, was uns ein Anderer von irgend einem Vorfall, 
oder von feinen eigenen Abſichten oder Umſtänden oder Verbin⸗ 
dungen anvertraut hat. Man glaubt dann ſchon den Ruhm eines 
Verſchwiegenen anſprechen zu können, wenn man dergleichen, 
was ausdrücklich unter dem Siegel der Heimlichkeit gegeben wor⸗ 
den iſt, treu bewahrt. 

Keineswegs! Nur der iſt verſchwiegen, der nie von Geheim- 
niſſen redet, ſie mögen ihm beſonders mitgetheilt oder von ihm 
zufällig entdeckt worden ſein, und der da weiß, was Geheim— 
niß iſt. Geheimniß iſt aber dem Weiſen alles dasjenige, wovon 
jeder ſeiner Mitmenſchen wünſcht, daß es nicht allgemein bekannt 
werde, um dadurch nicht bei irgend einem Anlaß in Gefahr des 
Schadens zu kommen. Was Andere alſo ſelbſt gern geheim halten 
möchten, dies bekannt zu machen, halte dich niemals berechtigt, 
wenn dir nicht höhere Pflichten gebieten, darüber zu reden. 

Zu ſolchen Dingen, die Niemand gern öffentlich bekannt wer⸗ 
den läßt, und die daher den Werth von Geheimniſſen haben, ge= 
hören nicht bloß mancherlei Anſtalten und Plane, die, wenn ſie 
vor der Zeit laut würden, vereitelt wären; ſondern auch haus⸗ 
liche Vorfälle und Angelegenheiten, Vermögensumſtände, gewiſſe 
Verbindungen, was man niemals gern alle Welt erfahren läßt, 
weil auch das an ſich Unſchuldige leicht mißdeutet werden kann, 
oder mancher übeldenkende Menſch davon nachtheiligen Gebrauch 
zu machen im Stande wäre, Ferner gehört zu dem, was Jeder 
geheim hält, ſeine Gebrechen, Fehler und Schwächen, deren er 
ſich ſchämt, die er vielleicht ſelbſt bekämpft, die er aber nie gern 
zur offentlichen Schau geſtellt ſehen möchte; eben jo gehören dahin 
Reden und Urtheile, die man in vertrauten Kreiſen äußert, die 
ſogar ſehr wahr ſein können, aber durch Bekanntmachung die 
nachtheiligſten Folgen bewirken würden. 

So iſt denn Alles Geheimniß, wovon du vermuthen kannſt, 
daß es einem Andern mißfallen müßte, wenn er erführe, daß du 
daraus einen Gegenſtand des Geſprächs gemacht hätteſt. So iſt 
das wirklich ein Geheimniß, wenn du ſelbſt wünſchen möchteſt, 
wenn es dich beträfe, daß es nicht Jedermann erführe. 


— 423 — 


In dieſem Sinne übe Verſchwiegenheit über die Heimlich— 
keiten Anderer und über deine eigenen Angelegenheiten. 

Sei verſchwiegen über die Heimlichkeiten Anderer, 
du magſt nun ſelbſt dahinter gekommen ſein, oder man mag ſie 
dir vertraut haben. Kein Menſch hat das Recht, von Andern zu 
offenbaren, was fie ſelbſt nicht offenbaren wollen. Was dein Ge⸗ 
heimniß iſt, das iſt dein Eigenthum; wer es ohne deinen Willen 
der ganzen Welt mittheilt, begeht eine Gewaltthätigfeit, einen 
Diebſtahl an dem, was dir gehört. 

Gewöhnlich iſt die Geſchwätzigkeit eine Folge der entarteten 
Lebhaftigkeit des Geiſtes und des Leichtſinns; weit öfter noch die 
Folge der Sucht, ſich bei Andern wichtig zu machen, und ſeine 
Meinungen glänzen zu laſſen; oft eine Folge der Bosheit und 
Schadenfreude. 

Immer alſo kann man bei demjenigen, der die Reden und 
Handlungen Anderer ausbringt, von denen beſſer wäre, daß ſie 
nicht bekannt würden; oder der die Gebrechen und Schwächen 
des Andern zum Geſpräche macht; oder der die häuslichen An- 
gelegenheiten, die Vermögensumſtände, die Entwürfe und Abſichten 
eines Dritten ausplaudert — immer, ſage ich, kann man bei einem 
Solchen Schlechtigkeit des Herzens vorausſetzen. Denn Leichtſinn 
iſt eben ſowohl eine Krankheit der Seele, als Schadenfreude; 
beide gehen nur zu oft Hand in Hand, beide ſind in ihren Wir⸗ 
kungen auf Glück und Wohlfahrt der Menfchen gleich gefährlich, 

Willſt du verſchwiegen ſein über die Angelegenheiten Anderer: 
ſo meide, von ihnen dasjenige bekannt zu machen, was ihnen in 
der Achtung eines Dritten Schaden bringen könnte. Daher hüte 
dich, jedes nachtheilige Urtheil über Andere, ohne es gehörig 
überdacht zu haben, mit Freiheit herauszuſagen: ihre Reden, 
ihre Meinungen, inſofern ſie Angelegenheiten anderer Perſonen 
betreffen, auch nicht im Kreiſe deiner vertrauteſten Freunde zu 
wiederholen, wenn du irgend vermuthen kannſt, daß dies durch 
Weiterſagen ihnen ſchaͤdlich werden könnte, oder inſofern du ſelbſt 
findeſt, daß fie übereilt und unbeſonnen ſprachen. Denn die Un— 
beſonnenheit der Andern gibt dir keine Befugniß, ihnen nachzu- 


ahmen. f 


— 


Hörſt du in Geſellſchaften von deinem Nebenmenſchen üble 
Urtheile und Reden, da nimm keinen Theil am Geſpräch, 
wenn du nicht fähig biſt, den Falſchbeurtheilten mit Beſcheiden⸗ 
heit und Gründlichkeit zu vertheidigen. Auch das Schweigen iſt 
oft Beredſamkeit, und ärntet bei den Verſtändigen Ruhm, we⸗ 
nigſtens nie Haß. Es fehlt nie, daß früher oder fpäter derjenige, 
deſſen Schwächen oder Häuslichkeiten beurtheilt wurden, wieder 
vernimmt, was geredet ward, und er wird dein weiſes, beſonne— 
nes Schweigen ehren. Du haſt dir ein Herz erobert, ohne den 
Mund aufgethan zu haben. 

Man kann es keineswegs meiden, über fremde Angelegenheiten 
zu reden. Dann mache du dir, in Geſellſchaft, wie im Geſpräche 
mit vertrauten Perſonen, ein Geſchäft daraus, das Gute, was 
dir von Andern bekannt iſt, ihre beſſern Eigenſchaften, ihre freund⸗ 
lichen Urtheile uͤber Andere, ihre einzelnen guten Handlungen 
hervorzuheben und bemerkbar zu machen. Das Lob, das du 
gibſt, bewirkt in denen, die es hören, Empfindungen der Liebe 
und Achtung gegen den Gelobten; du vermehrſt die Freundſchaft 
der Menſchen, ihre Eintracht, ihre Gefälligkeit unter ſich, und 
auf dich ſelbſt fällt der ſchönſte Theil des von dir geſtifteten Guten 
zurück. Denn die Freunde des von dir Gelobten und er felbit: 
werden deine Freunde. 

Hüte dich auf alle Art, Geheimniſſe zu erfahren; weiche viel⸗ 
mehr den Gelegenheiten dazu aus. Je weniger du weißt, je ru— 
higer wirſt du ſein, je herzlicher wirſt du Andern begegnen. Oft 
ſetzt die bloße Bekanntſchaft mit einem Geheimniß in große Ver⸗ 
legenheit, und in Gefahr, es wider ſeinen Willen, durch einen 
Blick, durch eine Miene, durch ein Erröthen zu verrathen. Oft 
ſetzt das Mitwiſſen um ein Geheimniß in die unangenehmſte Lage, 
als Zeuge aufgefordert und in Händel verwickelt zu werden, die 
ſchlimme Folgen haben. Oft bringt es uns, ſelbſt wenn wir die 
ſtrengſte Verſchwiegenheit beobachten, in die nachtheilige Lage, 
vor der Welt als Verraͤther zu erſcheinen, wenn Andere, ge— 
wiſſenlos genug, die Sache verriethen. Denn es gibt leichtſinnige 
Menſchen, die, was ihnen Geheimniß ſein ſollte, gern mehrern 
Vertragten zugleich mittheilen. Wenn dann einer dieſer Ver— 


— 425 — 


trauten nicht reinen Mund hält, hingegen den Verdacht der Ver⸗ 
raͤtherei von ſich abzuwaͤlzen verſteht, und allerlei Umſtaͤnde den 
Argwohn auf uns ziehen — wie unſchuldig können wir da bloß 
durch das Mitwiſſen um eine geheim zu haltende Sache in den 
Ruf des Verräthers und um das Vertrauen rechtlicher Leute 
kommen! 

Biſt du aber durch deine Verbindungen, oder durch deinen 
Beruf, oder durch eigene Bemerkungen mitkundig um Dinge, 
die derjenige, den fie angehen, gern geheim hält, oder feines eige- 
nen Beſten willen geheim halten ſollte: ſo wende deine Gedanken 
davon hinweg, als wüßteſt du nicht darum. Verſchweige dir 
ſelbſt gleichſam die geheim zu haltenden Dinge, und meide auch 
entfernte Anläſſe, welche Vermuthung erregen könnten, du ſeieſt 
unterrichtet. Verbirg es deinem vertrauteſten und beſten Freunde, 
denn du biſt ja nicht ſicher, wie lange er noch dein Freund ſein 
werde. 

Geheimniſſe Anderer zu offenbaren, iſt nur da erlaubt, wo 
es höhere Pflichten gebieten. Dies iſt der Fall, wenn es Geſetz 
und Obrigkeit des gemeinen Beſten willen gebieten. Hier iſt Ver⸗ 
ſchwiegenheit ein Verbrechen, und Geheimhaltung eine Theilnahme 
an der Schuld. Es iſt Pflicht, zu reden, wo das Geheimniß, 
um welches wir wiſſen, boshafte Plane zum Schaden Anderer 
enthält. Hier ſchweigen, waͤre nichts Anderes, als ein Gehilfe 
des Böſewichts zum Untergange oder Nachtheile des Unſchuldigen 
ſein. Es iſt Pflicht zu reden, wenn wir die Denkart oder Um⸗ 
ſtände gewiſſer Perſonen kennen, denen ſich Andere aus Leicht- 
ſinn, Unwiſſenheit oder Gutmüthigkeit allzuſehr vertrauen, und 
dadurch in Unglück gerathen können. Hier ſoll der Menſchen⸗ 
freund warnend hervortreten, und denjenigen, welcher Gefahr zu 
laufen bedroht iſt, mit Schonung und Behutſamkeit des Beſſern 
belehren. Es iſt Pflicht, das Schweigen zu brechen, und die 
Schlechtigkeit an das Tageslicht zu ziehen, wenn Schweigen nur 
1 dazu dienen würde, gewiſſe Perſonen in ihrer Verworfenheit, in 
ihrer leidenſchaftlichen Bosheit, in ihrer Engherzigkeit zu beftärfen, 
wodurch fie Andern nur aus Eigennutz ſchadlich find, oder doch 
das Gute mindern. Hier iſt Nichtbekanntmachung des ungeſtraft 


BEN 


— 426 — 


gebliebenen Böſen eine verächtliche Begünſtigung der Böſen zum 
Nachtheil der Guten. 

Nur unter ſolchen Verhältniſſen, nicht aber um ſich bloß in 
Geſellſchaften auf Unkoſten Anderer zu unterhalten, oder um ſich 
bei Jenem und Dieſem eine Wichtigkeit zu geben, darf man Ge— 
heimniſſe entblößen, oder ſeine Urtheile über Schwächen, Plane, 
Abſichten, Denkarten und Umſtände des Nebenmenſchen laut 
geben. Wer es dennoch thut, hat ſich ſelbſt anzuklagen, wenn 
er als ein gemeiner, oft gefährlicher Plauderer von jedem Ver⸗ 
ſtändigen mit Vorſicht behandelt wird; wenn er viele Feinde hat, 
oder doch Mitbürger, die ihn verachten; wenn man ihn keines 
beſondern Vertrauens würdigt, und damit außer Stand ſetzt, ſo 
viel Gutes zu ſtiften, als er ſonſt bei ſeinen übrigen Fähigkeiten 
und Umſtänden allerdings ſtiften könnte. 

Es gibt Menſchen, die oft über alles Andere gut zu ſchweigen 
verſtehen, aber nur nicht über ihre eigenen Sachen. Aus über⸗ 
triebener Offenherzigkeit oder aus Eitelkeit, weil ſie glauben, 
Alles ſei Andern wichtig, was ſie betrifft, oder aus übler Ge— 
wohnheit, immer von ſich zu reden, erzählen fie Jedem, der ihnen 
zuhören will, was ſie gethan und nicht gethan haben, welche 
Plane ſie machen, welche Klugheiten und Thorheiten ſie beginnen. 
Wahrlich, der verdient den Ruhm der Verſchwiegenheit nicht, der 
beſcheiden in ſeiner Bruſt verſchließt, was er von Andern weiß, 
während er bei jeder Gelegenheit ſein eigener Verräther iſt. 

Es gibt auch eine Verſchwiegenheit über ſich ſelbſt 
und die eigenen Angelegenheiten. Sie iſt eine von jenen 
Pflichten, die der Menſch ſeiner eigenen Wohlfahrt und Ruhe 
ſchuldig iſt. Zwar Offenherzigkeit iſt eine Tugend; aber es gibt 
keine Tugend, wenn ſie nicht mit Klugheit verbunden iſt. 

Willſt du glücklich ſein, ſo lerne über dein eigenes Glück ver— 
ſchwiegen ſein. Hüte dich, daß du Andern nicht übereilt deine 
Vermögensumſtände entdeckſt, um dich damit zu brüſten. Du 
läufſt Gefahr, dir Mißgunſt und Neid zu erwecken, wo du es 
am wenigſten beſorgeſt. Hüte dich, von deinen Umſtänden ohne 
forgfältige Ueberlegung einem Andern etwas zu offenbaren, wenn 
ſie übel ſtehen; denn du wirſt dem Zutrauen ſchaden, das man 


— 427 — 


is jetzt noch öffentlich zu dir hatte, und wirft dich durch eigene 
Plauderhaftigkeit um die Mittel bringen, mit denen du dir noch 
hätteſt helfen können. Hüte dich, Andern deine Ausſichten oder 
Entwürfe unbehutſam auszuplaudern; denn ihrer Viele ſahen eben 
dadurch ihre beſten Anſtalten und Abſichten vereitelt, daß ſchaden— 
frohe und neidiſche Meuſchen zu früh davon erfuhren. Man dich- 
tete ihnen Zwecke an, die fie nicht hatten, mißdeutete ihre red⸗ 
lichſten Wünſche, ſchadete der Wirkſamkeit ihrer Be 
durch Spötteleien. 

Sei verſchwiegen über deine eigenen Schwachheiten und Fehler. 
Es iſt ohnehin ein ſchlechter Ruhm, ſich mit feinen Thorheiten 
und Schwächen rühmen zu wollen. Aber oft geſchieht es, und 
beſonders bei gutmüthigen Perſonen, daß ſie in aller Unbefangen— 
heit von ihren Fehlern und tadelhaften Neigungen reden. Der 
edle Menſch, welcher ſolche Geſtändniſſe vernimmt, wird beſcheiden 
ſchweigen, der Unedle hingegen daraus Anlaß nehmen, deſto leichter 
Nachtheiliges über uns zu ſagen. Er wird durch Nacherzählung 
unſere geringfügigen Schwächen in Narrheiten, unſere Fehler in 
Laſter vergrößern. 

Haſt du ein Geheimniß (und Alles ſei dir Geheimniß, deſſen 
Bekanntwerdung keinem Menſchen einen Vortheil, dir wohl aber 
Schaden bringen kann), ſo lerne es mit eben der Behutſamkeit 
bei dir verwahren, wie du eine fremde Heimlichkeit zu verſchweigen 

ſchuldig biſt. — Wer ſein Geheimniß einem Zweiten anvertraut, 
der hat ſich, ſein Glück, ſeine Ruhe, ſeine Zukunft der Willkür 
eines Fremden überliefert und von ihm abhängig gemacht. Er 
hört auf, frei zu ſein, und wer nicht in voller Freiheit leben und 
handeln kann, der handelt und lebt nie mit valler Kraft. Ver⸗ 
traue niemals der Verſchwiegenheit eines Zweiten und Dritten 
mehr, als deiner eigenen. 
| Offenherzigkeit über eigene Angelegenheiten geziemt ſich nur 
da, wo Schweigen Schaden anrichten könnte; wo es Pflicht wird, 
Andern ſeine Meinungen, ſeine Denkart, ſeine Abſichten, ſeine 
Verhältniſſe unverhohlen zu zeigen, damit fie ſich nicht durch eine 
allzuvortheilhafte oder allzunachtheilige Meinung von uns taͤu⸗ 
ſchen, es ſei zu ihrem oder zu unſerm Schaden, R 


— 428 — 


Sei verſchwiegen über deine eigenen Angelegenheiten, ohne 
darum in allen Dingen zurückhaltend und verſchloſſen zu ſein. 
Theile dich in Allem gern mit, wo du keine Urſache haſt, zu 
fürchten, deine Mittheilungen konnten dir oder einem Andern 
Verdruß erwecken. Wo du redeſt, und nur aus Liebe zum Guten 
redeſt, kannſt du keine große Gefahr laufen. Aber ſelbſt in gleich⸗ 
gültigen Dingen verſchloſſen bleiben, oder da zurückhaltend ſein, 
wo es ſich um etwas Gerechtes und Gutes handelt, erregt Arg— 
wohn gegen die Beſchaffenheit deines Gemüthes. 

Sei verſchwiegen über deine eigenen Angelegenheiten, wo 
voreilige Plauderei dir und deinen Unternehmungen Widerfacher 
erwecken könnte, die jetzt noch ſchlafen. Aber darum gib nicht 
allen deinen Meinungen und Vorſätzen die Wichtigkeit großer 
Geheimniſſe; wer mit allzugroßer Vorſichtigkeit handelt, verdirbt 
leicht fo viel, als der Unbeſonnene; wer jedem feiner geringfü= 
gigen Entwürfe den Anſtrich des Heimlichen gibt, verliert ſich 
in Geheimnißkrämerei, die ihn zum Geſpött der Muthwilligen 
macht. a d 

Sei verſchwiegen über deine eigenen Angelegenheiten, wie 
über fremde, wenn Bekanntmachung Nachtheil ſtiften kann; nur 
fo gewinnſt du das Vertrauen der Rechlſchaffenen. Noch hat ſich 
Niemand durch redſelige Offenheit und Zutragung eigener und 
fremder Geheimniſſe Liebe und Zuverſicht erworben; ſondern mit 
Recht fürchtet man, daß der, welcher von ſich ſelbſt Sachen aus⸗ 
plaudert, die er beſſer gethan hätte, verborgen zu halten, ſchwer⸗ 
lich die Angelegenheiten Anderer verſchweigen könne. Und ſelbſt 
Diejenigen, welche ihm Geheimniſſe ablocken, weit entfernt, ſeine 
Offenheit zu loben, behandeln ihn als einen Thoren, und miß⸗ 
brauchen ſeine Geſchwätzigkeit, ſobald es Vortheil bringt. | 

Klug fein, wie die Schlangen, und dabei ohne Arg fein, wie 
die Tauben, das empfahlſt Du, o Jeſus Chriſtus, Du großer 
Lebenslehrer, Deinen Jüngern. Und ich fühle es, wie wichtig 
es für mein und anderer Menſchen Glück iſt, die Zunge auf eine 
weiſe Art gebrauchen zu lernen; zur rechten Zeit zu reden, zur 
rechten Zeit zu ſchweigen. Ich fühle es, wie unbeſonnene Offen- 


— 29 — 


herzigkeit keine Tugend, und wie ſchimpflich Verraͤtherei ift, die 
ich an Andern übe. 
So ſoll mir denn auch vorſichtiges Schweigen eine der erſten 


Chriſtenpflichten im Umgange mit den Menſchen fein. Denn 
meine Pflicht iſt es, nach Deinem Beiſpiel, o Jeſus, Du mein 


göttliches Vorbild, die Welt um mich her, ſo weit ich wirken 
kann, zu beglücken. Aber eine Zunge, die Feindſchaft ſtiftet und 
Mißtrauen, zerſtört den Frieden des Lebens. 

Und welches Recht hätte ich auch, den Schleier von den Ge 
heimniſſen meiner Brüder zu ziehen? Welches Recht hätte ich, 
gewaltthaͤtig ihre Schwächen, die fie ſich gern ſelbſt verbergen möch- 
ten, vor den Augen der Welt zu entblößen? — Wie ſchmerzlich 
wird es mir, wenn meine Gebrechen und Fehler ohne Mitleiden 
kund gethan, und mir dadurch Achtung und Zutrauen guter 


Menſchen geraubt werden! Was du aber nicht willſt, das dir ge» 


ſchehe, das thue du auch keinem Andern. So, mein Jeſus, lehrteſt 
Du; fo ſei fortan mein Wandel! Amen. 


— — — — 


48. 
Die Geſechwätzigkeit. 


Mark. 7, 36. 


Ich will des Nächſten, wie ich muß, 
Gott, auch im Reden fchonen, 
Nie ſein Vertrauen mit Verdruß 
Durch loſen Mund belohnen. 
Verbergen will ich das mit Fleiß, 
Was er und ich allein nur weiß. 


Was höh're Pflicht mir nicht verbeut, 
Will ich getreu bewahren. 

Wer gibt mir, fremde Heimlichkeit 

Das Recht zu offenbaren? 

Und brächt' es mir Gewinn und Ruhm, 

Geheimniß bleibt ein Heiligthum. 


Wie viel kann Unbeſonnenheit 
Mit Worten Böſes ſtiften! 
Wie leicht die Plauderhaftigkeit 
Ein Lebensglück vergiften! 
Wohl reden mögen iſt oft Kunſt: 
Das Schweigen bringt auch öfters Gunſt. 


—̃ä —— 


Gern ſuchte Jeſus Chriſtus, waͤhrend er auf Erden als Men 
wandelte, alles Aufſehen zu meiden, welches feine Lehren, nos, 
mehr ſeine wundervollen Handlungen erregen konnten. Er that 
dies nicht ſowohl, um ſich und feine Thaten gänzlich der Welt 
zu verbergen, oder aus Furcht vor den Menſchen, ſondern aus 
jener liebenswürdigen Beſcheidenheit, welche immerdar die Be— 
gleiterin der ächten Tugend zu fein pflegt. Er erröthete gleichſam 
vor feiner eigenen Herrlichkeit. Er hatte Mißfallen an der Ber 
wunderung, welche ihm der große Haufen zollte; denn nicht er 
forderte die Ehre, ſondern oft erklärte er, ſeinem Vater gebühre 
ſie, von dem allein alle guten und göttlichen Gaben ſtammen. 
Womit kann denn auch der Menſch prangen, das er ſich ſelbſt 
erworben hätte, und nicht von der Hand des Schöpfers an ſich 
trüge! — Mit dieſer zarten Beſcheidenheit, welche dem Weiſen 
ſo wohl anſteht, verband Jeſus zugleich eine aufrichtige Klug— 
heit. Er wollte Aufſehen und Geräufch zur Unzeit vermeiden, 


je 


und den Grund feines Erlöſungswerkes im Stillen legen, dame 
die Feinde deſſelben nicht allzufrüh darauf aufmerkſam würde: 
und Hinderniſſe machten. Darum, wenn das Volk, entzückt dure 
ſeine Reden und Thaten, ihn mit Ungeſtüm pries, mit Begeiſterun 
erheben wollte, entwich er in unbekannte Einſamkeiten. Darun 
wenn er wunderbar Kranke heilte, verbot er den Leuten, fie ſolltene 
Niemanden jagen. Je mehr er aber verbot, fo erzählt di 
Lebensbeſchreiber Jeſu (Markus 7, 36.) je mehr fie es aus 
breiteten. Und ſo ſollte auch Chriſtus den Schmerz erfahren, — 
er, dem keine Art des Schmerzes fremd bleiben durfte, da 
Freunde durch die Unbeſonnenheit ihrer Reden, durch die Unzeitig 
keit ihres Eifers uns oft nachtheiliger werden können, als di 
aͤrgſten Feinde. 8 
Gewöhnliche Menſchen pflegen zu ſagen, daß, wenn ma: 

nicht abſichtlich luͤge oder verleumde, fluche, ſchwöre, laͤſtere, ver 
rathe, ſpotte, man es mit dem Reden im gemeinen Leben nich 
allzugenau nehmen müſſe. „Wer kann auch“, heißt es dann 

„jedes Wörtlein auf die Goldwaage legen? — Man ſpricht ga 
Vieles in den Wind. Freundliche Geſprächigkeit iſt doch di 
wahre Würze des geſellſchaftlichen Lebens. Der Trieb der Geſellig 
keit iſt einer der alleredelſten in der menſchlichen Natur. Ma 
muß ſich da gegenſeitig mittheilen, fo gut man kann, fo gut ma. 
es verſteht, und ſich nicht allzuängftlich über jede Rede Bevent 
lichkeiten machen. Wer dies thut, fährt beſſer, er bleibe gan 
ſtumm, und aus der Geſellſchaft der Menſchen hinweg. Ma 
muß doch, wenn man ſpricht, auch wohl Andern Verſtand genn 
zutrauen, daß fie beurtheilen, was wir im Scherz oder Ernf 
was wir als Geheimniß im Vertrauen, oder N08 gleichgültis 
Sache für Jedermann ſagen.“ 
| So ungefähr pflegt man feine eigene Unbehutſamkeit im R 
den zu rechtfertigen oder zu entſchuldigen. Es ſind dies die Grun 
ſaͤtze von derjenigen Art, mit welchen man endlich alle Schaͤndlic 
keiten beſchönigen kann. 
| Das Wort des Menſchen ift feine That. Das Werk 
Hand oder des Fußes iſt ſelten von der Wichtigkeit, als das Wr 
der Zunge. Mit dieſer enthüllen wir den Zuſtand unſers @: 


1 
l 


- 


muͤths; durch fie ſetzen wir unſern Geiſt am ſchnellſten und haͤu⸗ 
figſten in Verbindung und Verſtändniß mit allen übrigen Geiſtern. 
Der müßte ein beinahe wunderthätiger Heuchler fein, welcher bei 
einem böſen Herzen ſeine innere wahre Geſtalt nicht endlich mit 
irgend einem Worte offenbarte. Durch das Wort verbinden und 
entzweien wir die Welt, verwunden oder heilen wir die Herzen, 
belehren oder verführen wir die Ungewiſſen, adeln oder entadeln 
wir die Geiſter. — Darum iſt das Wort nicht nur dem Chriſten, 
ſondern ſelbſt jedem verſtändigen Menſchen wichtig, von welcher 
Religion er auch ſein möge. Es iſt durchaus nicht gleichgültig, 
wie man ſpricht und was man ſpricht. Der Trieb zur Geſellig⸗ 
keit iſt freilich vorhanden; er entſchuldigt aber keineswegs den 
Mißbrauch der Zunge, ſondern legt uns vielmehr Pflichten auf, 
das Glück der Geſellſchaft nicht auf eine unvorſichtige Weiſe durch 
beleidigende Aeußerungen zu ſtören. Darum warnt die heilige 
Schrift kaum vor einer Sünde fo ſehr und fo häufig, als vor 
dem Mißbrauch der Zunge. Laſſet, ruft ſie, kein faul Geſchwätz 
aus euerm Munde gehen, ſondern was nützlich zur Beſſerung iſt, 
daß es Noth thut, daß es holdſelig ſei zu hören. (Epheſ. 4, 29.) 
Wir fehlen Alle mannigfaltig; wer aber auch in keinem Worte 
fehlet, der nur iſt ein vollkommener Mann und kann auch den 
ganzen Leib im Zaum halten. Die Zunge iſt ein kleines Glied, 
und richtet große Dinge an. Siehe, ein kleines Feuer, welch 
einen Wald zündet es an! Und die Zunge iſt ein Feuer, eine 
Welt voll Ungerechtigkeit. Durch ſie loben wir Gott, den Vater, 
und durch ſie fluchen wir den Menſchen, nach dem Bilde Gottes 
gemacht. Aus einem Munde geht Lob und Fluchen. Es ſoll 
nicht, liebe Brüder, alſo ſein. Quillet auch ein Brunnen aus 
einem Loch ſüß und bitter? (Jak. 3, 2. 5. 6. 9. 10. 11.) 

So ſpricht die heilige Schrift. 

Es iſt allemal ein Zeichen übler Beurtheilungskraft, ſchwachen 
Verſtandes oder aber mangelhafter Selbſtbeherrſchung, wenn ein 
Menſch ſeiner eigenen Zunge nicht Meiſter iſt. Wer kann ohne 
volle Selbſtbeherrſchung Anſpruch auf den Namen eines Weiſen, 
das heißt, eines ächten Nachfolgers und Nachahmers Jeſu, machen! 

Der Fehler, in Geſprächen mehr zu ſagen und zu entdecken, 


— 433 — 


als man ſoll und ſogar ſelbſt will, iſt ſehr haͤufig. Es gibt wohl 
nur wenig Menſchen, welche nicht ſchon in denſelben verfallen 
ſind, und entweder damit Andern viel Verdruß, oder ſich ſelbſt 
ſehr große Unannehmlichkeiten verurſacht haben. 

Auch iſt es ſchwer, ſich denſelben abzugewöhnen, weil dazu 


nicht nur die ſtrengſte, anhaltendſte Aufmerkſamkeit auf ſich ſelbſt, 


ſondern auch ein Kampf gegen fein eigenes Temperament erfor⸗ 
dert wird. — Es gibt Menſchen von der beſten Gemüthsart; es 
geht kein unanſtändiges Wort, kein Fluch, Fein ekelhafter Schimpf- 
name, keine Verleumdung über ihre Lippen; — dennoch ſind ſie 
nicht fähig, irgend ein Geheimniß zu bewahren, und in Dingen 
verſchwiegen zu ſein, die beſſer ſind, verſchwiegen zu bleiben. Sie 
gehören zu denjenigen, von welchen Markus ſagt: je mehr es 
ihnen Chriſtus verbot, je mehr breiteten fie es aus. 
Eben dieſe Menſchen pflegen oft eben ſo ſchnell ihre Unvorſichtig⸗ 
keit zu bereuen, ihre Uebereilung zu verwünſchen, — aber zu 
ſpät. Sie wiſſen es, daß ſie durch ihre unbedachtſamen Aeuße⸗ 
rungen ſchon den beſten Freunden vielmals Schaden gethan, und 
ſich ſelbſt in die unangenehmſten Verlegenheiten geſtürzt haben. 
Sie wiſſen es, daß Neugierige oder boshafte Schlauföpfe, oder 
heimtückiſche, ſchadenfrohe Leute mehr als einmal ſchon ihre Offen⸗ 
herzigkeit übel benutzten, ſchlimmen Gebrauch von ihrer Redſelig⸗ 
keit machten, und dennoch verfallen ſie immer wieder in den ſchon 
fo oft und fo bitter bereuten Fehler. — Er heißt Geſchwaͤtzigkeit. 

Je nach den verſchiedenen Denkarten und Stellungen der 
Menſchen nimmt dieſe Untugend auch ihre verſchiedenen Geſtalten 
an. Oft iſt ſie eigentlich nicht ſchaͤdlich und ſündlich, ſondern 
nur ein Verſtoß gegen die gute Lebensart, gegen die Pflichten 
die wir den geſellſchaftlichen Verhaͤltniſſen ſchuldig ſind. Sie iſt 
mehr laͤſtig, beſchwerlich oder lächerlich, als ſtrafbar. 

Viele Schwäger find zwar behutſam genug, nichts von dem 
zu verrathen, was für fie und Andere beſſer iſt, daß es verhehlt 
bleibe; aber doch überlaſſen fie ſich allzugern einer unerträglichen 
Plauderei, indem ſie durch Mittheilung ihrer Gedanken in 
Worten kein Maß zu halten wiſſen. Sie wiederholen ſich, drücken 


ſich immer durch einen Schwall nichtsſagender Reden aus; be 
III. 19 


u 


täuben damit das Ohr derer, die gefällig genug find, ihnen zu⸗ 
zuhören, und erregen durch ihre Weitſchweifigkeit entweder Lange⸗ 
weile oder Verſpottung. Die Plauderſucht iſt oft nur eine un⸗ 
geregelte Geſelligkeitsluſt, ein kindiſches, abſichtsloſes Ge⸗ 
ſchäftigſein. 

Der Fehler ſteigt, ſobald ſich damit andere Untugenden ver⸗ 
binden, wie nur zu oft der Fall iſt, beſonders Eitelkeit und 
Stolz. Dann wird der Schwätzer anmaßend. Er will das Wort 
in den Geſellſchaften führen, er will gehört ſein. Er will be⸗ 
lehren, um Bewunderung zu ärnten. Er breitet ſich mit er⸗ 
müdender Weitläufigkeit über ſeinen Gegenſtand aus, und will 
auch da Kenntniſſe mittheilen, wo es Niemand begehrt; oder er 
weiß anmuthige Fröhlichkeit genug in ſeine Plaudereien zu brin⸗ 
gen, aber ſelten zur gehörigen Zeit das Ende derſelben zu finden. 
Er iſt zu eitel, um Andere neben ſich glänzen zu laſſen, und zu 
unbeſcheiden, um ſich nicht lieber ſelbſt, als Andere zu hören. 

Dergleichen Perſonen find im geſellſchaftlichen Umgange 
häufig genug; und ſo achtungswürdig ſie in vielen Rückſichten 
ſein können, verdunkeln ſie durch beläſtigende Wortfertigkeit doch 
ihren eigenen Werth. Sie können nicht verhüten, daß man ihre 
Thorheit nicht lächerlich finde; und eine Lächerlichkeit ſolcher Art 
iſt oft ſchädlicher in der bürgerlichen Welt und unter den Men⸗ 
ſchen, wie ſie nun einmal ſind, als ſelbſt zuweilen ein grober 
Fehler iſt. 4 

Wenn aber die Plauderhaftigkeit zur wirklichen Sucht und 
Leidenſchaft wird; wenn der Menſch, was er kennt und weiß, 
ſogleich mit geſchäftiger Zunge zu verbreiten ſich gezwungen fühlt; 
wenn das Geheimniß, das im Vertrauen zu ihm geſprochene 
Wort, ihn gleichſam brennt und quält, bis er es einem Andern, 
aber unter dem Siegel der Verſchwiegenheit, die er ſelbſt bricht, 
umftändlich mittheilt — dann iſt es nicht mehr Thorheit, die den 
Spott, nicht mehr Fehler, der den Tadel, ſondern Laſter, das 
den gerechten Abſcheu nach ſich zieht. Denn dieſer Schwätzer iſt 
nicht bloß kindiſcher Plauderer, oder rechthaberiſcher Gegenredner: 
ſondern willen- oder verſtandesloſer Sklave feiner Begierden, 
Alles, was er hört und ſieht, wieder zu verbreiten, und das Ver⸗ 


3 


botene am liebſten. Er iſt jeden Augenblick fähig, und ſollte es 
auch das ſchmählichſte Verderben bringen, das heiligſte Geheim⸗ 
niß vor fremden Augen zu entblößen, den theuerſten Buſenfreund 
zu verrathen, durch Zwiſchenträgerei die innigſten Familien zu 
trennen, durch Ohrenbläferei und Klatſcherei die unſchuldigſten 
Menſchen ins Gerede zu bringen. 

Was unſer Nächſter geheim halten will, dazu haben wir kein 
Recht. Es gehört ihm ſo gut, wie jedes andere Eigenthum. Er⸗ 
fahren wir einen geheimen Umſtand zufällig, ohne Abſicht und 
Willen deſſen, der die Sache nicht laut werden laſſen will, iſt es 
auch unſere Pflicht, das tiefſte Schweigen zu behaupten. Je⸗ 
mandens Geheimniß, wider deſſen Willen, an die Welt aus⸗ 
liefern, heißt Jemandem ſein Eigenthum ſtehlen. Eben ſo wenig wir 
Recht haben, ein uns in Verwahrung gegebenes Gut zu verſchenken 
oder zu verkaufen, dürfen wir auch ein anvertrautes Geheimniß weiter 
geben, es ſei denn, daß das, was wir verſchweigen ſollen, zum Un⸗ 
glück Anderer gereichen würde. Auch Diebesgut darf ja Niemand 
verhehlen, oder ſtill ſein, wenn es in des Nachbars Hauſe brennt. 

Zuweilen iſt die Geſchwätzigkeit noch keine wirkliche Leiden— 
ſchaft, und doch bringt ſie alle gefährlichen Wirkungen einer 
Leidenſchaft hervor. Dies iſt allemal der Fall, wenn irgend 
eine andere Leidenſchaft, eine offene oder geheime, voran- 
geht, welche Verſtand und Vernunft betäubt, und zur unbe⸗ 
ſonnenen Plauderei reizt. Wir wiſſen, daß Jeder ſchon in dem 
Augenblicke geſprächiger wird; da ſeine Empfindungen lebhafter 
werden. In dem Maße, wie die Gewalt des Gefühls zunimmt, 
nimmt die Richtigkeit der Urtheilskraft ab. Darum werden ſonſt 
verſchwiegene Menſchen ſchon geſchwätziger, wenn ſie nur durch 
ſtarke Getränke ihre Nerven mehr als gewöhnlich gereizt haben. 
Darum iſt ſprichwörtliche Redensart geworden, daß Berauſchte 
offenherzig ſeien. Darum macht eine große Freude, wie ein 
heftiger Zorn, beredt und zum Verräther der innerſten Gedanken, 
die Freude aus Liebe, der Zorn aus Haß. 

Alle allzulebhaften Gefühle find ein Seelenrauſch und ver- 
wirren das Urtheil in uns. Alle Leidenſchaften, wenn ſie durch 
einen Anlaß heftiger gereizt werden, erzeugen Heftigkeit in den 


— 136 — 


Empfindungen. Der fältefte Böſewicht Hört auf, gelaſſen zu fein, 
und wird geſchwatzig, ſobald feine schwache Seite (das tft, die 
Grundleidenſchaft, welche ihn bewegt, und die er klug genug zu 
verbergen ſucht) angegriffen iſt; eben ſo der trägſte und wort⸗ 
armſte Menſch. 

Perſonen von lebhaftem Temperament und reizbarem Nerven⸗ 
bau bedürfen, um in Gährung zu gerathen, ohnehin keiner 
außerordentlich mächtigen Leidenſchaft, ſchnell alle Ueberlegung 
und Behutſamkeit zu verlieren. Eine geringe Schmeichelei, unter 
der ihre Eitelkeit erwacht, macht ſie plauderhaft, zutraulicher 
und offener, als ſie ſein ſollen; ein unſchuldiges Wort, das ihr 
argwöhniſches Weſen reizt, macht ſie gehäſſig, bitter, red⸗ 
ſelig; eine verſäumte Aufmerkſamkeit gegen ihren Stolz, ein 
Zweifel an ihren Vollkommenheiten, macht ſie bis zur Unertraͤg⸗ 
lichkeit geſchwätzig. 

Zuweilen kann eine allzugroße Gutmüthigkeit, welche die 
Menſchen für beſſer halt, als ſie in der That ſind, verbunden 
mit einer lebhaften Neigung zur Geſelligkeit und Unterhaltung, 
zu dem Fehler einer unbedachtſamen Geſchwätzigkeit verleiten. 
Jene Gutmüthigkeit, manchmal an kindliche Unerfahrenheit gren— 
zend, iſt oft bei den beſten, weiſeſten, einſichtsvollſten Menſchen 
einheimiſch; iſt eine wunderbare Selbſttäuſchung, indem ſie Jeden 
für fo gut und rein halten, als fie ſelbſt find; iſt eine liebens⸗ 
würdige Schwachheit der Urtheilskraft, nicht aber des Herzens, 
die darum zum Fehler wird, weil ſie alle Früchte des Fehlers 
trägt. Unter durchaus edeln und reinen Menſchen wird dieſer 
Fehler kein Fehler, ſondern Natürlichkeit eines tugendhaften Ge— 
müthes. Unter mehr oder weniger Verdorbenen mangelt ihnen 
zur evangeliſchen Taubeneinfalt die Klugheit der Schlangen. 
Die Unbeſonnenheit gutherziger Menſchen kann wohl tadelhaft, 
nie haͤßlich und entehrend fein, 

O mein Gott, indem ich mir in dieſem Augenblicke die Ur 
ſache und Folgen eines Fehlers deutlich zu machen ſuche, in wel— 
chen auch ich wohl oft in den heiterſten Stunden meines Lebens 
verfiel, — wie kann ich ihm entrinnen? O gib Du mir Kraft 
und Weisheit, daß ich das vermeide, was mir ſelbſt und meinem 


— 437 — 


Nächſten ſo viel Uebels ſtiften muß. — Ja, auch ich habe die 
Unbedachtſamkeit meiner Worte ſchon mehr als einmal Urſache 
gehabt zu bereuen; ich habe mir vielleicht dadurch in der Achtung 
bei Andern ſchon mehr geſchadet, als ich ſelbſt glaube und weiß. 
Sollte ich nicht allen Ernſt anwenden, mich von dieſer jo ge⸗ 
fährlichen Untugend ganz frei zu machen? 

Und ich kann es, — ja, ich hoffe, ich werde es, wenn ich 
mir nur durch gehörige Aufmerkſamkeit den Weg zur Herrſchaft 
über mich ſelbſt immer beſſer bahne. Ich will mich nie von 
der Lebhaftigkeit meiner Gefühle allzumächtig dahin— 
reißen laſſen, weder den unangenehmen Empfindungen, noch 
den fröhlichen, zu viel Meiſterſchaft über mich einraͤumen. Denn 
wo ſie einmal herrſchen, da flieht die Ueberlegtheit, und das Wort 
wird am fremden Glücke und am eigenen Herzen zum Verraͤther. 

Beſonders will ich mir zum unverbrüchlichſten Gehorſam 
drei Lebensregeln aufſtellen. Dieſe werden mich vor jedem un— 
angenehmen Rückfall in den verächtlichen Fehler bewahren. 

Es ſoll mir zum Geſetz werden, daß ich ſowohl unter 
einzelnen vertrauten Freunden, als noch vielmehr in 
größerer Geſellſchaft oder unter mir weniger bekannten 
Perſonen, lieber ein beſcheidenes Schweigen beobachte, 
denn durch Reden zu glänzen ſuche. Wir haben, ſagte ſinn⸗ 
bildlich ein alter Weiſer, zwei Ohren zum Hören, aber nur 
einen Mund, um zu reden. So will ich auch lieber hören. und 
mich unterrichten laſſen, als durch Unbehutſamkeit läſtig oder 
gar ſchädlich werden. 

Es ſoll mir zum Geſetz werden, daß, wenn ich ſprechen 
muß, ich zwar Alles das denke und glaube, was ich fage, 
aber nicht Alles ſage, was ich in mir denke und glaube. 
Denn wahrlich, Niemand begehrt von uns Alles, was wir denken 
und wiſſen, zu erfahren; und es iſt wohl die thörichtfte Eitelkeit, 
ſich einzubilden, es müſſe Andern alles das wichtig ſein, was für 
uns einige Wichtigkeit hat. Eben ſo wenig wird man immer 
aufgefordert, ſeine Meinung über andere Perſonen und deren 
Angelegenheiten zu äußern. Und wenn ich auch aufgefordert 
würde, bin ich darum immer verpflichtet, ſogleich mein Urtheil 


zu fällen? Gebe ich nicht jederzeit eine Schwäche meines Ver⸗ 
ſtandes oder meines Herzens bloß, wenn ich über Andere ab⸗ 
ſpreche, ohne ihr Innerſtes und die Beweggründe ihres Betragens 
zu kennen? Und bin ich nicht aufgefordert, nicht zur Mittheilung 
deſſen verpflichtet, was ich von mir und Andern weiß, um wie 
viel frecher iſt dann der unberufene Plauderer? Das fordert die 
Offenherzigkeit, die Wahrheitsliebe, das ich Alles, was ich ſage, 
auch denke und glaube. Aber dagegen fordert die Beſcheidenheit, 
die Klugheit, die Schonung, daß ich nicht Alles ſage, was ich 
denke und weiß. 

Es ſoll mir endlich zum Geſetz werden, daß ich ſchweige, 
ſobald ich wahrnehme, es übermanne mich die Leb— 
haftigkeit meiner Gefühle. — In Unmuth oder Vergnügen 
kann ich leicht durch ein unüberlegtes Wort zu viel thun. Ich 
habe es oft erfahren. Eine unbeſonnene Zutraulichkeit hat nicht 
ſelten das bitterſte Unglück herbeigeführt. Ich bin nicht immer 
Herr über meine Gefühle. Sie können rege werden; ſie mögen 
es ſein. Aber in der Lebhaftigkeit derſelben will ich mir jede ent⸗ 
ſcheidende Handlung, jedes entſcheidende Wort unterſagen. Nur 
ſo bleibe ich Herr meiner ſelbſt und jedes Geheimniſſes, das ich 
mir ſelbſt dazu mache, oder welches meiner Treue und Ver⸗ 
ſchwiegenheit anvertraut ward. Ach Gott, gib mir Kraft! Ernſt 
iſt mein Wille, meine Sehnſucht, immer beſſer und wohlgefälliger 
vor Dir nach dem Beiſpiele meines Jeſu zu wandeln, — aber 
wer ſichert mich gegen meine eigenen Schwächen? Du kannſt es 
durch die Macht Deines heiligen Geiſtes. O ſtehe mir bei in den 
Augenblicken der Prüfung! Amen. 


49. x 


Empfindungen om Geburtstage 
| Luk. 3, 11 — 32. 


Ich ſink im Geiſte Dir zu Füßen, 
Vergib, o Vater, meine Schuld! - 
Es ruft mein blutendes Gewiſſen: 
Erbarmer, gib mir Deine Huld! 
Weh' mir! willſt Du nicht Vater ſein, 
Steh' ich im Weltall ganz allein! 


Zum Leben haſt Du mich gerufen; 
Das Leben flog wie Traum dahin, 
Vielleicht, daß an des Grabes Stufen 
Ich näher, als ich glaube, bin. 

Und ich, was hab' ich hier gethan? 
Erfüllt' ich, Schöpfer, Deinen Plan:? 


Nein, ruft mein blutendes Gewiſſen, 
O Menſch, du haſt umſonſt gelebt! 
An niedern thieriſchen Genüffen. 
Haſt du mit frecher Luſt geklebt. 
Du lebteſt für den Nauſch der Zeit, 
Und nie für Gott und Ewigkeit! 


O Vater, blicke auf mich Armen! 
Iſt Jeſus denn nicht auch mein Hort? 
Erbarmer, gib mir Dein Erbarmen! 
Verhieß es mir nicht Jeſu Wort? 
Noch leb' ich — ach, noch kann's ja ſein, 
Ich kann mich noch der Tugend freu'n! 


Zu Deiner Ehre will ich leben, 
Der Du die Miſſethat vergibſt; 
Will haſſen, was Du mir vergeben, 
Will lieben, was Du ſelber liebſt: 
So wird ja mein Gewiſſen rein 
Und heilig noch mein Wandel ſein. 


Ich bin ein Jahr älter geworden — ein Jahr näher zur Voll⸗ 
endung. Frohe und ſchmerzliche Erfahrungen habe ich in den 
Tagen des verlebten Jahres geſammelt; — haben fie meinen Geift 
reifer gemacht? Vielleicht ſind meine Kenntniſſe gewachſen, viel⸗ 
leicht habe ich mein Anſehen hin und wieder vermehrt, vielleicht 
habe ich mein Vermögen vergrößert — doch dies Alles iſt das 
Aeußere, dies Alles kann wieder der Raub einer einzigen un⸗ 


% 


— 440 — 


glücklichen Stunde werden; vielleicht vertauſche ich ſchon im 
Laufe dieſes Jahres dies Alles mit einer Hand voll Erde, die 
man auf meinen Sarg wirft. 8 

Und wofür haſt du denn dein Leben gelebt? wofür die Reihe 
von Jahren unter Lachen und Weinen und in den Wechſeln des 
Glücks hingebracht? — Menſch, was du vor den Menſchen biſt, 
das weißt du zwar; aber was biſt du vor Gott dem Ewigen, o dur 
zur Ewigkeit Erkorner? 

Geheime Bangigkeit erfüllt meine Seele. Ein Jahr meines 
Erdenlebens iſt verflogen. Bin ich heute ein beſſerer Menſch, als 
ich vor zwölf Monden geweſen? Mit welchen edeln Handlungen 
habe ich das verfloſſene Jahr geſchmuͤckt? Nun ſteht es mit meinen 
Thaten vor dem Richter. — Iſt eine unter ihnen, deren ich mich 
mit Zuverſicht freuen darf? Ach, wie Manches, das ich bereuen 
muß, ſteht daneben; wie manches Unrecht, an Andern oder an 
mir ſelbſt begangen; wie manches ſträfliche Gelüſte; wie manches 
harte Urtheil über meinen Nebenmenſchen; wie mancher Ausbruch 
wollüſtiger oder zorniger, ſtolzer oder neidiſcher, unbarmherziger 
oder ſchadenfroher Neigungen! — O ich Unglücklicher! wo ſind 
meine Gebete, meine Gelübde? Was iſt meine Religion geweſen? 
Was bring' ich zur Todesſtunde einſt anderes, als ein blutendes 
Gewiſſen? — Wie kann ich Hoffnung faſſen zur Seligkeit, die 
nur das Erbe der vollendeten Gerechtigkeit iſt? Wie mich der 
Gnade des Barmherzigen freuen, der auch der allgerechteſte Richter 
meines Lebens iſt? — Ich werde dort nur das ſein, was ich auf 
Erden zu werden trachtete. 

Soll ich mich der Verzweiflung überlaſſen? Denn wer bringt 
mir das verlorne Jahr, mein verſchwendetes Leben zurück. Soll 
ich das Verdienſt Jeſu anrufen, daß es mir zugerechnet werde? 
O fürchterlicher Wahnſinn, der ſich erlaubt, mit der Hölle zu 
buhlen, um ſich das Verdienſt des Allerheiligſten zuzueignen! 
Soll ich auf Fürbitten der Vollendeten und Frommen hoffen? 
Unabänderlich find die Rathſchlüſſe Gottes, und unabänderlich 
und ewig iſt ſein ernſtes Wort: „Was der Menſch ſäet, das 
wird er ärnten!“ 

Ich lebe noch! — Des himmliſchen Vaters Langmuth ließ 


Be 


mich dieſes neue Jahr erblicken. Geſchah dies ohne Zweck! — 
Was iſt in Gottes Anordnungen ohne Zweck? 

Ich lebe noch! — Noch iſt es Zeit zur Ausſaat, und was 
der Menſch ſäet, das wird er ärnten! 

Hinweg denn, unfruchtbare Hoffnungsloſigkeit, heimlicher 
Gram, allzuſpäte Reue, die mich verzehren! Hinweg, ihr falſchen 
Troſtgründe meiner Einbildungskraft! — Mich kann Niemand 
tröſten, wenn mich mein Vater nicht tröſtet. Und er hat mir 
Troſt gegeben, indem er mein Leben friſtete und mich noch dieſen 
Augenblick voll Barmherzigkeit erhält. So ſei denn dieſes Jahr 
mein Jahr der Rettung; bekämpfen will ich in mir alle ſünd⸗ 
haften Begierden. — Nein! Auch dieſes iſt zu wenig. Der todte 
Stein am Wege ſündigt auch nicht. Ich will weiſe, menfchen- 
freundlich, enthaltſam, ich will ein Chriſt werden. 

Noch komme ich nicht zu ſpät; denn der Schöpfer hat meine 
Lebensbahn bis heute offen behalten, mir Kraft verliehen, das 
Gute zu thun. Noch komme ich nicht zu ſpät; — denn Gott 
im Himmel hat keinen Gefallen am Tode des Sünders, 
ſondern daß er lebe und beſſer werde, und Werke der Buße, 
das heißt, eines reuigen, edeln, Gott: gefälligen Sinnes thue. 
Noch komme ich nicht zu ſpät; — denn mein Jeſus nimmt auch 
mich Sünder an, daß ich durch ihn, das heißt, durch Erfüllung 
ſeiner Lehren, mich zum Vater wende. — War er es nicht, welcher 
rief: Kommet her zu mir, die ihr mühſelig und be— 


laden ſeid, ich will euch erquicken! Auch ich bin mühſelig 


durch meine Miſſethat und beladen mit einem Leben voller 
Schuld! 

Noch komme ich nicht zu ſpaͤt! Wahr iſt's, die Erinnerungen 
an meine verſchiedenen laſterhaften Neigungen und an die 
traurigen Folgen derſelben ſind unendlich zahlreicher, als die 
Erinnerung an das wenige Gute, welches ich hin und wieder 
gethan habe. Und zuweilen ergreifen mich Bangigkeit und Zweifel 
bei der Frage: Kann Alles, was ich in den Stunden, Tagen, 
Jahren, die Gott mir noch zu leben vergönnt, irgend noch Recht⸗ 
ſchaffenes thue, alle jene unreinen Handlungen vergeſſen machen, 
mit denen ich mein übriges Leben befleckt habe? Wird das zahl⸗ 


— 442 — 


loſe Unkraut, welches ich ſonſt ausſäete, nicht die wenigen guten 
Samenkörner erſticken, die mir jetzt noch auszuſtreuen erlaubt 
ſind? Barmherziger Gott, gehe nicht mit mir ins Gericht! Ach 
laß mich verhüllen, was ich gelebt habe. 

Wie ſich ein Vater erbarmt ſeines Kindes, ſo erbarmt ſich 
Gott der Sünder, die ſich zu ihm wenden. Auch ein irdiſcher 
Vater vergißt ja gern alle Thorheiten und Jahre lange Ver⸗ 
gehungen ſeines Kindes, wenn es ſich von denſelben befreit und 
als ein beſſerer Menſch an das Vaterherz zurückkehrt. — Jene 
Thorheiten, jene Vergehungen ſind ſchon genug durch ſich ſelbſt 
beſtraft worden. — Denn jedes Laſter führt ſeine Hölle mit ſich, 
und kein Vergehen, groß oder klein, bleibt in der heiligen Welt⸗ 
einrichtung Gottes ohne böfe Folgen für ſich ſelbſt. — Der 
Wollüſtling zähle die angſtvollen Augenblicke und die Pein ſeines 
geſchwächten, ſiechen Leibes: ſiehe, fie find deiner geheimen Sün⸗ 
den Frucht. — Die Strafe verfolgt dich vielleicht bis ins Sterbe⸗ 
bett; aber noch lebſt du, noch biſt du unverloren! — Kehre 
zum Vaterherzen deines Gottes mit reuigem Gemüth zurück; än- 
dere dein Leben; trage die Strafe deiner Sünde mit kindlicher 
Ergebung; werde Andern nützlich, indem du ſie vor gleicher 
Sünde warneſt. Rette Seelen, ſo adelſt du dich wieder, und 
ſteigſt aus deiner Verworfenheit empor zu hoher Beſtimmung. — 
Habfüchtiger, der feine Hand nach ungerechtem Gute ausſtreckte, 
und du, der du voll Neides uud ſchadenfroher Rache Ehre, guten 
Namen, Eigenthum und Lebensgenuß Andern raubteſt; — Ehr- 
ſüchtiger, der in der Welt nichts ſah, als ſich ſelbſt, und darum 
den Einen haßte, den Andern verſpottete, die Unſchuld zertrat, 
das Recht verletzte; — Schwelger, der das Gute, mit dem er ſo 
viele Familien hätte glücklich machen können, leichtſinnig ver⸗ 
praßte, in unnützem Aufwande vergeudete, bis ihm nichts blieb, 
als eine zerrüttete Geſundheit und ein wundenvolles Gewiſſen; — 
Spieler, der du deine edelſten Stunden in Angſt und Schaden⸗ 
freude um elenden Gewinn verſchwendeteſt, waͤhrend andere 
Augen über dich weinten; der du dein Zartgefühl verſtumpfteſt, 
bis deine Hand auch nicht mehr vor Verbrechen zurückzitterte; — 
o ihr Unglücklichen alle, die ihr heute am Rande eines fruchtlos 


1 


verfloſſenen Lebens daſtehet, beſchämt, reuig, vielleicht verzweifelnd; 
die ihr ſchaudernd zurückblickt in das vergangene Unſelige, und 
rufet: Es iſt zu ſpät! — Nein, nein, es iſt noch nicht zu ſpaͤt! 
Ihr ſeid noch unverloren! — Traget die Strafen eurer Schuld, 
aber ehret ſie als Boten Gottes. Sie rufen euch zu: Säet fortan 
beſſere Saat, Saat für die Ewigkeit. 

Wache auf, der du ſchläfſt, und ſtehe auf von den Todten, 
ſo wird dich Chriſtus erleuchten. (Eph. 5, 14.) So ruft das 
göttliche Wort; ſo ruft die Stimme in unſerm Innern: Wache 
auf! Soll es denn ewig ſo währen? 

Mit Recht wird jeder Sünder mit einem Todten verglichen; 
denn das Edlere, das Unſterbliche in ihm iſt todt. Todt iſt alles 
Irdiſche, wie der Staub, aus dem es ſtammt und zu dem es 
zurückfällt. Nur das Göttliche iſt Leben. 

Aber ich lebe, ſpricht Jeſus, und ihr ſollt auch leben! 
(Joh. 14, 19.) Auch der Sünder ſoll nicht untergehen. Es iſt 
eine Rückkehr zum Vater möglich. Der Vater ſelbſt ruft uns. 
Selbſt in den Folgen unſerer Vergehungen ertönt die Stimme 
der Natur: Kehre um zu Gott! — Verzweifle nie; auch deiner 
Rückkehr freut ſich noch der Himmel, wenn du Buße thuſt 
(Luk. 15, 10.), wenn du Jeſu Freund wirft. 

Aber taͤuſchen wir uns nicht mit dunkeln und verworrenen 
Vorſtellungen über das, was eigentlich Rückkehr zu Gott und 
Freundſchaft mit Jeſu ſein ſoll. Bilden wir uns nicht ein, 
es ſei der Sieg errungen, wenn wir mit zerknirſchtem Herzen 
unſere Sünden bereuen; wenn wir in Thraͤnen zerfließen, wenn 
wir die Freuden des Lebens, auch die unſchuldigſten, meiden; 
wenn wir von Kirche zu Kirche eilen; wenn wir bei jedem An⸗ 


laſſe die Liebe Jeſu im Munde führen und uns der Wunden des 


für unſere Sünden geopferten Lammes getröften. — Viele Men⸗ 
ſchen, wenn ihr Glück, ihre Geſundheit, ihr Leben, durch lange 
Laſter zerſtört ſind, wählen dieſen falſchen Weg; aber ihre Buße 
iſt keine Freundſchaft mit Jeſu, ſondern eine quälende Angſt vor 
den Folgen ihres Wandels in einem künftigen Daſein; ihre ver⸗ 
meintliche Bekehrung iſt keine Rückkehr zu Gott, ſondern eine 
neue Verirrung zu fruchtloſen Einbildungen. Aber ihre Ein⸗ 


- 


bildungskraft ermattet endlich, und ihre Rührungen werden end⸗ 
lich ſchwaͤcher, wie alles Ueberſpannte. Dann halten ſie ſich für 
lau. Dann klagen ſie über die Sündlichkeit ihres Fleiſches. 
Dann fallen fie in die vorige Bangigkeit zurück und gelangen nie 
zu dem Ziele, wohin ſich ihr Herz ſehnt. 

Auf welche Weiſe nun kann der Sünder zu Gott wahrhaft 
zurückkehren? Wann ſind wir der Freundſchaft mit Jeſu ge⸗ 
wiß? — Er ſelbſt, der ewige Sohn, hat es uns geſagt: Ihr ſeid 
meine Freunde, ſo ihr thut, was ich euch gebiete! (Joh. 15, 14.) 
Nicht Worte, nicht ſtundenlange Gebete, nicht das Herr! Herr! 
Sagen, nicht die frommen Andächteleien, aus denen für das 
Heil der Welt kein Gutes quillt, nicht Entſagung der ſchuldloſen 
Erheiterungen: das Alles hat uns der erhabene Gottesſohn nicht 
geboten! — Thaten fordert er von dem reuevollen Sünder, 
der nach Vergebung ſchmachtet; Werke der Bekehrung und eines 
beſſern Sinnes. 

Was ſoll ich thun, daß ich ſelig werde? fragt 576 dem es 
Ernſt iſt um die Freundſchaft Jeſu. -Und der Herr ſpricht: Liebe 
Gott über Alles, und deinen Nächſten wie dich ſelbſt. 

Hier iſt der Weg zur Rückkehr, aber dieſer Weg iſt nicht ſo 
leicht. Er geht durch tauſend Kämpfe gegen Verſuchungen alter 
Lüſte, gegen Gewohnheiten, welche Fluch brachten, — es iſt ein 
Kampf mit dem Verderben unſerer eigenen Natur. — Freilich 
leichter iſt Beten, als ſeiner Wolluſt und Ueppigkeit auf ewig zu 
entſagen; leichter iſt es, in die Kirche zu rennen, als ſich mit 
Feinden zu verſöhnen, und ſelbſt dem Unverföhnlichen Liebes im 
Geheimen zu erweiſen; leichter iſt es, zu faſten und zu ſeufzen, 
als ein guter Hausvater zu werden, wenn man Verſchwender 
oder Spieler geweſen; leichter iſt es, ſich mit Jeſu Wundmalen 
zu tröſten, als Wunden zu heilen, die wir durch liebloſe Worte 
und Thaten verurſachten; leichter iſt's, hie und da kleine Almoſen 
zu ſpenden als ungerechtes Gut an den wahren Eigenthümer 
zurückzuſtellen, dem man es durch Gewalt oder Lift, durch Ber 
trug, Erbſchleicherei und falſches Zeugniß entriſſen hatte: — 
aber, es gilt das Höchfte im Leben und im Tode; es gilt Rettung 
der unſterblichen Seele vom Untergang; es gilt Frieden auf Erden 


— 45 — 


und Seligkeit des zukünftigen Seins! — Nur ſo iſt Rückkehr des 
Sünders zur Gnade des ewigen Vaters; nur ſo Freundſchaft mit 
Jeſu, unſerm Seligmacher. Nur ſo haben wir Hoffnung, daß 
der Richter der Todten unſere Vergangenheit liebevoll bedeckt, 
und auch zu uns ſpricht: Dir ſind deine Sünden vergeben! 
(Luk. 7, 48.) 

O Vater, Vater, ich habe geſündigt in dem Himmel und vor 
dir; ich bin hinfort nicht werth, daß ich dein Sohn heiße! ſprach 
der Verlorne im Gleichniſſe Jeſu, des Heilandes, zu feinem Va— 
ter. Und der Vater ſchloß den Zurückkehrenden mit Erbarmen 
an ſeine Bruſt und ſprach: Dieſer mein Sohn war verloren; 
und iſt gefunden worden! Laßt uns fröhlich ſein. (Luk. 15, 24.) 

Vater, o mein Vater im Himmel, auch ich habe geſündigt 
vor Dir; ich bin nicht werth, daß ich Dein Kind heiße! Aber 
Dein Erbarmen iſt unendlich größer, als meine Schuld. Du 
willſt nicht den Tod des Sünders. Du erhieltſt mein Leben in 
tauſend unſichtbaren Gefahren, daß ich noch heute mich deſſelben 
erfreuen und mit gebeſſertem Herzen zu Dir umkehren könne. 
Ja, ich will, ich kann es, Du unendlich Gnadenreicher! — Noch 
iſt die Ewigkeit und ihr Heil nicht für mich ganz verloren, ob— 
gleich ein Leben hinter mir liegt, das bisher für die Heilung 
meines Gemüthes verloren ging. — Du läffeft mich ein neues 
Jahr erleben, und ich will mit ihm ein neues Leben beginnen; 
ein Leben in meines Jeſu Sinn. Ich will ſtreng und unerbitt⸗ 
lich fein gegen alle meine Schwächen und Fehler, ſchonend, Tiebe- 
voll gegen Andere, auch wenn ſie mich dafür beleidigen. Ich will 
die unreinen Begierden in mir daͤmpfen, und ſo oft ich von ihnen 
angefochten werde, ſoll mein Entſchluß unerſchütterlich ſein, die 
Einſamkeit zu fliehen, in die Welt zu treten und irgend eine gute 
That zu vollbringen. Ich will ſelbſt meine Sünden und alle 
ihre traurige Wirkungen noch Andern zum Segen machen, in- 
dem ich Andere vor den Gefahren der Verführung, vor den erſten 
Anläſſen zum Verbrechen, vor der oft unter Roſen verborgen 
lauernden Schlange warne. Ich will, wo ich durch meinen Leicht 
ſinn, durch meine Verdorbenheit im Familien- oder im bürger⸗ 
lichen Leben, öffentlich oder heimlich, Schaden ſtiftete, freudig 


4 — 


erſetzen. Ich will erſetzen, auch wenn es mich Alles koſtete; denn 
ich will nicht mit einer Schuld auf dem Gewiſſen aus der Welt 
gehen, und vor Deinen Stuhl, o Richter der Todten! — Und 
kann ich das geſtiftete Uebel nicht mehr vernichten oder vergüten — 
o gerechter Gott, ſo verzeihe Du meine Schuld! Ich will fortan 
durch meinen öffentlichen und geheimen Lebenswandel darthun, 
daß wenigſtens ein ernſter, heiliger Wille in mir wohne. Dieſen 
Willen, ach, obgleich ohnmächtig, verwirf ihn nicht. Vergib, 
o vergib mir meine Sünden, wie ich vergeben habe allen meinen 
Feinden und Beleidigern. we Erbarmer, vergib um Jeſu 
willen! Amen. ; 


50. | 
Am Schbluffe Des Jahres. 


Pred. Sal. 11, 6. 


Gott, wie blitzesſchnell entfliehn 
Unſre Tage, unſre Stunden! 
Eh' wir's denken, ſind ſie hin 
In das Ewige verſchwunden. 
Wäre doch von unſrer Zeit 
Jede Stunde Dir geweiht! 


Saen laßt uns denn mit Fleiß 
Zu der Aernte jenes Lebens! 

O wie glücklich, wer da weiß, 
Fühlt, er lebte nicht vergebens! 

Ewig freue ſich der Saat, 

Wer hier wohl gefäet hat. 


— 


Es fiel ein Sonnenſtäubchen aufs hohe Gebirg — ein Waſſer⸗ 
tropfen ins Weltmeer — ein Jahr in den Abgrund vergangener 
Ewigkeiten. Sie ſind verloren. Wo ſuche ich, wo finde ich ſie 
wieder? 

Ein Jahr! Freilich nur ein unbemerkbarer Punkt in 5 end⸗ 
loſen Reihe der Zeiten, aber doch ein beträchtlicher Abſchnitt 
meines eigenen Lebenslaufes. Ich berechne mein Daſein auf 
Erden nach Jahren; und ich habe dieſer Jahre ſchon ſo viele nicht 
mehr zu leben! Wer weiß denn, ob ich noch eins oder zwei voll— 


ae 


ende? Wer will Bürge fein von allen Sterblichen, daß nicht 
ſchon nach zwölf oder vierundzwanzig Monden die winterlichen 
Schneeflocken über meinem Grabhügel umherſchweben? Wie groß, 
wie ganz unüberſehbar ſcheint mir ein Jahr im Anfange! Wie 
lange dauert der unfreundliche Winter! Wie kann ich kaum den 
ſchönen Frühling mit ſeiner Blumenpracht erwarten! Dann die 
mannigfaltigen Genüſſe in Feldern, in Gärten, oder auf ange⸗ 
nehmen Reiſen! — Dann, wie ſpät der Herbſt mit ſeinen Aernte⸗ 
feſten und Weinleſen — die Menge der Tage und Stunden, der 
Ereigniſſe, der Zufälle, der fröhlichen Augenblicke, der Freund⸗ 
ſchaften — — es läßt ſich nicht überſehen. Es ſcheint kaum ein 
Ende zu nehmen. a 

Wie flüchtig, wie klein, — mehr als klein! Wie Nichts iſt 
ein Jahr, wenn man am Ende deſſelben ſteht! Was habe ich 
denn darin gehabt? Wodurch iſt es von jedem andern Traum 
verſchieden? Was ich war, bin ich ſchon jetzt nicht mehr! Was 
ich Alles in dieſem zwölf Monden langen Traum genoß und 
hatte, genieße und habe ich ſchon jetzt nicht mehr! Faſt Alles iſt 
vorüber, und was mir noch vorbehalten iſt, wird eben ſo vor⸗ 
übergehen. 

Und je länger ich lebe, je kürzer wird mir das Leben. Je 
älter ich werde, je kleiner wird mir der Raum der Jahre. Vor 
einem Jahre um dieſe Zeit, oder am Neujahrstage — es iſt mir 
nicht, als wäre es vor mehr denn dreihundert Tagen, nein, als 
wäre es erſt geſtern geweſen! Ich ſehe noch mein ganzes Tage- 
werk, ich erinnere mich noch der Worte meiner Freunde; ich weiß 
noch wohl, wo dieſer oder jener ſtand. Und dann die ſämmt⸗ 
lichen Ereigniſſe im ganzen Lauf des Jahres — es iſt mir, als 
wären fie erſt geſtern geſchehen. Und wenn ich nachrechne, er- 
ſtaune ich, daß von jetzt bis dahin zurück ſchon ſo viele Wochen 
und Monate verfloſſen ſind. Wie flüchtig, wie nichts iſt doch ein 
Jahr, wie flüchtig mein Leben! Und wenn ich einſt vollendet 
habe: es wird mir zu Muthe ſein, als hätte ich noch nichts ge⸗ 
lebt. Aber es iſt vergebens. Alle Täuſchung entflieht. Siebenzig 
und achtzig Jahre ſind zuletzt wie ein Traum von ſiebenzig bis 
achtzig Minuten geweſen. 


— 443 — 


Tauſende meiner Mitmenſchen haben am Ende eines Jahres 
das gleiche Gefühl ſchneller Vergänglichkeit, wie ich. Ihrer Viele 
find aber froh, daß Alles fo flüchtig dahin iſt: nicht aus Ueber⸗ 
druß des Lebens, ſondern aus Begier nach dem Neuen und Un⸗ 
bekannten. Was ſie genoſſen, was ſie erfahren haben, ſcheint 
ihnen noch nicht ſo wichtig, als was ſie noch erleben könnten. 
Sie ſcheinen das Leben gleichſam nur aus Neugier zu lieben und 
fortzuſetzen. Immer ſind ihre lüſternen Blicke vorwärts gerichtet, 
wo die bunten Kinder der Einbildungskraft, nämlich Träume, 
Erwartungen, Hoffnungen vor ihnen hingaukeln. Auf das Ver⸗ 
gangene mögen ſie nicht rückwärts ſehen. Das Alte iſt ihnen 
gleichgültig, das Genoſſene widerlich. Kaum nehmen ſie ſich Zeit, 
die Gegenwart zu ſchmecken, und was da iſt, eines aufmerkſamen 
Blickes zu würdigen. Immer bauen ſie neue Entwürfe. Ihr 
ganzes Leben iſt eine beſtändige Erwartung, ein unaufhörliches 
Jagen nach neuen Zielen. Und ſind ſie am Ende der Tage, ſo 
ſinken fie erſchöpft nieder von der fruchtloſen Arbeit, und fühlen, 
fie haben nicht gelebt, ſondern wollen erſt leben, wenn fie zu 
leben aufhören. 

Wahrlich, Kinder, welche, ohne Harm um das Vergangene, 
ohne Neugier und Sorgen um das Künftige, immer den gegen- 
waͤrtigen Augenblick, mit Allem, was er hat, in vollen Zügen 
genießen, verſtehen es beſſer als unzählige Bejahrte, zu leben— 
Denn ſie ſind noch unverbildet, wahrhaft und natürlich. Aber 
der erwachſene Menſch entfernt ſich nur zu oft mit raſtloſer Kunſt 
und Mühe von der Einfalt und Wahrhaftigkeit des Natürlichen. 
Kinder ſehen und ſchmecken noch das Leben, wie es ihnen ges 
geben iſt, in vollem Maße. Aber die Erwachſenen, nur zu oft 
durch ungeſtüme Leidenſchaft ergriffen, fliegen eben ſo eilig an 
den Gütern des Daſeins vorüber, als das Leben wetterſchnell an 
ihnen vorübereilt. Dieſe Seelenkranken, nach Reichthümern 
laufend, achten der Gaben des Himmels nicht, die ihnen zufielen, 
und rennen dürſtend an den reichſten Quellen vorbei, die neben 
ihnen rauſchen. Sie ſehnen ſich nach Würden und Ruhm; aber 
die Achtung, von welcher ſie umringt ſein könnten, bemerken ſie 


— 419 — 


kaum; nichts iſt ihnen genug. Wer immer Ziele ſucht, ſteht nie 


am Ziele. 5 

In der That ſollten wir die Kunſt des Lebens von den Kin⸗ 
dern lernen, denen der nächſte Augenblick auch immer das beſte 
Ziel iſt. Sie nehmen die kleinſte Gabe, welche ihnen zufällt, mit 
fröhlichem Gemüth auf; ſträuben ſich gegen den Schmerz, der 
ſie überraſcht, und vergeſſen ſein, ſobald er vorüber iſt. Darum 
lehrte auch Jeſus, unſer großer Meiſter der Lebensweisheit: 
Seid des Augenblicks froh, und quält euch nicht mit eiteln 
Träumen! Sorget nicht für den andern Morgen, denn der mor- 
gende Tag wird für das Seine ſorgen! (Matth. 6, 34.) 

Die wahre Kunſt des Lebens, wie ſie der Weiſe übt, beſteht 
nicht darin, immer und ausſchließlich nach einem beſſern Loofe 
zu jagen, ſondern feinen gegenwärtigen Verhaltniſſen und Um⸗ 
ſtänden die beſſere Seite abzugewinnen, und aller ihrer Anmuth 
zu genießen, deren fie fähig find. Nur was dir die eben vor⸗ 
handene Stunde gibt, das haſt du und deſſen biſt du gewiß. Was 
dir die künftige darbietet, iſt unbekannt. Verſchmähe nicht den 
reinen Genuß jedes Tages, den dir Gott zu deinem Leben legt, 
ſonſt gehſt du arm und elend, mit ungeſtilltem Verlangen bis 
zum Grabe. Hoffe das Beſſere zwar, aber vergiß niemals das 
Gute, in deſſen Beſitz du ſchon biſt; gedenke des Der- 
gangenen, aber eben dies ermuntere dich, die Gegenwart beſſer 
zu genießen, als die entronnene Zeit. In dieſen wenigen 


Worten liegt der Kern der Lebensweisheit. 


Das vernunftloſe Thier ſorgt für keine Zukunft, und küm⸗ 
mert ſich um keine Vergangenheit. Aber edler, göttlicher iſt des 
Menſchen Natur. Er lebt mannigfaltiger als das Thier; er lebt 
für Gegenwärtiges und Vergangenes und Künftiges zugleich. 
Der Menſch ſoll es! Er wird dem Thier gleich, wenn er, ganz 


ohne Rückficht auf das Ende, nur im Gegenwärtigen ſchwelgt. 


Allein er iſt ein Thor, wenn er um des Kommenden willen das 


Vorhandene nicht zu genießen wagt; er iſt ein Mörder ſeines 
Lebens, wenn er, aus Gram um das Vergangene und Ver⸗ 


ſchwundene, Gegenwart und Zukunft vernachläſſigt und vernichtet. 
Der Weiſe lebt für das, was war, was iſt, was fein wird. 


313 


Aus den Erfahrungen früherer Jahre und Tage ſchöpfte er Muth, 
Vorſicht, Klugheit und Begierde, das auf die rechte Art zu be⸗ 
nutzen, was er in der gegenwärtigen Stunde beſitzt. Er benutzt 
aber den heutigen Tag mit ſolcher Mäßigkeit und klugen Vor⸗ 
ſorge, daß er ſäet, was er morgen ärnten will, und keine ſpätere 
Reue ihm die heutige Luſt verbittern kann. 

So will auch ich denn am Schluſſe eines Jahres, das mir 
die Gnade Gottes zu durchleben vergönnte, den Blick auf Ver⸗ 
gangenheit, Gegenwart und Zukunft werfen, um als ein, wenn 
auch nicht beglückter, doch des Glückes würdiger Menſch in ein 
neues Jahr eintreten zu können. So will auch ich über das Ver⸗ 
gangene meine Rechnung abſchließen, um das richtiger zu er⸗ 
kennen, was mir nach manchem Verluſt noch übrig geblieben iſt, 
und für eine beſſere weiſere Zukunft angewandt werden foll. 

Ich will vor allen Dingen, als ein guter Haus vater, 
das mir durch meinen Fleiß und göttlichen Segen zu 
Theil gewordene irdiſche Vermögen unterſuchen. Ich 
bin dazu verpflichtet, damit ich unabhängig von menſchlicher 
Barmherzigkeit leben und freier handeln kann. Der unruhige 
Wechſel der Zeiten, Theurung und Kriege können auch mich in 
Verlegenheit, in Armuth ſtürzen, wenn ich das Meinige ver⸗ 
wahrloſen, wenn ich nicht prüfen würde: wie weit geht mein 
wahres Eigenthum, und was bin ich davon andern Menſchen 
ſchuldig? Ich bin verpflichtet zu dieſer Prüfung meiner Ver⸗ 
mögensumſtände durch die Sorge, welche ich als Haus vater oder 
als Hausmutter für alle diejenigen tragen ſoll, die mir ange⸗ 
hören. Ich bin verpflichtet zu dieſer ernſten Prüfung um meiner 
Anverwandten Ehre und guten Namens willen! Denn ohne 
Achtung und Zutrauen der Menſchen bin ich hilflos auf Erden, 
und unfähig, ſo viel Gutes durch Wort und That zu ſtiften, als 
ich nach Gottes Willen ſtiften ſoll. 

Aus der Prüfung meines geſammten Eigenthums am Schluſſe 
dieſes Jahres werde ich erkennen, ob ſich meine irdiſchen Um⸗ 
ſtände verbeſſert oder verſchlimmert haben. Ich werde erkennen, 
ob ich meine bisherige Art zu leben, meinen Aufwand, wie ich 
ihn im vergangenen Jahre machte, ohne Gefahr fortſetzen darf, 


de a 


oder ob ich nicht die Menge meiner Ausgaben einſchränken, und 
zu meinem und der Meinigen Beſten ſparſamer werden müſſe, 
beſonders in Zeiten, wenn Nahrungsloſigkeit oder anhaltende 
Kriege überall den häuslichen Wohlſtand vermindern. 

Ich will es dabei nicht bewenden laſſen, ſondern mit Ernſt 
weiter ſchreiten. Ich will unterſuchen, welcherlei Bedürfniſſe die 
entbehrlichſten ſind. Und ſie ſollen, mag es mir anfangs auch 
ſchwer fallen, mit dem Beginn des neuen Jahres entbehrt wer⸗ 
den. Und wenn ich auch zuletzt dadurch nur Kleinigkeiten er⸗ 
ſparen würde: ich bin denn doch um Vieles wohlhabender. Ich 
habe denn doch einen, wenn auch nur geringen, Ueberfluß er⸗ 
worben, von dem ich andern Menſchen, unglücklichen Brüdern, 
die noch weniger haben, als ich, wohlthun kann. Und welche 
Freude für mich, wenn ich ſogar bei meinem mäßigen Vermögen 
noch wohlthätiger werde, als Mancher, der in der Fülle des 
Reichthums lebt; wenn ich über das, was mir Gott verliehen, 
ſo treu haushalte, daß ich damit auch feeniber Menſchen Glück 
befördern kann! 

Ja, der Schluß des Jahres iſt vorhanden; ich will mein 
Haus beſtellen. Und wäre das Ende des Jahres auch der Schluß 
meines Lebens, ſo will ich nach meinem Tode Alles in ſolcher 
Ordnung hinterlaſſen, daß mich die Zurückbleibenden ehren und 
ſegnen ſollen. Ich will vollkommener Chriſt ſein in allen Dingen; 
ich will jeden Tag bereit ſein, ohne Vorwürfe aus meiner irdi⸗ 
ſchen Lage hinweg und ins Ewige übertreten zu können. So, 
da Chriſtus ſterbend am Kreuze blutete, ſorgte auch er noch für 
vie weinende Mutter (Joh. 19, 26.), daß ſie nicht verlaſſen ſei 
auf Erden. 
| Nicht zufrieden, am Schluff des Jahres mein Hausweſen 
zu ordnen, will ich für mich eine ſtille Stunde der Einſamkeit 
ſuchen, und alle meine Verhältniſſe überlegen, in 
welchen ich lebe; meine ganze Lage prüfen, und erforſchen, 
wie ich dasjenige, was darin unangenehm iſt, künftig auf eine 
anſtändige und zweckmäßige Weiſe zu vermeiden und zu beſeiti⸗ 


gen habe. 
Wahr iſt's, in meinen gegenwärtigen Verhältniſſen iſt man⸗ 


* 


— 452 — 


ches Bittere und Beſchwerliche. Aber woher rühren dieſe Sachen, 
welche mir ſo viel Verdruß erwecken? Sind meine Verhältniſſe, 
die mir Gott anwies, daran Schuld? Oder habe ich durch meinen 
Leichtſinn, durch mein verkehrtes Weſen, durch meine Unvor⸗ 
ſichtigkeit, durch Eigenſinn, Stolz, Wolluſt oder andere Leiden⸗ 
ſchaften meines Herzens dazu das Meiſte beigetragen? — Und 
wie räume ich dieſe Uebel hinweg, welche mir mehr als eine böfe 
Stunde machen? Kann ich meine Verhältniſſe ändern? Es iſt zu 
erwaͤgen! Oder muß ich vielleicht mich ſelbſt ändern? Ja, dies 
iſt noch wahrſcheinlicher! Denn welches auch meine Lage ſei, bin 
ich nur überall recht beſchaffen, wie ich ſein ſoll, ſo wird auch 
Alles um mich her recht werden. Habe ich nur ein reines Herz, 
ein frohes Gewiſſen, was könnte mir dann meine Zufriedenheit 
trüben ? 

Ich will am Schluſſe des Jahres, indem ich meine gegen- 
wärtige Lage von allen Seiten prüfe, zugleich mich ſelbſt fragen: 
Wie ſtehſt du mit den Menſchen, mit denen dich Gottes 
Vorſehung in Verbindung ſetzte? Wie? Haft du heute mehr 
Freunde, als vor einem Jahre? Iſt es dir durch dein Betragen 
geglückt, endlich unter denen, die dich kennen, mehr Zutrauen, 
mehr Liebe zu erwerben, als du ſonſt genoſſeſt? Hat ſich gegen 
dich die Achtung deiner Mitbürger, deiner Vorgeſetzten, deiner 
Verwandten, deiner Untergebenen vermehrt oder vermindert? 
Und wenn du nun findeſt, ſie habe nicht zugenommen: o ſo hat 
auch deine wahre Glückſeligkeit keinen weſentlichen Zuwachs er— 
halten; fo biſt du auch im Laufe eines ganzen Jahres ſchwerlich 
um Vieles vollkommener geworden. Und weſſen iſt dann die 
Schuld? Kannſt du deswegen Andere anklagen? Biſt du es nicht 
ſelbſt, der ſich mit Vorwürfen bedecken muß? Vernimmſt du die 
Stimme deines Gewiſſens, welches dir deine Fehler vorhält? Lege 
die Hand auf dein Herz; prüfe dich felbft.. 

Ja, nicht nur mein Hausweſen, meine äußern Verhältniſſe 
will ich prüfen am Schluſſe des Jahres, ſondern prüfen will 
ich in der Gegenwart Gottes mein eigenes Herz! Ich will 
unterſuchen, wie mein gegenwärtiger Karakter beſchaffen iſt; be— 
trachten, ob meine Denkart und Handlungsweiſe ſich im ver— 


— U = 


floſſenen Jahre geändert habe. Denn immer bleibt man doch 
nicht ganz daſſelbe; man wird älter und an Erfahrungen reicher. 
Ich habe mancherlei gutes und böſes Schickſal ſeit den letzten 
zwölf Monden erlebt; ſolche Erfahrungen und Schickſale bleiben 
niemals ganz ohne Einfluß auf unſer Gemüth. 

Und nun, wie bin ich? wie denke ich, wie handle ich? Gott 

iſt nahe, der Allgegenwaͤrtige; Gott durchblickt dich, der All— 
wiſſende! Möchteſt du ihm heucheln, ihm, der dich heller durch— 
ſchaut, als du den klarſten Tropfen Waſſer? Möchteſt du dir 
ſelbſt heucheln, dich ſelbſt belügen? Welch eine Thorheit! 
Br Ich will noch, ehe das Jahr verftreicht, eine Stunde ſuchen, 
in der ich mir allein gehöre, wo mich nichts Anderes in meinen 
Betrachtungen ſtört, und dann Gericht halten über meine ver- 
derblichen Gewohnheiten, über meine Fehler und Laſter, über 
die ganze Reihe meiner ungerechten Neigungen und geheimen 
Sünden. Ich will richten, ehe ſie der Herr richtet. Ich will es 
mir zeigen, wo ich mangelhaft und ſchwach bin; ich will auf 
meine Tadelnswürdigkeiten ohne Schonung hindeuten. Dann 
rede laut, innerer Richter, ernſtes Gewiſſen, Gefühl meiner 
Schuld — Gott hört dich. 

Und es muß endlich ſein, daß ich am Schluſſe dieſes Jahres 
meinen Werth und Unwerth richtig ſchaͤtzen lerne. Ich muß meine 
Fehler alle muſtern, denn ‚fie find ja die Quellen alles meines 
Verdruſſes. Ich muß die Hinderniſſe meiner Zufriedenheit, die 
Zerſtörer meiner Ruhe kennen. Oder ſollte ich auch im ganzen 
künftigen Jahre ihr Sklave ſein; auch im künftigen Jahre nicht 
ſo vollendet, edel und voll Tugendkraft werden, wie ich es ſein 
könnte, ſein ſollte, um Gottes Kind, um Jeſu Bruder zu heißen? 
Ich kann es mir ja nicht verbergen, daß, wenn ich in dem größern 
Theil meiner verfloſſenen Lebenszeit oft recht unzufrieden, ja 
wirklich unglücklich geweſen bin, es meiſtens die Folgen meiner 
eigenen Schwäche waren. Entweder zog ich mir durch dieſelben 
mancherlei Verdrießlichkeiten und Sorge zu, oder ich verſchlim⸗ 
merte mir die unangenehmen und traurigen Ereigniſſe meines 
Lebens, indem ich fie nicht mit Seelenftärfe empfing, ſondern 
mich dadurch zum Aerger, zum Zorn, zur übeln Laune, oder 


a 


wohl gar zur tiefſten Betrübniß allzuſehr hinreißen ließ. Ich 
ſetzte thörichterweiſe allzugroßen Werth auf das, was an ſich 
vergänglich iſt. Ich konnte keinen irdiſchen Verluſt mit Gleich⸗ 
gültigkeit und Stärke des Gemüths tragen, wiewohl ich meine 
Fehler und Schwächen jederzeit, ob ſie gleich Verluſt meiner 
Seelengröße ſind, ohne großen Verdruß ertrug. 

Ich will meine Denkart und Handlungsweiſe ändern für das 
künftige Jahr, will die große Erfahrung machen, ob ich nicht 
groß bei allen Unfällen, glückſelig in allen Schickſalen werden 
könne, die mich treffen mögen. Ich will nur das Gute, das 
Rechtſchaffene, das Gottgefällige thun; will früh und fpät die 
Saaten des Guten ſäen, denn ich weiß nicht, ob dies oder das 
gerathen werde. (Pred. Sal. 11, 6.) 

So will ich mein Jahr auf eine chriſtlichwürdige Art be⸗ 
ſchließen: und das Letzte, was ich thue, ſei mein Dankge⸗ 
bet zum Allerhöchſten für allen Segen, für alles Liebe, 
das er an mir und an den theuern Meinigen im ver⸗ 
floſſenen Jahre gethan hat. | 

Könnte ich's vergeſſen, o mein Vater im Himmel, o mein 
Gott, daß Du in der Vergangenheit mein Vater und mein Gott 
warſt? Könnte ich's vergeſſen, wie viel Gnade Du mir und allen 
Meinigen erwieſen haſt, wie viel Barmherzigkeit Du uns haſt 
widerfahren laſſen? — — Und war ich dieſer Liebe und Treue 
werth? Habe ich ſo viel Wohlthat verdient durch meine Tugend 
und Heiligkeit? Nein, nein! ich Abtrünniger habe ſie nicht ver⸗ 
dient. Und hätte ich die Tugenden eines Engels, ich könnte da⸗ 
durch auf Deine Gnade keine gerechten Anſprüche machen, ich 
hätte Dich darum mir nicht zum Schuldner gemacht. Es find 
nicht meine Werke, es ſind die Werke Deiner unergründlichen 
Barmherzigkeit, die mir Heil, Segen und Seligkeit bringen. 

Dank Dir, heißer, inniger Seelendank, Höchſter, Gnaden⸗ 
vollſter, ſei Dir dargebracht in den letzten Stunden dieſes Jahres! 
Dank für Deine Langmuth gegen meine Suͤndlichkeit! Dank fur 
die tauſend einzelnen Freuden, mit denen Du mich erquickteſt! 
Dank für Deine Vaterhilfe, die mir oft dann am nächſten war, 
wenn meine Noth am größten war, und ich voll Verzagens keinen 


— 155 — 


Ausweg ehr erblickte! Dank Dir für die Kraft, mit der Du 
mich zum Guten ausgerüſtet haſt, auch wenn ich ſie leider nicht 
immer zu allem Guten verwendete! Dank für Deine Sorgfalt, 
die mich und die Meinigen aus mancherlei Gefahren rettete! 
Dank auch, Vater! Vater! für die Schmerzen, die ich im ver⸗ 
gangenen Jahre duldete, und welche mir göttliche Boten waren, 
die mich an Dich, an meine höhern Pflichten, an meinen Beruf 
zur Ewigkeit mahnten. Ja, ich habe es endlich gelernt und viel⸗ 
fach erfahren: Du biſt die Liebe; Du biſt nur der Schöpfer alles 
Guten, in Deiner Welt iſt kein Uebel vorhanden, als 
die Sünde, welche wir ſelbſt thun! — Nur unſere Sünde, 
unſere Schwachheit bringt Verderben in das Leben. 

Verfloſſen iſt ein Lebensjahr! Ach, daß ich die Sünden ver⸗ 
hüllen könnte, mit denen ich's befleckte! Gnade, Vater, Barm⸗ 
herzigkeit für mich, daß fie nicht meine Anklaͤgerinnen werden 
vor Deinem heiligen Throne! — Ein neues Jahr beginnt; ein 
neuer, beſſerer Menſch will ich nun in dieſe Zukunft eintreten. 
Auch in dieſer dunkeln Zukunft biſt Du mein Gott, mein Be⸗ 
ſchützer, mein Vater! O verlaß mich nicht! Verlaſſe nicht die lieben 
Meinigen mit Deiner Gnade! Verlaſſe nicht mein Vaterland, 
nicht meine Vorgeſetzten, meine Obrigkeit! Amen. 


| Inhalt 


des dritten Bandes. 


1. Im Anfang des neuen Jahres 
2. Der göttliche Name 4 - x R % z 1 4 
3. Die Vorſehung 5 5 e ee eg © ; 2 4 
4. Gottes Walten 5 3 u 


5. Unſere Abhängigkeit von Gott e 
6. Muth zur Tugend 
7. Unterlaſſung des Guten EEE DE 
8. Richtigere Beurtheilung unſerer Gemüthsbewegungen 
9. Schein und Weſen 7 EP 
10. Der Streit der Pflichten 
11. Der Menſch und feine Tgaaet eo 
12. Der Kampf des Weiſen mit ſeinem e TE 
13. Der Menſch ein Schöpfer feines Schickſals ee 
14. Die Gewiſſenhaftigkeit des Chriſten als Unterthan gegen Ge⸗ 
ſetz und Obrigkeit ne de ea 
48. Selene e re ͤ 
16. Weltkluͤgheit und Chriſtenweisheit ee 
47, Der Werth des Lebens für den Menfhen . 
18. Die Verirrungen guter Menſchen in Beurtheilung des Lebens 
19. Die Verleumdung —2 
20. Der Schmerz, verkannt zu fin nn 
21. Die Gefahren, Andere zu verkennen 
22. Die Leiden ſchaftess 8 
23. Die Wohlthaten der Einſamkeietetetet 
24. Die Kunſt, 5 o bn 
25. Das Mißfallen am Gegenwärtigen 1 
26. Stilles Glück * 4 * + * + + * 
27. Die Gaben des Glücks 
28. Das Urtheil der Welt 
29, Vorurtheil für und wider Neues 
30. Der Glaube an menſchliche Tugend 
31. Die Macht der Wahrheit N 
22. Die Welt dein Spiegel. 
33. Menſchenrath, Gottesthat 
34. Selbſtkenntniß 8 
35, Gleichmuth ER ? 
36. Der Kummer um die Zukunft EN: 
37, Die Sorge um das 888 Eigenthum 
38, Abnahme des 3 ohlſtandes 
39, Vergangenes Leiden „ P 
40, Unverſchuldetes Leiden 
44, In der Gegenwart leben re 
42. Gefahren willkürlicher Träumereien 
43. Selbſt e „ 
Der Chriſt in den Erholungsſt unden 
45, Der Tag der — Wehe,, Sr 
46, Von einigen gemeinen Fehlern im Verbeſſern unferer Der 
mögensümſtände eng 
47, Verſchwiegenheietet n 
48, Geſchwatzigkeit r 
40. Empfindungen am Geburtstage 
50, Am Schluſſe des Jahres 5 


sr + * 0 * 


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+ 
* * * „* * 


* * * 


> 4 
— —— TEE 


B cZschokke, Heinrichg 

4811 Stunden der Andacht 

283 26. vollständige Original-Aufl. 
Bd.3 


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